Suche
Suche

Es war einmal ein Dorf: Wie der Ausbau der Chipindustrie den Dresdner Norden verändert

Der massive Ausbau der Chipindustrie verändert den Dresdner Norden nachhaltig. Das bietet große Chancen, tut manchmal aber auch weh.

Lesedauer: 7 Minuten

Man sieht die Baustelle des neuen Infineon-Werkes
Ein Hauch von Festung Königstein: Die gewaltige Baustelle des neuen Infineon-Werkes dominiert derzeit das Panorama im Norden Dresdens. Quelle: SZ/Veit Hengst

Henry Berndt

Dresden. Ist da ein Ufo gelandet, mitten in den Hängen über Dresden? Oder sind es die Lichter eines neuen Freizeitparks? Nein, das müssen Kräne sein. Viele, sehr hohe Kräne. Wer aus dem Elbkessel nach Einbruch der Dämmerung in Richtung Norden schaut, kann die beleuchtete Infineon-Baustelle nicht übersehen. Sie prägt das nächtliche Panorama, so wie die Chipindustrie mehr und mehr den Dresdner Norden prägt.

Etwa 30.000 Quadratmeter misst das Baufeld am Rande der Heide, auf dem Infineon gerade rund fünf Milliarden Euro in die Erweiterung seines Werkes investiert. Das ist mehr als doppelt so viel wie der gesamte Jahreshaushalt der Stadt Dresden. Entstehen wird die größte Mikrochipfabrik Europas mit rund 4.500 Angestellten. Der bisherige Rekordhalter befindet sich nur zehn Autominuten entfernt auf der anderen Seite der A4: Globalfoundries mit seinen rund 3.000 Beschäftigten. Dazu kommt das Bosch-Werk nahe dem Flughafen. Gleich nebenan wird in naher Zukunft zudem eine Chipfabrik des taiwanesischen Investors TSMC den Betrieb aufnehmen.

Die Baustelle von Dresdens neuem Infineon-Werk erinnert an einen gigantischen Ameisenhaufen.
Quelle: Infineon

In der European Semiconductor Manufacturing Company (ESMC) sollen weitere 2.000 Arbeitsplätze entstehen. Vor Ort zu sehen ist davon bislang aber noch nicht viel. Am Zaun hängen gelbe Schilder mit der Aufschrift: „Betreten der Baustelle verboten.“ Ein Aufpasser in Warnweste passt auf. Auf der weiten Fläche hinter dem Zaun reißt ein gelber Bagger mit seiner gefräßigen Schaufel eine Mauer ein. Ansonsten ist das Baufeld schon weitgehend freigeräumt. Lange grüne Rohre und stattliche Sandhaufen liegen bereit.

Die Großinvestitionen in der Chipindustrie bringen mehr Menschen, mehr Verkehr und mehr Infrastruktur nach Dresden. Was macht das mit den nördlichen Stadtteilen? Von der Stadt getrennt durch die weitgehend unbesiedelten Hellerberge, haben sie sich einst weitgehend unabhängig entwickelt. Wilschdorf und Rähnitz blieben lange Zeit Bauerndörfer, was heute noch am Straßenbild erkennbar ist. Klotzsche hingegen wurde seit Ende des 19. Jahrhunderts zum Kur- und Villenvorort. 1908 begann der Aufbau der Gartenstadt Hellerau.

Auf der Baustelle von ESMC neben dem Bosch-Werk ist noch nicht viel zu sehen.
Quelle: SZ/Henry Berndt

Der Bau der Autobahn und des Flughafens Klotzsche in den 30er-Jahren hatte nachhaltige Auswirkungen. Als Industriestandort ist der Dresdner Norden vor allem seit Ende des Zweiten Weltkrieges bekannt. Die Ansiedlung der Mikroelektronik nach 1990 kann als logische Fortsetzung dieser Entwicklung angesehen werden. Dass sie im Jahr 2024 so rasch voranschreiten würde, haben aber wohl nicht viele kommen sehen. Für die gigantische Menge an Industrieabwasser wird beispielsweise gerade ein neuer, zehn Kilometer langer Kanal bis zum Klärwerk in Kaditz gebaut.

Nach den Flugzeugen über ihnen haben sich die Einwohner des Stadtbezirks Klotzsche inzwischen auch an ratternde Baufahrzeuge gewöhnt.

Auf der Infineon-Großbaustelle verrichten an diesem Nachmittag im Oktober rund 1.000 Arbeiter ihren Dienst – jeder ausgestattet mit Helm, Schutzbrille, Weste, Handschuhen und Stiefeln. 16 Kräne drehen sich. Wer auf die Baustelle will, muss durch ein Drehkreuz gehen. Ein perfekt organisierter Ameisenhaufen.

„Müsste wie ein Schuhkarton aussehen“

Am Eingang zur Baustelle stehen Lastwagen Schlange, die tonnenschwere Betonteile geladen haben. Die Platten mit den vielen runden Löchern sind für den Boden der künftigen Reinraumetage vorgesehen. Während im westlichen Teil noch der Rohbau hochgezogen wird, ist im östlichen Teil schon die finale Höhe von rund 20 Metern erreicht. Im Technikgebäude sind gar schon die Wände gestrichen.

