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Hartnäckiges Gerücht: Wird der Görlitzer Waggonbau bald ein Militärausrüster?

Die Görlitzer Industrie ist im Wandel. Neue Weltmarktführer wie Skan wachsen stark, frühere wie der Waggonbau suchen neue Investoren. Am Wochenende waren Glanz und Sorgen beispielhaft zu erleben.

Lesedauer: 6 Minuten

Man sieht die Hallen des Waggonbau Görlitz.
Der Cockpit-Entwurf für die neue Görlitzer Straßenbahn stieß auch beim Tag der offenen Tür am Sonnabend im Görlitzer Waggonbau auf großes Interesse. © Martin Schneider

Von Sebastian Beutler

In Halle 2127 haben die Waggonbauer viele der Wagen zusammengeschoben, an denen sie gerade arbeiten: Doppelstockwagen für Israel, Straßenbahnen für Göteborg und Magdeburg. Werkleiter Jens Koep hat die Aufträge gerade von der Bühne herabgerufen. Es hörte sich an wie ein Lebenszeichen des Görlitzer Waggonbau-Werkes innerhalb des Alstom-Konzerns. Vor keinen acht Monaten fand der Görlitzer Neujahrsempfang genau in dieser Halle statt, damals wurde ein Entwurf für die künftige Görlitzer Straßenbahn vorgestellt. Auch dieses Cockpit steht wieder in der Halle, die Wagenkästen für die Schwesterfahrzeuge für Leipzig entstehen in einer benachbarten Halle.

Für Doppelstockwagen steht kaum ein anderer Waggonbau wie der in Görlitz.© Martin Schneider

Damit ist das überschaubare Portfolio des Görlitzer Waggonbaus in diesen Tagen auch bereits umrissen, das der älteste Schienenfahrzeughersteller Deutschlands an diesem Sonnabend zum Tag der offenen Tür vorstellt und damit an seine Gründung vor 175 Jahren erinnert. Die Aufträge werden bis Mitte 2026 reichen, dann steht in den Büchern kaum noch etwas. Belegschaftsvertreter hatten schon zuvor über die schwierige Abwägung gesprochen, einerseits an die große Tradition zu erinnern und sie auch zu feiern, andererseits die aktuell schwierige Stimmungslage nicht außer Acht zu lassen.

Waggonbau gehört zur Görlitzer Identität

Den offiziellen Rednern ist das durchaus bewusst. Sachsens Wirtschaftsminister Martin Dulig (SPD) spricht das Dilemma offensiv an. „Was ist der richtige Ton, wenn man 175 Jahre feiert und sich die Stimmungslage zwischen Optimismus und Resignation sowie Wut bewegt?“ Dulig bekennt, dass er das „Niedergangsgerede nicht leiden“ kann und an die Konzernleitung von Alstom gerichtet, sagt er klar: „Wir wollen die Erfolgsgeschichte weiterschreiben, brauchen industrielle Arbeitsplätze, denn hier wird der Wohlstand erarbeitet.“

Der Görlitzer Oberbürgermeister Octavian Ursu spricht gar von den Industriearbeitsplätzen als Rückgrat der Görlitzer Wirtschaft, deren Sicherung oberste Priorität hat. Und der Waggonbau stifte seit Jahrzehnten Identität für Görlitz, weil die unermüdliche Arbeit der Görlitzer internationale Anerkennung gefunden habe. Der Görlitzer Waggonbau war Weltmarktführer beim Schienenfahrzeugbau, jetzt erinnert man sich an seine einstige Bedeutung.

Dieser Identitätsbezug führt auch viele der Besucher an dem heißen Sonnabend in die Hallen in der Görlitzer Weststadt. Sie hören zwar nicht die Reden, streifen aber durch die Hallen mit Enkeln oder Verwandten. Nicht selten verbunden mit Erinnerungen an die große Zeit des Waggonbaus. Heute arbeiten hier noch 700 Mitarbeiter, als der Waggonbau vor fünf Jahren sein 170-jähriges Bestehen beging und auch schon die Stimmung nicht zum Besten bestellt war, da waren es noch 1.200. Damals kam noch der Deutschland-Chef von Bombardier nach Görlitz und gab dem Werk eine Bestandsgarantie, kurz darauf übernahm Alstom. Danach hieß es, schlimmer als bei Bombardier kann es unter Alstom nicht kommen. Wie man sich täuschen kann. Vom Alstom-Deutschland-Chef überbringt der Görlitzer Werksleiter nur laue Grüße an diesem Vormittag, sie finden kaum Resonanz.

