Von Luisa Zenker
Der Libyer Mohamed Sawa schiebt seine schwarze Brille zurecht, nimmt sein Portemonnaie in die Hand und packt seinen Ausweis aus: „Aufenthaltsgestattung bis 28. September 2023“ steht dort schwarz auf weiß. „Dann muss er wieder nach Pirna und ein neues Dokument für sechs Monate abholen“, seufzt die Freitalerin Ulrike Bona, die ihm mit Rat zur Seite steht. „Seit vier Jahren geht das schon so.“
Mohamed Sawa ist 2018 aus Libyen geflohen. Im Gepäck hatte er seinen kleinen Bruder und einen Masterabschluss in Elektrotechnik. Hier könnte die Geschichte enden, doch sie verdeutlicht ein Dilemma, das 2015 mit den Worten begann: „Die Leute kommen, um hart zu arbeiten.“ Und mit Schlagzeilen weiterging wie: „Die meisten Flüchtlinge leben von Hartz IV.“
13.100 Geflüchtete sind derzeit in Sachsen laut Agentur für Arbeit als arbeitssuchend gemeldet. Dabei fehlen laut Wirtschaftsminister Martin Dulig (SPD) bis 2030 etwa 150.000 Arbeitskräfte. Sein Amtskollege auf Bundesebene, Robert Habeck (Grüne), ist deshalb extra nach Indien geflogen, um Personal anzuwerben. Der Freistaat veranstaltete im Frühjahr einen Fachkräftegipfel mit vielen Regierungsmitgliedern und Lippenbekenntnissen, um ausländisches Personal nach Deutschland zu locken. Doch das Beispiel Mohamed zeigt, dass der Freistaat vergisst, wie viele Ausländer und Ausländerinnen in Deutschland bereits arbeiten könnten.
„Hier ist meine zweite Familie“
Mohamed stammt aus Tripolis, der Hauptstadt Libyens. Er wächst in einer Großfamilie mit vier Brüdern und acht Schwestern auf. Sein Vater und er produzieren in der eigenen Firma Joghurt, Ricotta, Butter; erst 25 Liter, später dann 5.000 Liter am Tag. Der junge Sohn will den Chefsessel jedoch seinen Brüdern überlassen und geht nach Indonesien, um dort 2014 einen Master in Elektrotechnik abzuschließen. Danach kehrt er zurück, hilft in der Milchproduktion, nachmittags lehrt er an der Universität. Währenddessen tobt in Libyen ein Bürgerkrieg. Ein Bruder verliert ein Bein, weshalb Mohamed mit ihm nach Europa fliegt. „Die Gesundheitssituation ist schlimm in Libyen, schwierig“, sagt der gebürtige Nordafrikaner leise. Seine Stimme bricht ab, er sucht die Worte, die er in den letzten vier Jahren in Deutschland gelernt hat. Sie gehen ihm noch immer schwer über die Lippen. Die Milchfabrik hat er nie wieder gesehen. Und wird er auch nicht: „Jetzt ist alles zerstört, die Maschinen wurden geklaut.“
Der Geflüchtete selbst will nicht mehr zurück. Kann er auch nicht: Denn Abschiebungen nach Libyen sind nach Angaben der sächsischen Landesdirektion derzeit mangels sicherer Flugverbindungen unmöglich. „Hier ist meine zweite Familie“, bekräftigt der 38-Jährige und blickt zu Ulrike Bona, die auf einem grauen Sessel sitzt. Vor zwei Jahren war die pensionierte Ärztin in ihr Elternhaus nach Freital zurückgekehrt und hat ein Ehrenamt gesucht. Seitdem treffen sie sich zum Deutschlernen. „Und Deutsch sein“, wie es die gebürtige Freitalerin ausdrückt. „Mein Mann und ich haben ihn auch schon oft sonntags mitgenommen, ins Museum, zu einem Konzert.“
Mohamed beginnt, nebenher freiwillig in einem Mehrgenerationenhaus zu arbeiten. Hilft Senioren beim Unkraut jäten, Einkaufen, Küche putzen. Es ist ein Lichtschein für den jungen Mann, der den restlichen Tag wartet. Jahrelang. „Auf einen Bescheid vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge“, den Behördennamen auszusprechen, fällt ihm inzwischen leicht. Bis heute wartet er.
