Görlitz. Mit einer Grafik des Monats im Newsletter machte das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung kürzlich auf die demografische Entwicklung in der Lausitz aufmerksam.
Die Wissenschaftler hatten sich die Zahlen für die sechs Landkreise und eine kreisfreie Stadt in Südbrandenburg und Ostsachsen genau angeschaut. Was sie dabei entdeckten, erklärt Frederick Sixtus im SZ-Interview. Er ist Projektkoordinator Demografie Deutschland an dem Institut.
Herr Sixtus, was macht die Lausitz so besonders aus demografischer Sicht?
Sie hat bereits nach der Wiedervereinigung in den 1990er-Jahren einen harten Strukturwandel erlebt, nachdem sie bis zum Ende der DDR eine zentrale Funktion hatte mit dem Abbau und der Verstromung von Braunkohle. Mit dem wirtschaftlichen Zusammenbruch gingen seinerzeit Zehntausende Arbeitsplätze verloren. Viele junge Menschen sind weggegangen. Diese teilweise traumatischen Erfahrungen des Strukturbruches wirken bis heute nach. Nun steht die Lausitz vor einem zweiten Strukturwandel bis 2038 mit dem Kohleausstieg. Erneut werden mehrere Tausende Arbeitsplätze verloren gehen. Aber die Politik hat sich anders darauf vorbereitet.

Quelle: Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung
Gibt es vergleichbare demografische Einschnitte wie in der Lausitz andernorts?
Viele ländliche Regionen in Ostdeutschland haben eine ganz vergleichbare Entwicklung durchgemacht. Seit der Wende hat beispielsweise Sachsen-Anhalt vergleichsweise die meisten Einwohner verloren. Aber auch einige westdeutsche Regionen haben harte Strukturbrüche erlebt, etwa im Ruhrgebiet, im Saarland oder in Rheinland-Pfalz.
Der Speckgürtel von Berlin ist eine Ausnahme
Gibt es Gebiete in der Lausitz, wo es besser gelaufen ist und welche Gründe gibt es dafür?
Schaut man sich die Kreise der Lausitz in Südbrandenburg und Ostsachsen an, dann sticht der Kreis Dahme-Spreewald heraus. Es ist der einzige Lausitzer Kreis, der seit der Wiedervereinigung nicht geschrumpft ist und der voraussichtlich auch weiterhin Einwohner gewinnen wird. Das betrifft vor allem die Speckgürtel-Gemeinden in diesem Kreis, die an Berlin grenzen.
Schaut man sich die Kreise der Lausitz in Südbrandenburg und Ostsachsen an, dann sticht der Kreis Dahme-Spreewald heraus. Es ist der einzige Lausitzer Kreis, der seit der Wiedervereinigung nicht geschrumpft ist und der voraussichtlich auch weiterhin Einwohner gewinnen wird. – Frederick Sixtus, Projektkoordinator Demografie am Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung.
Gibt es einen ähnlichen Effekt auch im Westen vom Kreis Bautzen rund um Dresden?
Dieser Effekt ist im Kreis Bautzen nicht annähernd so ausgeprägt wie im Kreis Dahme-Spreewald. Aber ich bin mir sicher, wenn man sich genauer die Grenzgemeinden zu Dresden anschaut, wird man ähnliche regionale Unterschiede sehen. Der Gesamtkreis Bautzen hat seit 1995 jeden fünften Einwohner verloren und wird auch – nach den Vorausberechnungen des Bundesamts für Bau-, Stadt- und Raumforschung – bis 2040 beträchtlich an Einwohnern verlieren.

Quelle: Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung
Das folgt ja dem Konzept der Leuchttürme, die dann in das Umland ausstrahlen. Da Berlin und Dresden für viele Städte in der Lausitz aber sehr weit weg sind, verfolgt die Regionalpolitik die Strategie, sich auf Ankerstädte wie Cottbus, Görlitz oder Bautzen zu konzentrieren, sie zu stärken, damit sie dann auch auf ihr Umland ausstrahlen. Können Sie an den demografischen Zahlen da irgendeine Bewegung absehen?