In zehn Jahren hat sich im Görlitzer Süden ein neuer Weltmarktführer entwickelt

Keine 24 Stunden zuvor ist die Stimmung ein paar Kilometer südlich vom Waggonbau ganz anders. Der Schweizer Honorarkonsul in Sachsen hat gemeinsam mit dem Schweizerisch-Deutschen Wirtschaftsclub zum Schweizer-Tag in die Skan Deutschland GmbH nach Hagenwerder eingeladen. Das Mutterunternehmen der Görlitzer Firma kommt aus dem Kanton Basel-Land. Skan stellt Isolatoren und Reinraumgeräte für die Pharmaindustrie her, mit denen Medikamente abgefüllt werden.

Und ist damit Weltmarktführer. Armin Auer, der Görlitzer Firmenchef, wirft den Gästen in dem kleinen Meetingraum die Kunden seines Unternehmens an die Wand. Es sind die großen Pharmakonzerne weltweit, von GSK über Pfizer bis Novartis und Sanofi. 320 Millionen Schweizer Franken setzte die Skan AG im vergangenen Jahr um, in diesem Jahr sollen es zehn Prozent mehr sein. Von den knapp 1.400 Mitarbeitern der AG arbeiten zwar die meisten am Sitz in der Schweiz, aber mittlerweile auch 322 aus zwölf Nationen in Görlitz. Allein im vergangenen Jahr wurden 90 Mitarbeiter an der Neiße eingestellt. Görlitz ist mit Abstand der wichtigste Skan-Standort neben dem Hauptsitz.

Das enorme Wachstum verdankt das Unternehmen einem Trend. Wurden noch vor 20 Jahren die wichtigsten Medikamente gegen Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs oder Zucker in Tablettenform verabreicht, so werden nach Auers Angaben mittlerweile 70 Prozent dieser Medikamente in Form von Infusionen oder Tropfen, also in flüssiger Form, den Patienten verschrieben. Und für das Abfüllen dieser Medikamente brauchen die Pharmaunternehmen die Skan-Anlagen.

Das freut natürlich die Schweizer Gäste. An über 300 Unternehmen schätzt Björn Bennert, Präsident des Schweizerisch-Deutschen Wirtschaftsclubs, die Schweizer Beteiligungen in Sachsen. Nicht jede werde öffentlich, berichtet er dem Chef der Staatskanzlei, Conrad Clemens, der zuvor die öffentliche Statistik mit mehr als 163 Schweizer Unternehmensbeteiligungen in Sachsen zitiert hatte. Immerhin, so berichtet Jonas Belina, in der Schweizer Botschaft in Berlin für Wirtschaftsfragen zuständig, sei die Schweiz der fünftgrößte Investor in Deutschland. In Sachsen sind vor allem Uhrenfirmen, aber auch Sachsenmilch bekannt.

Die Skan Deutschland GmbH beschäftigt mittlerweile 322 Mitarbeiter in Görlitz.© Skan Deutschland GmbH

Diese Erfolgsgeschichte war kaum abzusehen, als der damalige Görlitzer Wirtschaftsförderer Lutz Thielemann in einer der vielen Franken-Krisen Schweizer Unternehmen Görlitz als Standort anpries. Skan biss an, weil das Unternehmen sich ohnehin erweitern wollte. War Skan zu Beginn 2014 in Görlitz nur ein reiner Produktionsstandort, so hat sich das mit der vorerst letzten Ausbaustufe deutlich verändert. Bei Skan wird nicht nur gearbeitet und produziert, sondern auch geforscht. Da passt auch die Ankündigung einer neuen Investition von Armin Auer ins Bild. Ein großes Logistikzentrum sei in Planung, eine Fläche von 25.000 Quadratmetern habe Skan dafür bereits gekauft, weitere Flächenkäufe stünden bevor. Das Lager solle Skan weltweit für die globale Fertigung und seine Kunden nutzen.

