Von Siiri Klose
Die roten Zettel in den Schaufenstern der Schmuckwerkstatt verheißen nichts Gutes: „Werte Kunden, das Geschäft schließt!“ steht darauf in großen Buchstaben. Für Dippoldiswalde eine Hiobsbotschaft. Stichwort Ladensterben: Bereits für den ehemaligen Volkskunst-Laden von Kathrin Siegel an der Ecke zur Herrengasse hat sich seit über einem Jahr kein Nachmieter gefunden. Mit Sarah Böhme geht nun eine tatkräftige, gut ausgebildete, in Dippoldiswalde sehr geschätzte Goldschmiedemeisterin.
Allerdings nicht wegen fehlender Kundschaft. „Rein wirtschaftlich gab es überhaupt keinen Anlass, den Laden zu schließen“, sagt Sarah Böhme. Der ungewöhnliche Grund steht auch auf den roten Zetteln: „Dieses Objekt ist mit Radon belastet.“ Das ist das Ergebnis von Messungen in den Ladenräumen, die sich über zwei Jahre hinzogen.
Radon steigert das Risiko für Lungenkrebs
Spätestens seit 2019 ist Radon ein Thema im Erzgebirge. Damals trat eine neue Strahlenschutzverordnung in Kraft, die Menschen vor Radon in Aufenthaltsräumen und an Arbeitsplätzen schützen soll. „Atmet man Radon und seine radioaktiven Folgeprodukte über einen längeren Zeitraum in erhöhtem Maße ein, steigt das Risiko, an Lungenkrebs zu erkranken“, schreibt das Bundesamt für Strahlenschutz auf seiner Internetseite.
Laut dem Strahlenschutz-Amt können rund fünf Prozent aller Lungenkrebsfälle in Deutschland einem langjährigen, regelmäßigen Aufenthalt in mit Radon belasteten Räumen zugeordnet werden. Das sind etwa 1.900 Fälle pro Jahr. „Damit ist Radon nach dem Rauchen eine der wichtigsten Ursachen für Lungenkrebs“, heißt es.
Ganzes Erzgebirge ist Radon-Vorsorgegebiet
Als Referenzwert hat das Bundesamt für Strahlenschutz 300 Becquerel (Bq) pro Kubikmeter festgelegt. Die Bundesländer hatten die Aufgabe, sogenannte Radonvorsorgegebiete zu ermitteln. Das sind Gebiete, in denen Stichprobenmessungen regelmäßig mehr als 300 Becquerel pro Kubikmeter ergaben. Alte Bergbaugebiete sind besonders gefährdet. Folgerichtig taucht nahezu jede Erzgebirgskommune in den Vorsorgegebieten auf, die Sachsen zum 31. Dezember 2020 festlegte – auch Dippoldiswalde.
Seit 2021 muss jeder messen, der im Erdgeschoss oder Keller Räume zum Arbeiten oder sonstigen regelmäßigen Aufenthalt vorhält – von der Goldschmiede-Werkstatt bis zum Kindergarten. Peer Kempe, Wirt vom Eschenhof in Ammelsdorf, hatte Glück: „Bei uns waren die Werte zum Glück nicht auffällig“. Glashütte hingegen steht nun vor der Schließung des Dittersdorfer Kindergartens.
Haus am Markt 20 gehört der Stadt Dippoldiswalde
Bei den ersten Messungen in Sarah Böhmes Geschäftsräumen lag der Wert bei 1.000 Bq. „Danach hört das Messgerät auf zu messen, weil dann die Messfolie voll war“, erzählt die Goldschmiedin. In den letzten zweieinhalb Jahren ist sie in Radonfragen zum Profi geworden. „Ich musste meine Angestellten über die Werte informieren. Das ist vorgeschrieben.“ Ihre Vermieterin informierte sie auch. Das Haus am Markt 20 gehört der Stadt Dippoldiswalde, die es von der Dresdner Firma R&M Immobilienmanagement verwalten lässt.