Wir sehen, dass seit Mitte der 2010er-Jahre wieder mehr Menschen in die Region ziehen als weggehen. Alle Lausitzer Kreise haben leichte Wanderungsgewinne zu verzeichnen. Sie reichen nur nicht aus, die demografische Entwicklung umzukehren, weil die Sterbeüberschüsse so hoch sind. Inwieweit diese Zuwanderung auf politische Entscheidungen zurückzuführen ist, ist schwer zu sagen. Eine Rolle spielen sicherlich auch die steigenden Wohnkosten in den größeren Städten und neue Möglichkeiten, im Homeoffice zu arbeiten.
Der Gesprächspartner
Das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung ist eines der wichtigsten Forschungsinstitute, wenn es um die demografische Entwicklung in Deutschland geht. Dort ist unser Gesprächspartner Dr. Frederick Sixtus Programmkoordinator Demografie Deutschland. In den vergangenen Jahren hat er sich auch vertieft mit der Entwicklung der Lausitz auseinandergesetzt.
Wir haben seit 1990 eine doppelte demografische Spirale nach unten in der Lausitz. Erst die Abwanderung, vor allem auch die Frauen. Ihr Institut hatte seinerzeit darauf hingewiesen, mit der Studie „Not am Mann“. 20 Jahre später fehlen die jungen Menschen, die Familien gründen und Kinder großziehen. Genau da stecken wir in der Lausitz fest.
Genau so ist es. Der Lausitz fehlen die abgewanderten Familien aus den 1990er-Jahren. Gleichzeitig waren damals die Geburtenziffern historisch niedrig. Die Kinder, die vor drei Jahrzehnten nicht in der Lausitz geboren wurden, fehlen heute in der Elterngeneration. So gehen die Kinderzahlen jährlich in der Lausitz deutlich zurück. Und wir sehen immer noch, dass deutlich mehr junge Frauen als junge Männer wegziehen. Im Kreis Oberspreewald-Lausitz kommen auf 100 junge Männer im Alter zwischen 18 und 29 Jahren nur 80 Frauen in dieser Altersgruppe. In den Kreisen Elbe-Elster und Bautzen sieht das ganz ähnlich aus, in Bautzen kommen beispielsweise 85 Frauen zwischen 18 und 29 Jahren auf 100 gleichaltrige Männer.
Wir sehen noch immer, dass deutlich mehr junge Frauen als junge Männer wegziehen. Im Kreis Bautzen kommen 85 Frauen zwischen 18 und 29 Jahren auf 100 gleichaltrige Männer. -Frederick Sixtus, Projektkoordinator Demografie am Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung.
Die Gemeinden sehen die Folgen als Erstes bei der Kinderzahl, die deutlich zurückgeht und die Frage aufkommen lässt, haben wir in den vergangenen Jahren zu viele Krippen und Kindergärten eingerichtet. Das lässt auch wieder Sorgen aufkommen, es käme doch wieder so wie in den 1990er-Jahren, als auch viele Schulen geschlossen wurden. Was macht Sie optimistisch, dass die Entwicklung in den nächsten Jahren in der Lausitz ganz anders verlaufen wird?
Zum einen entscheiden sich wieder mehr Menschen aus den großen Städten ins Umland zu ziehen. Davon profitiert auch die Lausitz. Das sind vor allem junge Eltern zwischen 30 und 49 Jahren mit minderjährigen Kindern. Es sind aber auch, und das ist eine ganz neue Entwicklung, Berufswanderer: Menschen zwischen 25 und 29 Jahren ziehen stärker in die Lausitz als weg. Das kann aber nicht den Wegzug der 18- bis 25-Jährigen ausgleichen, die zur Ausbildung oder zum Studium weggehen. Zum anderen stehen nicht so viele Jobs auf dem Spiel wie vor 30 Jahren. Und die Politik begleitet diesen Prozess viel aufmerksamer. Schon jetzt gibt es Untersuchungen, dass die neu geschaffenen Arbeitsplätze durch Ansiedlung von Behörden, neue Forschungszentren oder auch in der Industrie deutlich mehr sein werden als durch den Kohleausstieg verloren gehen. Die Lausitz wird nicht so stark im Stich gelassen, wie es nach der Wende der Fall war.
Attraktive Rahmenbedingungen werden immer wichtiger für junge Menschen
Es lauert eher die Gefahr, dass all die bestehenden und neuen Jobs gar nicht besetzt werden können in der Lausitz, weil eben weniger Menschen künftig hier leben werden. Der Mangel an Fachkräften wiederum ist ja ein Problem vieler deutscher Regionen, da steht die Lausitz im Wettbewerb. Sehen Sie denn gute Argumente, wo die Lausitz die Nase vorn hat beim Werben um Fachkräfte?