„Wenn es nur nach Funktionalität ginge, dann müsste eine solche Fabrik wie ein Schuhkarton aussehen“, sagt Projektleiter Holger Hasse. Doch bei einer so stadtbildprägenden Präsenz müssten eben noch andere Kriterien einbezogen werden. Lange verhandelte Infineon mit der Stadt um die Ausgestaltung der Fassade, die nun vom Tal aus betrachtet zinnenartig abgestuft ansatzweise gefällig daherkommen soll.

Inzwischen nutzen die Planer gern die Festung Königstein als Metapher für den künftigen Block. Massiv, aber irgendwie majestätisch soll er wirken.

Arbeit an sechs Tagen in der Woche 24 Stunden lang

An sechs Tagen in der Woche wird auf der Baustelle 24 Stunden lang gearbeitet. Manchmal auch sonntags. Etwa die Hälfte des Rohbaus sei inzwischen fertig, sagt Hasse. Man liege gut im Zeitplan und im Budget. Bis zum Frühjahr 2025 soll das Dach zu sein. Ende 2026 könnte die Produktion beginnen. Ob weitere Erweiterungen danach ausgeschlossen sind? „Das sicher nicht, aber den Dresdnern ist ihre Heide ja heilig“, sagt Projektleiter Hasse. „Und das Grundstück gehört ja nicht Infineon.“

Dass das Unternehmen den Anwohnern im Stadtteil Klotzsche während der Bauarbeiten einiges zumutet, ist ihm bewusst. Nachdem bis zum Frühjahr über Wochen 450.000 Kubikmeter Erdaushub ins Gewerbegebiet an der Wilschdorfer Landstraße gekarrt worden waren, lud Infineon die Bürger zu einem kostenlosen Autowaschtag ein. Wenig überraschend wurde das Dankeschön ausgiebig genutzt. Schon lange vor Ende der Anmeldefrist seien alle 48 Termine vergeben gewesen.

In einem eigens verfassten Newsletter wendet sich Infineon regelmäßig an die „lieben Nachbarinnen und Nachbarn“. Im September lud das Unternehmen zu einem Herbstspaziergang mit einem Waldpädagogen und dem bereits vierten Bürgerdialog in der Aula des Gymnasiums Klotzsche ein. Für den 5. Dezember ist ein Nachbarschaftscafé im Bio-Bahnhof geplant.

Steigende Immobilienpreise bringen neue Klientel

Auch auf den Verein Bürgerschaft Hellerau ist Infineon zuletzt zugegangen, unterstützt ihn beispielsweise bei der Organisation des Adventsmarktes. Der Bürgerverein hat sich auf die Fahnen geschrieben, das Erbe der Gartenstadt Hellerau zu bewahren und gleichzeitig Ideen für die Zukunft zu entwickeln. „Um die Gartenstadt selbst ist uns nicht bange“, sagt Wolfgang Gröger aus dem Vorstand. Ihr grünes Idyll ist Flächendenkmal und damit bestens vor Baggerschaufeln geschützt. Man verfolge allerdings mit einiger Sorge, dass der Zuzug die Sozialstruktur verändere. „Häuser werden hier inzwischen zu exorbitanten Preisen gehandelt“, sagt Gröger. Das bringe andere Klientel in den Ort, die Zahl der „Ureinwohner“ schwindet.

Durch den Ausbau der Chipindustrie rechnet man in Dresden mittelfristig mit 27.000 neuen Jobs. Mindestens 10.000 neue Wohnungen sollen her. Auch im Umland, aber nicht nur. „Leider verfolgt die Stadt derzeit vorrangig das Ziel, Wohngebiete zu verdichten, anstatt mal größer zu denken“, sagt Gröger. In seinem Verein wurde die Idee einer Gartenstadt 2.0 ersonnen, einem neuen Stadtteil im Dresdner Norden, grün, nachhaltig und mit attraktiver Infrastruktur. Womöglich könne man ja einen der Chipriesen als Förderer gewinnen?

Bis dahin bleibe es wohl ein Traum, sagt Gröger. Der 72-Jährige stammt aus Bremen. In den 90ern hat er als Physiker die Infineon-Fabrik in Dresden mit aufgebaut. Dass Infineon und Co. nun neue Wirtschaftskraft und Arbeitsplätze in den Dresdner Norden bringen, findet er gut.

Zu DDR-Zeiten arbeitete Ramon Himburg für das Zentrum Mikroelektronik Dresden. Heute führt er Ostdeutschlands größte Kleingartenanlage.
Quelle: SZ/Henry Berndt

Auch die Gärtner in Ostdeutschlands größter Kleingartenanlage schauen grundsätzlich positiv gestimmt auf die leuchtenden Kräne. Die Hellersiedlung beginnt kaum zwei Kilometer von der Infineon-Baustelle entfernt und erstreckt sich über 55 Hektar. Knapp 1.000 Pächter genießen hier ihre grünen Paradiese.

