Von Henry Berndt
So ganz allein zwischen den Regalen sieht Sven auf einmal Produkte, die ihm bisher beim Einkaufen nie aufgefallen sind. Nudeln aus Algen, die optisch eher an glibberige Mückenlarven erinnern, Sauerbraten im Schraubglas, veganes Hack in der Tüte, Pasta-Pizza, also Pizza mit Nudeln drauf. „Krass, was die hier alles haben“, entfährt es ihm.
An diesem späten Sonntagabend wollte Sven eigentlich nur mal schauen, wie das funktioniert mit diesem 24-Stunden-Laden, über den jetzt alle reden. „Ich muss sagen, ich bin echt beeindruckt.“ Er schnappt sich eine Prinzenrolle aus dem Regal, scannt sie an der Kasse ab, präsentiert dem Automaten seine EC-Karte. Fertig. Keine Pin, keine Unterschrift. „Ein bisschen Zauberei ist das schon.“ Den Kassenbon wirft Sven zu Hunderten anderen in den überquellenden Papierkorb neben dem Eingang.
Eine nicht repräsentative Auswertung der zurückgelassenen Belege ergibt:
1. Hier war heute richtig was los.
2. Schokolade, Chips, Eis und Pizza sind sonntags besonders begehrt.
3. Kaum ein Einkauf ist teurer als 20 Euro. Die meisten kaufen nur ein, zwei oder drei Produkte.
Mit seiner schlichten Würfelform und den roten Lämpchen erinnert der graue Container an einen Tankstellenladen – nur eben ohne Tankstelle. Ein bisschen verloren steht er im Moritzburger Ortsteil Friedewald zwischen Buswendeplatz, Wald, Feldern und Bolzplatz. Die grellen Lampen taugen in der Dunkelheit praktischerweise gleich als Flutlicht für die Kids. Heute kickt hier allerdings niemand mehr.

Zum ersten Mal seit 15 Jahren können die Friedewalder in ihrem Ort wieder etwas einkaufen. Damals schloss nicht weit von hier entfernt der letzte Tante-Emma-Laden. Die neue „Fritz-Box“ gehört zur Rewe-Marke Nahkauf. Namensgeber ist einer der beiden Kaufleute, die hier das Sagen haben: der gerade mal 27-jährige Fritz Starke. Gemeinsam mit einem Partner betreibt er bereits vier klassische Nahkaufmärkte in Sachsen mit insgesamt 65 Mitarbeitern. Zusammen mit der „Fritz-Box“ sind es nun immer noch 65, denn hier arbeitet normalerweise niemand.
800 Produkte auf 38 Quadratmetern
Beworben wird das Projekt als „Ostdeutschlands erste automatisierte 24-Stunden-Einkaufsbox“, auch wenn das nicht ganz stimmt. In Chemnitz eröffnete vor einigen Wochen ein ähnlicher Laden. „Herrn Anton“ in Zwönitz im Erzgebirge gibt es schon seit vergangenem Jahr. Wahr ist jedoch: So nah wie die „Fritzbox“ ist einem echten Supermarkt bis jetzt kein anderer Anbieter gekommen. Auf 38 Quadratmetern sind hier rund 800 Produkte vorrätig. In einem großen Rewe-Markt sind es zwar locker zehnmal so viele, doch dauert es eine Weile, bis man etwas findet, was man hier nicht findet.
Trotzdem bleiben viele Fragen: Lohnt sich das überhaupt wirtschaftlich? Und wird hier nicht geklaut ohne Ende?
Es piept und die Glastür schiebt sich langsam auf. Alexander schlurft herein und greift geradezu routiniert links und rechts in die Regale. „Ich hab zehn Jahre in Berlin gewohnt. Dort hat immer irgendwas offen. Das Einzige, was ich hier bislang vermisst habe, war eine Möglichkeit, dass ich mir auch mal nachts noch ne Cola holen kann, ohne dafür Tankstellenpreise zu zahlen.“

