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Die fünf Sorgen der Arbeitsagentur-Chefin Andrea Nahles

Deutschlands größte Behörde will nicht nur für Arbeitslose zuständig sein. Womit die frühere SPD-Vorsitzende Andrea Nahles als Chefin der Bundesagentur für Arbeit nun rechnet.

Lesedauer: 5 Minuten

Das Bild zeigt eine Frau vor einem Mikrofon.
Andrea Nahles war SPD-Vorsitzende und Arbeitsministerin. Jetzt ist sie Chefin von mehr als 100.000 Angestellten der Bundesagentur für Arbeit und will den Arbeitsmarkt verbessern. © Archiv/dpa/Wolfgang Kumm

Von Georg Moeritz

Dresden. In Sachsen gibt es jetzt gleichzeitig Arbeitslosigkeit und einen Mangel an Arbeitskräften. Andrea Nahles hat als Chefin von Deutschlands größter Behörde die Aufgabe, beide Schwierigkeiten zu bewältigen. Zugleich will sie ihre Bundesagentur für Arbeit „zur modernsten Dienstleisterin im öffentlichen Sektor in Europa“ machen. Ihre fünf größten Sorgen – und was sich dagegen tun lässt.

Sorge 1: Die Arbeitslosigkeit steigt jetzt wieder

Die Arbeitslosigkeit ist im vergangenen Monat gestiegen – das ist für einen Juni ungewöhnlich. Es liegt an der schwachen Konjunktur: Handel und Zeitarbeitsfirmen beispielsweise stellten weniger Menschen ein. In Deutschland sind nun mehr als 2,5 Millionen Menschen ohne Job. Es sind 11.000 mehr als im Mai und 192.000 mehr als vor einem Jahr.

Auch ohne die mitgezählten ukrainischen Flüchtlinge wäre die Arbeitslosigkeit gestiegen. In Sachsen sind jetzt 128.000 Menschen arbeitslos gemeldet, 12.000 mehr als ein Jahr zuvor. Die Einstellungsbereitschaft der Arbeitgeber ist gesunken, den dritten Monat in Folge.

n den nächsten Monaten wird die Arbeitslosigkeit wohl weiter steigen, sagt Andrea Nahles. Das ist in der Ferienzeit ohnehin üblich, in diesem Jahr sind die Arbeitgeber besonders zurückhaltend. Ob sich der Arbeitsmarkt im Herbst wieder belebt, hängt von der Konjunktur ab, auch von Zinsniveau und weltweiter Nachfrage nach deutschen Maschinen und Autos. Zum Jahresende werden bundesweit etwa 100.000 Ukrainerinnen aus Integrationskursen kommen und sich wohl zusätzlich arbeitslos melden. Doch nur ein Teil will bleiben.

Nahles kennt auch die langfristigen Trends: Moderne Technologien bringen zwar neue Jobs, doch sie schaffen gewohnte Arbeitsplätze ab und erfordern neue Qualifikationen. Elf Millionen Menschen haben Berufstätigkeiten mit einem hohen Risiko, durch moderne Technologien ersetzt zu werden. Die Nahles-Behörde will daher Weiterbildung auch für Berufstätige organisieren.

Sorge 2: Die Langzeitarbeitslosigkeit verschwindet nicht

Selbst im jahrelangen Aufschwung ist die Langzeitarbeitslosigkeit nicht verschwunden, jüngst hat sie wieder zugenommen. Bundesweit sind 908.000 Menschen länger als ein Jahr erwerbslos, in Sachsen mehr als 46.000. Es waren schon mal weniger, im Jahr 2019 in Sachsen weniger als 39.000. Aber dann kam Corona: Wegen der Ansteckungsgefahr gab es weniger Hilfsmöglichkeiten, kaum Bildungsangebote für Langzeitarbeitslose. Manche Jugendliche verließen die Schulen ohne Abschlüsse – mehr als 50.000 in einem Jahr.

