Es waren schlimme Momente, die den Notarzt Paul Brandenburg zum Unternehmer gemacht haben. Täglich traf er auf schwer kranke Menschen, nicht ansprechbar, mitunter bewusstlos und häufig schon im Sterben. Was aber sollte er mit ihnen tun? Ein Leben medizinisch erhalten, das keines mehr sein würde? Etliche Operationen zulassen, die am Ende nichts nützen? Monatelang ein Koma aufrechterhalten, ehe die Erlösung kommt? Und dazwischen Angehörige, die entweder ratlos sind, untereinander zerstritten oder mit Klage drohen, egal wie man sich entscheidet.
„Gerichte gehen immer vom natürlichen Überlebenswillen aus“, sagt Dr. Brandenburg. „Und als Arzt sagt man auch: Ich bin kein Gott – und entscheidet fast immer für das Weiterleben.“ Daher hat der Mediziner vor ein paar Jahren sein Unternehmen Dipat gegründet: Es bietet die Möglichkeit, klare und konkrete Patientenverfügungen zu verfassen, die möglichst viele Fragen im Sinne des betroffenen Menschen regeln.
Zwar habe etwa ein Drittel der Deutschen irgendeine Art von Patientenverfügung aufgesetzt, sagt der Facharzt. Aber rund 90 Prozent seien nutzlos, weil sie nicht aktuell genug, nicht auffindbar oder fachlich nicht genau genug sind. Ein einfach formulierter Wunsch etwa, dass im Fall des beginnenden Sterbens keine lebenserhaltenden Maßnahmen zu treffen seien, nütze den Ärzten meist sehr wenig. „Der Prozess des Ablebens beginnt ja mit der Geburt“, sagt Brandenburg. „Und auch ein Glas Wasser ist schon eine lebenserhaltende Maßnahme. Was wollen Sie da machen?“ Dipat schließe daher eine Versorgungslücke für wirksame Patientenverfügungen und sorge dafür, dass eine ärztliche und medizinische Behandlung tatsächlich dem Willen des Patienten entspricht – und nicht dem wirtschaftlichen Kalkül von Kliniken oder Kassen. Kostspielige, aber sinnfreie Überbehandlungen, die sich nicht mehr nach medizinischer Qualität richten, könnten so verhindert werden. Das Prinzip von Dipat ist simpel: Wer sich auf der Internetseite anmeldet, füllt in einem Online-Interview eine Reihe von leicht verständlichen Fragen aus. Dazu gehören Themen wie: Können Sie sich Krankheitssituationen vorstellen, in denen Sie nicht um jeden Preis weiterleben wollen? Welche Einschränkung des Sprach- oder Hörvermögens, der Sehfähigkeit oder der Beweglichkeit wäre noch hinnehmbar? Würden Sie sich Spenderorgane transplantieren lassen? Wenn Sie im Wachkoma wären und vielleicht nie wieder aufwachten: Würden Sie den Tod vorziehen? Wenn Sie an einem bösartigen, wiederkehrenden Hirntumor litten: Würden Sie eine Behandlung wünschen oder den Tod vorziehen? Hinzu kommen Kontaktdaten, Vorerkrankungen, Medikamente und Angaben zu Organspenden.
Einmal ausgefüllt, wird die digitale Patientenverfügung in einer Datenbank hinterlegt. Dazu erhält der Kunde einen Aufkleber für die Krankenkassen-Karte mit den Dipat-Daten, sodass ein Arzt im Notfall alle Antworten jederzeit abrufen kann. Aktualisierungen sind laufend möglich. Außerdem wird man je nach eigenem Gesundheitszustand jährlich oder öfter aufgefordert, manche Fragen neu zu überdenken. Der Gesundheitszustand, Lebensumstände und Einstellungen ändern sich schließlich. Für den Service zahlt man 48 Euro im Jahr. Brandenburg baut aber darauf, Vereinbarungen mit Krankenkassen abschließen zu können, sodass das Angebot für Versicherte künftig kostenlos wird.
Einmal im Monat im Notarztwagen
Die ersten Gedanken für das Unternehmen entwickelte der Berliner Honorar-Notarzt mit einem Bekannten vor rund sechs Jahren. 2015 wird Dipat gegründet, zunächst mit einem Privatkredit. Am 1. Januar 2016 geht das Team online. Ihr erklärtes Ziel: Marktführer in Deutschland sein. „Wir wollen der ADAC für Patientenverfügungen werden“, sagt Brandenburg. Bis dahin ist es aber noch ein weiter Weg: Derzeit hat Dipat rund 10 000 Kunden, immerhin bei zweistelligen Zuwachsraten. Doch bisher lief das Wachstum noch nicht wie erhofft, zudem erobern auch Nachahmer den Markt. Inzwischen hat das mit mehreren Preisen ausgezeichnete Unternehmen 14 Mitarbeiter.
Die Finanzierung läuft bislang noch mit Geldgebern von außen: Im Frühjahr 2017 erhielt das Unternehmen zwei Millionen Euro von Investoren – unter ihnen der Technologiegründerfonds Sachsen, der mit für den Umzug des Start-ups von Berlin nach Leipzig sorgte. Der laufende Betrieb funktioniert zudem mit EU-Fördermitteln vom Land und mit Förderungen der Stadt Leipzig. „Ohne staatliche Hilfen ist so ein Firmenstart nicht machbar“, sagt Brandenburg. Doch bis Ende nächsten Jahres will der 40-Jährige mit Dipat die schwarze Null erreichen. Mindestens einmal im Monat ist der Gründer indes nicht im Unternehmen: Dann fährt er noch eine Notarzt-Schicht. „Ich will“, sagt der Facharzt, „den Kontakt zur Realität nicht verlieren.“
Von Von Sven Heitkamp, Leipzig
Foto: © Ronald Bonß