Nachdem Ende 2021 die zu hohe Belastung feststand, griff Punkt zwei der Vorschrift zum Umgang mit Radon: Laut dem zuständigen sächsischen Umweltministerium sind demnach innerhalb der nächsten 30 Monate Maßnahmen zur Reduzierung der Radonkonzentration zu ergreifen und „durch eine wiederholte Messung zu überprüfen.“ Konkret empfohlen wird Lüften am Morgen und Mittag. „Wir haben ständig gelüftet, auch im Winter. Uns froren die Finger ein beim Arbeiten“, erinnert sich Sarah Böhme.
Außenwand zur Wassergasse besonders belastet
Ende 2022 stand fest: Unter einen Wert von 600 oder 800 Bq gelangt sie mit ihren Räumen nicht. Doch weil die Unternehmerin diesmal – wie schon zuvor selbst finanziert – sensiblere Geräte anmietete und gleichzeitig ein Lüftungsprotokoll führte, konnte sie das Problem besser eingrenzen: „Es zeigte sich, dass insbesondere die Außenwand der Werkstatt zur Kleinen Wassergasse besonders belastet ist.“ Über 5000 Bq stellte sie dort fest.
Das Radongas gelangt besonders bei alten Gebäuden über den Keller, durch alte Fugen und Risse in die Räume. In der Kleinen Wassergasse stieß die Bergsicherung Freital 2011 untertage auf Spuren mittelalterlichen Bergbaus – damals eine Sensation und ein Grund dafür, dass Dippoldiswalde Teil des Weltkulturerbes Montanregion Erzgebirge wurde. Unter dem Markt 20 reichen also unter Umständen nicht nur Fugen und Risse ins Erdreich, sondern ganze Stollensysteme.
Stadt Dippoldiswalde machte kein Angebot
Wenn Lüften nichts hilft, blieben noch bauliche Maßnahmen wie das Einbringen von Sperrfolien oder das Versiegeln von Rissen und Spalten. Doch in dieser Hinsicht wollte die Stadt Dippoldiswalde als Eigentümer der Immobilie offensichtlich nichts unternehmen, auch an einer Luftfilter-Anlage wollte sie sich nicht beteiligen.
„Letztlich bot mir die Stadt nur drei Optionen an. Erstens: Die Situation so zu tolerieren, wie sie ist. Zweitens: Das Haus zu kaufen und selbst zu sanieren. Oder drittens: Von einem Sonderkündigungsrecht Gebrauch zu machen“, sagt Goldschmiedemeisterin Sarah Böhme. Ein anderer Ladenraum in der Stadt sei ihr als Ausweich nicht angeboten worden. „Allerdings habe ich zurzeit so viel um die Ohren, dass ich einen Umzug auch gar nicht geschafft hätte.“ Auf die Anfrage von Sächsische.de bei der Stadtverwaltung Dippoldiswalde gab es bis zum Redaktionsschluss keine Antwort.
Vor der Schließung ist ein Abverkauf im August geplant
Anfang 2023 übernahm Sarah Böhme einen Juwelierladen in Dresden. Ihre Rücklagen – aus der Zeit der Geschäftsschließungen während der Coronajahre ohnehin nicht üppig – hat sie gerade dafür aufgebraucht. Den Laden in Dippoldiswalde wollte sie dennoch gern weiterführen – wenigstens bis Ende des Jahres. „Mir fällt der Abschied schwer. In Dippoldiswalde bin ich aufgewachsen. Seit über 18 Jahren führe ich die Schmuckwerkstatt. Natürlich wollte ich meinen Kunden meine Gründe für die Schließung nicht nur auf einem Zettel mitteilen“, sagt sie.
Doch mit der Aussicht, in Zukunft in Dresden zu arbeiten, hätten ihre Angestellten sich schnell umorientiert, zwei Mitarbeiter kündigten. Damit kann sie das Geschäft in Dippoldiswalde von jetzt auf gleich nicht mehr offen halten. Ende August ist noch ein Abverkauf geplant. Im Vorstand des Dippoldiswalder Handels- und Gewerbevereins bleibt Sarah Böhme dennoch mit der Stadt verbunden: „Mir ist Dippoldiswalde nach wie vor wichtig.“