Ein zäher Mix aus Gründen
Ulrike Bona schaut lange zu, wie Mohamed mit jedem Tag frustrierter wird. Sie geht mit ihm zu Berufsmessen, verbringt Stunden in Wartezimmern von Jobcentern. Mohamed schickt eine Bewerbung nach der anderen raus. „Wir haben uns in der Freitaler Helios-Klinik um einen Job als Hilfspfleger bemüht und dachten, um Deutsch zu lernen, sei diese kontaktreiche Tätigkeit keine schlechte Idee. Versprochene Rückrufe blieben aus“, berichtet Bona. Ablehnungen gehen bei Mohamed ein, ohne Begründung. „Mohamed verfügt nur über eine sechs Monate gültige Aufenthaltsgestattung, das ist für jeden Arbeitgeber ein Risiko“, versucht Ulrike Bona, die Ablehnungen zu erklären.
Im Frühjahr kommt dann eine Zusage. Als Produktionshelfer bei einer Zeitarbeitsfirma in Klingenberg bei Freital, im Drei-Schicht-System. „Sie sind wirklich nett dort, und die Arbeit ist gut. Es ist nur nicht das, was ich studiert habe“, sagt der Geflüchtete. Ulrike Bona nickt, sie weiß, dass Mohamed sehr bemüht ist. Er sei glücklich, eine Stelle bekommen zu haben. Dann packt sie die Hände auf den Tisch: „Wenn ich aber über unseren Fachkräftemangel lese, dann halte ich das für eine Farce. Hier liegen junge, kluge Fachkräfte brach.“
Mehr als die Hälfte der 2015 nach Deutschland Geflüchteten ist inzwischen erwerbstätig, titelte die Arbeitsagentur vor Kurzem. Das ist nach dem zähen Anlauf durchaus ein Erfolg, denn im ersten Jahr nach dem Zuzug arbeiten nur sieben Prozent der Geflüchteten. Doch was ist mit der anderen Hälfte? „Wenn Geflüchtete trotz Studienabschlusses keine Arbeit finden, sind die Gründe oft Sprachkenntnisse und/oder die fehlende Anerkennung der Studienabschlüsse“, erklärt Sprecherin Jenny Zichner von der Agentur für Arbeit. Auch Mohamed wartet noch immer auf die Anerkennung seiner Zeugnisse: „Die föderalen Strukturen und die verschiedenen Anerkennungsstellen sind da eher hinderlich, allein in Sachsen gibt es mehr als 60“, fügt der sächsische Ausländerbeauftragte, Geert Mackenroth (CDU), hinzu.
Doch es scheint noch einen anderen Grund zu geben. Ulrike Bona sendet im Frühjahr einen Brief an Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU): „Aus einem enthusiastischen jungen Mann mit dem festen Willen, ein Deutscher zu werden, sein eigenes Geld zu verdienen, in seiner Branche etwas zu leisten, ist inzwischen ein deprimierter Fließbandarbeiter geworden, der kaum noch Deutsch spricht“, schreibt sie darin und schildert den zähen Bewerbungsprozess. Als Antwort erhält sie eine Mail vom Innenministerium: „Der Freistaat kann die Einstellungspraxis von Arbeitgebern nicht ändern.“ Es ist also ein Mix aus Gründen, der bei den Behörden, Unternehmen und den Geflüchteten selbst liegt.
Hoffnung auf Einwanderungsgesetz
Hoffnung gibt es für Mohamed nun durch das neue Einwanderungsgesetz. Im Juli wurde es im Bundesrat verabschiedet, bei Enthaltung Sachsens, insbesondere der sächsischen CDU unter Führung von Michael Kretschmer, der für sein Sommerfest am 18. August die Gewinnung ausländischer Fachkräfte in den Mittelpunkt gesetzt hat. Hinter der Sonderregel verbirgt sich die Chance für nicht anerkannte Asylbewerber, bleiben zu können, wenn sie bereits eine Arbeit oder Aussicht auf einen Arbeitsplatz haben und vor dem 29. März eingereist sind. Bis zu 2.000 Asylbewerber könnten davon allein in Sachsen profitieren, so der Ausländerbeauftragte, der befürchtet, dass den überlasteten Ausländerbehörden noch mehr Arbeit aufgehalst wird.
Mohamed hofft nun, in ein oder zwei Jahren in seiner Studienrichtung arbeiten zu können, möglicherweise auch bei der Firma, die ihn gerade beschäftigt. Jetzt erst mal sucht er eine Wohnung. Er will raus aus dem Wohnheim, das von den Heimbewohnern selbst als „weißer Knast“ bezeichnet wird und in dem häufig aus den Fenstern gepinkelt wird. „Sie verwahrlosen! Sie haben keine Aufgabe, keine Struktur“, so Bona. Mohameds Wohnungssuche könnte sich noch eine Weile hinziehen. Bei dem angespannten Wohnungsmarkt ist es schwer, die Vermieter zu überzeugen – besonders, wenn man nur eine befristete Aufenthaltsgestattung von sechs Monaten hat.