Jetzt ist er rundum glücklich. Als Erstes schnappt sich der 29-Jährige eine Flasche Worcestersauce, dann um die Ecke eine Tüte Lachgummi und tiefgefrorene Rösti-Ecken. „Eis haben sie ja auch“, bemerkt er erfreut und angelt sich noch ein „Sandwich-Classic“. Irgendwie schafft es Alexander, das alles vor seiner Brust festzuhalten. Die roten Einkaufskörbe nimmt sich hier fast niemand. Eine Packung Burger-Patties legt er nach kurzem Überlegen zurück. Für 8,49 Euro ist die ihm dann doch zu teuer – wenngleich nicht teurer als im normalen Markt. Wer sich beispielsweise für einen Burger-Abend daheim interessiert, kann sich in der Box für unter 20 Euro komplett eindecken: Zu den Patties kommen 2,09 Euro für die Hamburgerbrötchen, 1,99 Euro für den Eisbergsalat, 1,99 für die Soße und 3,49 für die Rispentomaten.
Alexander hat andere Pläne. „Ganz schön ungesund“, resümiert er an der Kasse. Die Dose Energydrink sei allerdings für seine Freundin, verteidigt er sich. So ein Zeug trinke er nicht. Er holt sich lieber eine Cola. Draußen schimpft er noch leise über den matschigen Parkplatz hinter dem Container, der aus seiner Sicht ein paar Platten vertragen könnte.
Bis etwa 21 Uhr herrscht im Laden reger Betrieb, was aber kein Vergleich zu nachmittags ist. Da habe eine Schlange bis raus gestanden, sagt ein besonders gut informierter Kunde. Nicht alle, die herkommen, brauchen etwas. Mancher ist nur neugierig. Bis auf Weiteres taugt der „Laden der Zukunft“ auf dem Dorf durchaus als kleine Attraktion. „Schatz, was machen wir heute Abend?“ – „Lass uns doch mal diese neue Box anschauen.“

Schon zur Eröffnung am 26. Februar kamen über 200 Menschen. Es gab Knacker, Popcorn und viele glückliche Gesichter. Auch die von Moritzburgs Oberbürgermeister Jörg Hänisch und Sachsens Wirtschaftsminister Martin Dulig waren dabei. Nach einer Fülle an Danksagungen wurde unter Applaus das rote Band durchgeschnitten. Die Schnüre der bunten Luftballons hängen immer noch am Dach. Der Jubel ist inzwischen verhallt. Jetzt zählt’s.
Das Potenzial sei riesig, sagt der Handelsverband Sachsen. „Digitalisierte 24-Stunden-Verkaufsstellen können aus unserer Sicht die Nahversorgung in dünn besiedelten Regionen mit einer innovativen Lösung sichern“, frohlockt Verbands-Geschäftsführer René Glaser. Angesichts kürzerer Wege zum Einkaufen seien auch ökologische Aspekte nicht zu unterschätzen. Wenn die Idee von den Kunden angenommen werde, könne das Modell für zahlreiche andere Standorte interessant werden.
Im Laufe des Sonntagabends flaut der Andrang indes rasch ab. Kaum mal treffen sich noch mehrere Kunden im Laden. Gleich vorn am Eingang betteln zwei Blumensträuße in Eimer darum, noch als Überraschung dienen zu dürfen. Einmal Tulpen, einmal Narzissen. In der Haltbarkeit unterbieten sie nur noch die Tageszeitungen im Regal gegenüber.