Das ist die große Herausforderung. Die Erwerbsbevölkerung in der Lausitz ist seit 2003 um mehr als 200.000 Personen geschrumpft, und sie wird bis 2040 nochmal um 120.000 Personen schrumpfen. Es gibt verschiedene Ansätze, um die Lausitz attraktiv für junge Leute zu entwickeln, beispielsweise als Region der alternativen Energien. Man muss sich immer vor Augen halten: Junge Leute werden auch in anderen Regionen fehlen, die möglicherweise ebenso attraktiv sind. Attraktive Jobs, gute Anbindung an Großstädte, Kinder-Betreuungsplätze, Versorgung mit schnellem Internet, die Erreichbarkeit von Ärzten und Schulen – das sind alles Themen, die einzahlen auf die Entscheidung, in eine Region zu ziehen.

Quelle: Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung
Das ist die Zukunftsmusik. Die Gegenwart ist etwas anders. Wenn man sich den Glücksatlas anschaut oder den Gleichwertigkeitsbericht der Bundesregierung, dann ist die Unzufriedenheit im Kreis Görlitz am höchsten und die Stimmung am schlechtesten. Der Gleichwertigkeitsbericht sieht einen Zusammenhang mit der Abwanderung und dem Durchschnittsalter. Können Sie das nachvollziehen?
Beides hängt zusammen. Die Bevölkerung ist dort besonders gealtert, wo viele junge Menschen weggegangen sind. Und sie sind dort weggegangen, wo die Zukunftsaussichten schwierig waren. Dieser Teufelskreis kann andere negative Faktoren verstärken. Unzufriedenheit führt unter Umständen zu einem bestimmten Wahlverhalten, wie wir es bei der Bundestagswahl eindrücklich gesehen haben. Aus Befragungen von jungen Frauen wissen wir, dass Parteien mit einem Familien- und Frauenbild wie jenem der Alternative für Deutschland (AfD) nicht sehr attraktiv sind und auch den Wegzug junger Frauen aus starken AfD-Regionen befördern können. Es sind vor allem junge Männer, die AfD wählen weniger die jungen Frauen.
Der Anteil der Ausländer ist in der Lausitz sehr gering, und an diesem geringen Anteil ist wiederum die Zahl der Geflüchteten und Schutzsuchenden noch mal überdurchschnittlich hoch. Das zeigt, wie schwierig es ist, Menschen aus dem Ausland zu überzeugen, in die Lausitz zu ziehen. – Frederick Sixtus, Projektkoordinator Demografie am Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung.
Und ausländische Fachkräfte wollen möglicherweise auch nicht in AfD-Hochburgen gehen? Dabei ist die Lausitz auf sie in den nächsten Jahren in besonderem Maße angewiesen.
Ja, das werden sie sich zweimal überlegen. Der Anteil der Ausländer ist in der Lausitz sehr gering, und an diesem geringen Anteil ist wiederum die Zahl der Geflüchteten und Schutzsuchenden noch mal überdurchschnittlich hoch. Das zeigt, wie schwierig es ist, Menschen aus dem Ausland zu überzeugen, in die Lausitz zu ziehen.
Es gibt auch Entwicklungen, die Mut machen
Es gibt eine Ausnahme: Das ist die Stadt Görlitz, wo 5000 polnische EU-Bürger wegen der Grenznähe leben. Sehen Sie darin auch ein Modell für die ganze Region?
In größeren Städten wie Görlitz ist bundesweit der Anteil von ausländischen Mitbürgern höher als in eher ländlichen Regionen. Aber es bleibt der Stadt-Land-Unterschied, daher ist die Vorbildfunktion wohl eher gering.
Auf welche drei Dinge sollte die Lausitz besonders in den nächsten Jahren achten?
Erstens: Akzeptieren und anerkennen, dass der demografische Wandel stattfindet. Die Zahl älterer Menschen wird steigen, die Erwerbsbevölkerung zurückgehen. Diese Entwicklung gilt es, zu gestalten. Zweitens: Es ziehen auch wieder jüngere Menschen in die Lausitz. Auch das gilt es zu unterstützen. Drittens: Die vielen positiven Veränderungen in der Lausitz sollten hervorgehoben werden und den Menschen Mut machen, dass die Region lebenswert ist.
SZ