Die Hälfte der Langzeitarbeitslosen ist länger als vier Jahre ohne Arbeit. Viele leiden unter gesundheitlichen Einschränkungen oder anderen Schwierigkeiten. Nahles sagt, ihnen müsse mit „Coaching“ geholfen werden, mit enger Unterstützung. Doch die Arbeitsagentur-Chefin sendet eine gespaltene Botschaft zu den Chancen aus: Einerseits lobt sie das neue Bürgergeld. Das biete neue Möglichkeiten. Zum Beispiel dürfen jetzt auch dreijährige Weiterbildungen zum Berufsabschluss gefördert werden statt nur zwei Jahre. Weiterbildungsgeld kann gezahlt werden als Anreiz für Menschen, die sich sonst womöglich mit zeitweiligen Helferjobs zufriedengeben und auf Dauer schlecht qualifiziert bleiben würden.

Doch Nahles sagt zugleich, sie könne „den verfestigen Arbeitslosen“ nicht so viele Angebote machen wie sie gerne wolle. Das Geld aus dem Bundeshaushalt sei zu gering. „Ohne Moos nichts los“, sagt die frühere SPD-Vorsitzende. Die Jobcenter, zuständig für Arbeitslose außerhalb der Arbeitslosenversicherung, brauchen mehr Geld für steigende eigene Personalkosten und schichten daher einen Teil des Hilfsgeldes um. Nahles‘ Vorstandsmitglied Daniel Terzenbach sagt, für Arbeitslosengeld-Empfänger gebe es „aktive Arbeitsmarktpolitik“, aber den anderen drohe ein „Sinkflug“ bei den Finanzen der Behörde.

Sorge 3: Fachkräfte und Arbeitskräfte fehlen

Ob Mikrochipfabriken in Dresden oder Handwerksbetriebe in der Sächsischen Schweiz – Arbeitgeber suchen Arbeitskräfte. Die Zahl der offenen Stellen in Deutschland lag im Juni bei 769.000. Ein Jahr zuvor waren es zwar noch rund 100.000 mehr, doch längerfristig drohen laut Nahles Engpässe vor allem in Gesundheitsberufen und in der Informations- und Telekommunikationssparte (IT). Die Jahrgänge der Babyboomer gehen auf die Rente zu, bei ihnen war duale Ausbildung noch das übliche.

Allerdings gehen auch schon 1,3 Millionen Rentner arbeiten, und es könnten noch mehr werden. Viele tun es nicht nur wegen des Einkommens, sondern um noch etwas zu leisten. Bis 2035 lassen sich laut Nahles bis zu 3,4 Millionen Menschen zusätzlich für den Arbeitsmarkt gewinnen, durch gezielte Ansprache und Förderung von älteren Menschen und Frauen. Viele Unternehmen könnten durch guten Dialog mehr erreichen.

Die Arbeitsagentur stellt gerne heraus, dass Frauen in Deutschland und den Niederlanden im Europavergleich die wenigsten Stunden arbeiten. Minijobs hätten einen „Lock-in-Effekt“, sie verhinderten längeres Arbeiten – obwohl es gewünscht ist. „Minijobs blockieren oft den Aufstieg und führen langfristig zu Altersarmut“, heißt es in einer Schrift der Behörde. Selbst unter den Angestellten der Arbeitsagentur ist Teilzeit weit verbreitet: 50 Prozent der weiblichen und 15 Prozent der männlichen Angestellten arbeiten nicht in Vollzeit. Damit Teilzeitler länger arbeiten, muss beispielsweise die Kinderbetreuung weiter ausgebaut werden.

Sorge 4: Ausländer sind schwer zu bekommen

Weil der einheimische Nachwuchs und die Arbeitslosen die Lücken nicht alleine schließen können, braucht Deutschland auch mehr ausländische Arbeitskräfte. Voriges Jahr zogen einschließlich Ukrainern 2,7 Millionen Menschen nach Deutschland. Aber 1,2 Millionen zogen weg. Deutschland muss also nicht nur die Anwerbung verbessern, die Zugezogenen müssen sich auch wohlfühlen. Per saldo müssten jährlich 400.000 Ausländer nach Deutschland kommen und bleiben, damit die Zahl der erwerbsfähigen Menschen gleich bleibt.

Arbeitsagentur-Vorstandsmitglied Vanessa Ahuja findet das neue Fachkräfteeinwanderungsgesetz „super“. Es mache zum Beispiel eine Probebeschäftigung auch in kleineren Unternehmen möglich. Aber die Verfahren zur Einreisegenehmigung seien zu langsam. Das Auswärtige Amt hat einen Plan zur Beschleunigung mit Digitalisierung vorgelegt. Viele Ausländerbehörden in den Landkreisen und Großstädten haben Personalmangel, müssen selbst an ihrer Attraktivität arbeiten.

Die Internetplattform make-it-in-germany.com des Arbeitsministeriums wird pro Monat 1,8 Millionen Mal aufgerufen. Dort können Bewerber auf die deutschen Angebote aufmerksam werden. Die Arbeitsagentur hat keine Rekrutierungsbüros im Ausland. Aber Berater fliegen zum Beispiel im Projekt Triple Win für Pflegekräfte nach Bosnien-Herzegowina oder Indonesien und informieren Interessenten.

Deutsche Arbeitgeber seien allerdings häufig sehr zurückhaltend, wenn es mit den ausländischen Bewerbern konkret werde, sagt Ahuja. Sie müssten auch Kosten für den Sprachunterricht übernehmen und einen Teil der „Integrationsarbeit“ leisten, damit die Neuankömmlinge auch bleiben. Mit grob geschätzt 10.000 Euro Kosten für die Anwerbung einer Fachkraft und 5.000 für einen Auszubildenden sei zu rechnen.

Die Arbeitsagentur prüfte voriges Jahr 342.000 Entscheidungen zur Arbeitsaufnahme von Menschen außerhalb der EU. Davon lehnte sie 58.000 ab. Die Behörde achtet beispielsweise auf eine ortsübliche Entlohnung der Ausländer, das schütze auch die deutschen Kollegen und führe zu höherer Akzeptanz.

Sorge 5: Schrumpft die Arbeitsagentur?

Nahles leitet Deutschlands größte Behörde. Die Bundesagentur hat 100.000 Stellen, wenn auf Vollzeit umgerechnet wird – tatsächlich sind es 113.000 Menschen, davon 6.000 in Sachsen. Wegen der sinkenden Arbeitslosigkeit war vor einigen Jahren von einem „Personalabbaupfad“ die Rede. Doch dann kamen neue Krisen. Nahles betont, das Tausende Mitarbeiter in der Corona-Krise für das Kurzarbeitergeld eingesetzt wurden, viele seien noch mit den Prüfungen beschäftigt. Der Vorstand der Behörde wurde von drei auf vier Personen aufgestockt.

Die Personalvorständin Katrin Krömer nennt auf Nachfrage keine Personalzahlen für die Zukunft, sondern sagt: „Als neuer Vorstand müssen wir die neue Situation bewerten.“ Die Herausforderungen würden größer, sagt Anja Piel, die im Verwaltungsrat den Gewerkschaftsbund vertritt. Aber auch die Arbeitgebervertreterin Christina Ramb in dem Aufsichtsgremium zeigt Verständnis für die Personalwünsche der Behörde. Es sei die „Bundesagentur für Arbeit und nicht für Arbeitslosigkeit“, immer mehr Anforderungen kämen dazu. Immer wenn eine Behörde gesucht werde, die gut und schnell Auszahlungen von Hilfsgeld übernehmen könne, falle die Wahl auf die Bundesagentur. Sie sehe eine Grenze der Belastbarkeit, sagte Ramb.

Der Beitragssatz für die Arbeitslosenversicherung ist zu Jahresanfang von 2,4 auf 2,6 Prozent der Arbeitseinkommen erhöht worden. Ramb will keine weitere Steigerung der Lohnnebenkosten. Doch sie stimmt dem Wunsch der Bundesagentur zu, wieder Rücklagen aufzubauen. In der Corona-Zeit waren die zurückgelegten 27 Milliarden Euro für Kurzarbeitergeld ausgegeben worden. Damit dürfte der Staat Entlassungswellen verhindert haben.

Die Arbeitsagentur setzt auch auf Digitalisierung und bietet Videosprechstunden an. Doch die 2.000 IT-Mitarbeiter der Behörde haben es noch nicht geschafft, die Daten der Kunden konsequent zu automatisieren. Der Datenschutz erlaubt nicht alles, etwa die Nutzung von US-Rechenzentren mit mehr Möglichkeiten. Doch Anfang nächsten Jahres sollen Weiterbildungsangebote auf der Nationalen Online Weiterbildungsplattform NOW zusammengefasst sein. Weiterbildung kann Arbeitslosigkeit vorbeugen.

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