Trotz der späten Stunde gibt es kaum Lücken im Sortiment. Ausverkauft sind lediglich Toast, Fleischsalat, Bananen, Bio-Kartoffeln und Bio-Gurken. Für 1,99 Euro pro Stück waren Letztere ja auch fast ein Schnäppchen. An die volle Kiste mit den Apfelnetzen hat jemand eine Notiz geklemmt: „Lassen sich nicht scannen“. Tatsächlich kann der Automat den Barcode nicht lesen. Heute also keine Äpfel.
Hungern muss trotzdem niemand, und auch sonst ist für den täglichen Bedarf gesorgt: Lippenbalsam, Kondome, Zahnstocher, Knusperkissen-Katzenfutter, Packband, WC-Steine und Schwangerschaftstests. Alles da. Was es nicht gibt: Alkohol, Zigaretten und Windeln.
Sina Milko (21) und Luca Finotto (24) aus Moritzburg sind schon zum zweiten Mal hier, aber immer noch geflasht von der Auswahl. Diesmal entscheiden sie sich für geschälte Kartoffeln im Glas, Leberwurst und Aufbackbrötchen. Ab kommender Woche soll es in der Box auch täglich frisches Brot und Brötchen geben. Ein Kunde hat die Anregung über das Feedback-Terminal geschickt und auch gleich den Kontakt zu einem Bäcker hergestellt. „So funktioniert das natürlich ideal“, freut sich Stefan Köckeritz, 42, der zweite Marktleiter. Überhaupt seien die Rückmeldungen in den ersten beiden Wochen überwiegend positiv gewesen. Wenn es Kritik gab, dann meist wegen fehlender Ware. „Wir lernen noch, mit den Mengen umzugehen, besonders am Wochenende“, sagt Köckeritz. Jeden Tag kommt ein Kollege aus Pillnitz nach Friedewald und füllt die Regale auf. „Da müssen wir uns noch einen Rhythmus erarbeiten. Dafür ist es ja ein Pilotprojekt.“
8.000 unterversorgte Siedlungsgebiete
Rewe selbst spricht von 8.000 unterversorgten Siedlungsgebieten in Deutschland und will dieses Jahr bundesweit noch sechs weitere Pilotläden öffnen. Erst in einigen Monaten wird sich aber zeigen, ob sich die 24-Stunden-Boxen auch wirtschaftlich lohnen. Neben ausreichend Kundschaft gibt es einen weiteren Knackpunkt: Halten sich die Kunden an die Spielregeln? Vandalismus ist das eine, aber was hindert die Leute eigentlich daran, mit ihren Leckereien aus der Tür zu spazieren, ohne sie vorher gescannt und bezahlt zu haben?
Das halbe Dutzend Kameras in der Box soll zwar offiziell vornehmlich dazu dienen, den Notdienst alarmieren zu können, falls jemand im Laden umfällt. Natürlich soll sich aber auch kein potenzieller Dieb zu sicher fühlen, auch wenn Stefan Köckeritz das ungern so ausdrücken mag. Er spricht lieber von „Vertrauensbasis“, was sich nett, aber auch ziemlich naiv anhört.
An einem der Fußballtore wenige Meter neben dem Container liegt an diesem Abend eine aufgerissene und noch fast volle Packung Milchbrötchen. Ob es dazu einen Kassenbon gibt? Köckeritz bleibt dabei: Das Diebstahlrisiko sei nicht größer als in anderen Läden, und in den ersten 14 Tagen sei hier kaum etwas weggekommen.
Es ist Sonntag 23 Uhr. Seit einer Stunde herrscht an der Friedewalder “Fritz-Box” tote Hose. Ein Song von Silbermond säuselt aus den Lautsprechern. Dann beginnt die Box auch noch zu sprechen: „Wir wünschen dir einen angenehmen Einkauf und eine ruhige Nacht.“

Alle zehn Minuten fährt ein Auto die Hauptstraße entlang. Einige bremsen ab und schauen rüber, aber kaum noch jemand hält an. Dann doch. Ein Paar um die 50 sitzt im Auto, die Frau steigt aus. Vor der Tür fragt ihr Blick: Gibt’s hier keinen Kassierer? Wortlos dreht sie um und steigt wieder ein. Auffällig: Den ganzen Abend über kauften fast ausschließlich Menschen zwischen 20 und 40 Jahren ein.
Eine Allgemeinärztin aus Moritzburg ist die Ausnahme. Sie holt Joghurt, Eier und Milch für den Kaffee am Morgen. Die Box erlebe sie in mehrfacher Hinsicht als Wohltat. „Die Fülle in großen Läden erschlägt mich.“ Klar könne man es meist einrichten, samstags einkaufen zu gehen, aber gerade an diesem Wochenende war das schwierig. Am Samstag arbeitete sie den ganzen Tag in der Praxis, und heute hat sie ihre zweijährige Enkelin bespaßt. Gerade hat die Ärztin die Kleine zurück zur Mama nach Dresden chauffiert. „Da kommt mir das hier sehr recht“, sagt sie und läuft zur Kasse. „Sonst hätte ich noch bis zum Bahnhof Neustadt fahren müssen.“
Dann fährt noch ein Auto vor und gleich noch eins. Zwei Kollegen kommen von der Schicht bei Globalfoundries. Die Chipfabrik ist nur sechs Minuten entfernt. Jetzt treffen sie sich hier noch auf einen Schwatz und einen Eistee. Brauchen sie noch Tulpen oder Nelken? Heute nicht.