Forschung und Entwicklung ist beim Görlitzer Waggonbau derzeit kein Thema mehr. Die letzte Eigenentwicklung war der Schnellzug-Doppelstockzug für die Schweizer Bundesbahnen, anschließend wurde nicht nur der damalige Werkleiter Siegfried Deinege in die Wüste geschickt, sondern die Forschung und Entwicklung auch von Görlitz abgezogen. Es war der Anfang vom Ende. Beim Tag der offenen Tür erinnert ein Stand jener Initiativgruppe an die Görlitzer Entwicklungen, die den Vindobona wieder auf die Schienen bringen will.

Wie es weitergeht im Waggonbau, darüber halten sich alle am Tag der offenen Tür am Sonnabend bedeckt. Niemand will den weißen Elefanten zwischen den Hallen nennen, der als neuer Investor stadtweit mittlerweile genannt wird: der Düsseldorfer Konzern Rheinmetall. Der Vorsitzende des Görlitzer Unternehmerverbandes, Helmut Goltz, spricht von einem Umbruch und wünscht dem Görlitzer Werkleiter „starke Nerven“. IHK-Regionalleiter Frank Großmann flachst darüber, dass man vielleicht auch die 200 Jahre an dem Standort voll bekommt, dann komme er wieder und überreiche eine neue Urkunde für das Bestehen des Unternehmens.

Wie groß sind die Chancen für einen Einstieg von Rheinmetall?

Was ist aber an diesem schlechtgehütetsten Gerücht der Görlitzer Industrie dran? Schwer zu sagen. Klar ist, Alstom verhandelt mit einem Unternehmen aus dem Maschinenbau über einen Verkauf des Görlitzer Standorts. Dass es ein Schienenfahrzeug-Hersteller ist, kann sich ein erfahrener Betriebsrat nicht vorstellen. Auch wenn beispielsweise Skoda derzeit händeringend nach Kapazitäten für Schienenfahrzeuge in Europa sucht, ebenso das Leipziger Unternehmen HeiterBlick.

Rheinmetall wiederum profitiert als Rüstungsunternehmen von den steigenden Rüstungs- und Verteidigungsausgaben weltweit. In Spanien hat es den Munitionsproduzenten Expal Systems gekauft, in den USA steht es vor der Übernahme des Fahrzeugspezialisten Loc Performance Products. Auch in Ungarn und Südafrika baut das Düsseldorfer Unternehmen Produktionskapazitäten auf, der Ukraine liefert Rheinmetall die technische Ausstattung für eine Munitionsfabrik.

Die höheren Ausgaben für Rüstung und Verteidigung sind ein Trend wie die Abfüllung flüssiger Medikamente. So will die EU den Importanteil an Rüstungswaren in Europa auf unter 50 Prozent drücken. Das geht nur mit weiteren Produktionsstandorten. Und Wehrtechnik war immer Treiber von Innovationen. Das war schon beim Weltraumprogramm der Amerikaner so, wie das in Görlitz entstehende Zentrum für Astrophysik immer wieder beschrieben hat, und auch der Waggonbau hat in seiner Geschichte für Sicherheitskräfte gearbeitet.

Ob die Verhandlungen über den Görlitzer Waggonbau tatsächlich unter Beteiligung des deutschen Kanzleramtes geführt werden, weil es um Fragen der Sicherheit und Verteidigung geht, ist auch so eine Nachricht, die an diesem Tag zwischen den Werkhallen des Waggonbaus seine Runde macht, ohne dass sie näher geprüft werden kann. Und auch wann es Neues für das Görlitzer Unternehmen gibt, ist völlig offen. Anfang August war im Juli genannt worden, jetzt glaubt keiner, dass es noch vor der Landtagswahl ein Ergebnis der Verhandlungen gibt.

So viel Unsicherheit kennen sie bei Skan nicht. Und doch hat der Schweizerisch-Deutsche Wirtschaftsclub bemerkt, wie schwierig es ist, Interessenten auf Görlitz aufmerksam zu machen. Auf 50 Teilnehmer habe man gehofft, sagt Club-Präsident Björn Bennert. Deutlich weniger kamen am Ende an die Neiße. Dass es östlich von Dresden auch noch Wirtschaftsstandorte mit Tradition und Gewicht gibt, ist nach wie vor nicht weit verbreitet. Doch Bennert will sich damit nicht zufriedengeben und kündigt an: „Wir kommen wieder.“

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