Geschäftsführer Ramon Himburg arbeitete zu DDR-Zeiten für das Zentrum Mikroelektronik Dresden (ZMD), das Ende der 80er den ersten 1-Megabit-Speicherchip des Ostblocks produzierte. „Die Ansiedlungen heute sind ohne Zweifel wichtig für Dresden und Sachsen“, sagt der 64–Jährige. Man könne zwar nicht ausschließen, dass das eine oder andere Unternehmen nur die Subventionen kassieren wolle und sich nach drei, vier Jahren wieder verabschiede, aber dieses Risiko müsse man eingehen.

Unmittelbar betroffen sind die Kleingärtner vom Ausbau der Industriebetriebe nicht, abgesehen von einer steigenden Nachfrage nach Parzellen. Schon jetzt bauen einige Infineon-Mitarbeiter ihre Kartoffeln in der Hellersiedlung an. Dennoch machen sich einige Gärtner Sorgen. Was ist, wenn ein Großinvestor kommt und das Gelände der Hellersiedlung kaufen will? Fast das gesamte Areal gehört dem Land Sachsen. Die Stadt besitzt nur einen kleinen Teil. „Ich halte das für nicht sehr wahrscheinlich“, sagt Himburg. Bis mindestens 2033 werde sich da allein schon deswegen nichts tun, da die Hellersiedlung Teil des Konzeptes für die in Dresden geplante Bundesgartenschau sei.

Durch diese dörfliche Idylle am Vorerlenweg könnte einmal die Straßenbahnlinie 8 führen.
Quelle: SZ/Henry Berndt

Die Stadt Dresden bewirbt Klotzsche als attraktiven Wohnort. Der Stadtteil sei sehr vielseitig, gut „durchgrünt“ und kaum verdichtet, heißt es. Die Nähe zur Heide sei ein großes Plus. Zudem gebe es eine hervorragende Verkehrsanbindung. Eine Vielzahl von Vereinen bereichere das kulturelle und soziale Leben. Das zu bewahren, sei das Gebot der Stunde, sagt Stadtbezirksamtsleiter Thomas Grundmann. „Der Stadtbezirk wird sich verändern. Es werden mehr Menschen hier wohnen, die unterschiedliche Bedürfnisse haben, die es ernst zu nehmen gilt.“

Im Amt für Wirtschaftsförderung teilt man diese Ansicht. „Wirtschaftliche Entwicklung und gute Wohnqualität müssen zusammen funktionieren und bedingen sich sogar“, heißt es von dort. „Dieser Herausforderung ist sich die Landeshauptstadt Dresden bewusst.“

Nicht immer lassen sich diese beiden Dinge ganz ohne Konflikte vorantreiben, wie der geplante Ausbau der Straßenbahnlinie 8 zeigt. Um die Chipwerke besser an den öffentlichen Personennahverkehr anzuschließen, will Dresdens Baubürgermeister Stephan Kühn die Linie über Hellerau hinaus in Richtung Norden verlängern. In einer Potenzialanalyse ist von 3.500 zusätzlichen Fahrgästen pro Tag die Rede.

Bislang kann sich Annette Plambeck nicht mit dem Gedanken anfreunden, dass die Straßenbahn künftig direkt vor ihrem Haus entlangfahren könnte.
Quelle: SZ/Henry Berndt

Annette Plambeck will nicht daran glauben. Die 54-Jährige wohnt auf dem Vorerlenweg, einer kleinen Straße unweit der Straßenbahn-Wendeschleife. Der Weg ist kaum 150 Meter lang, links und rechts mit Wohnhäusern und kleinen Betrieben bebaut. Ihr Haus mit der gelben Fassade hat Annette Plambeck 2001 gekauft. Dass die verlängerte Linie 8 in der favorisierten Variante 1a künftig direkt daran vorbeifahren könnte, hat sie aus der Zeitung erfahren. „Ehrlich gesagt bin ich schockiert und ziemlich wütend“, sagt sie. „Das hier ist einer der letzten Dorfkerne, die wir noch haben. Durch den Flughafen sind wir sowieso schon betroffen, aber jetzt wollen sie uns kaputtmachen.“

Pläne, die Straßenbahn genau an diesem Straßenzug entlang zu verlängern, gab es schon in den 90er-Jahren, wissen andere Bewohner der Straße, die lieber anonym bleiben wollen. Während sie vorerst die Füße stillhalten, hat Annette Plambeck als erste Reaktion mit ihrem Anwalt gesprochen. Sie glaubt nicht, dass der Ausbau der Linie 8 den erhofften Gewinn bringen würde. Stattdessen fürchtet sie, dass die Gleise vor dem Haus den Wert ihrer Immobilie verringern werden. Klar müsse die Stadt für Investoren attraktiv bleiben, sagt Annette Plambeck, „aber die Planer sollte dabei immer auch bedenken, welcher Preis dafür zu zahlen ist“.

Das könnte Sie auch interessieren: