Von Ulrich Wolf
Kein Stau, nichts. Der Verkehr rollt am 6. November 2018 auf der A 9 am Hermsdorfer Kreuz. Trotz der Lkw-Kontrolle, die die Autobahnpolizei Thüringen an jenem Tag durchführt. Und sie landet einen Volltreffer. Man habe einen „schrottreifen Sattelzug“ aus dem Verkehr gezogen, schreibt Polizeisprecher Christian Cohn später in einer Pressemitteilung. Die anschließenden Ermittlungen hätten mehrere Tage gedauert.
Der Lastwagen kam aus Italien und war mit gefährlichem Bauschutt aus Italien auf dem Weg zu einer Sondermülldeponie in Sachsen. Schon auf den ersten Blick sei klar gewesen, sagt Cohn, dass der Ladung Abfälle beigemischt waren, die für diesen Transport nicht erlaubt gewesen seien. Die Bremsanlage bezeichnet er als „unwirksam“.
Ein Polizeifoto zeigt einen nicht abgedeckten blauen Container, gefüllt mit beschädigten weißen Bigbags. Das sind große Säcke aus Kunststoffgewebe. In der Müllwirtschaft werden sie unter anderem für leichtere Abfallstoffe eingesetzt, etwa bei Dämmmaterial. Genau das hatte der Lkw den Frachtpapieren zufolge geladen. Gegen den Spediteur werde nun strafrechtlich ermittelt „wegen illegaler Verbringung gefährlicher Abfälle“, sagt Cohn. Der Müll sei nach Italien zurückgeschickt worden.
Die Spedition ist der Polizei zufolge in Thüringen „in der Vergangenheit mehrfach durch illegal transportierte Abfälle und mangelhafte Fahrzeuge aufgefallen“. Allein seit September 2017 wurden entdeckt: beschädigte Bigbags, loses Dämmmaterial, ein Ölleck an der Hydraulik, unerlaubt beigemischter Asbestzement, abweichende Fahrtrouten.
Nach SZ-Recherchen kommt die Spedition aus Österreich. Sie hat ihren Sitz in Kärnten, östlich von Klagenfurt. Und sie ist seit Jahren gut im Geschäft mit dem Müll, der aus Italien nach Sachsen gekarrt wird. Eine Anfrage von Volkmar Zschocke, dem abfallpolitischen Sprecher der Grünen-Fraktion im sächsischen Landtag, ergab: Das in Thüringen so auffällig gewordene Transportunternehmen liefert nicht nur Sondermüll aus Italien nach Sachsen, sondern auch aus Belgien, Österreich, Slowenien, Spanien, der Schweiz und den Niederlanden.
Akribisch hat das Umweltministerium die Aufträge der Spedition zusammengestellt. Die Tabelle umfasst 442 Einträge. Wie oft das Fuhrunternehmen auf sächsischen Straßen kontrolliert wurde, vermag die Staatsregierung indes nicht zu sagen: „Eine Recherche in der Integrierten Vorgangsbearbeitung der Polizei für die Jahre 2017 und 2018 erbrachte zu der genannten Firma keine Erkenntnisse.“ Allerdings: Die Spedition sei „im Zusammenhang mit acht Verkehrsunfällen erfasst“ worden. Angaben zu Fahrtrouten beziehungsweise zur Beladung lägen jedoch nicht vor.
Die betroffene Spedition will sich nicht äußern. „Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass wir kein Interesse an einem Interview haben“, teilt die Assistentin der Geschäftsführung mit. Man sei „derzeit sehr eingespannt“, und es sei „zeitlich überhaupt nicht möglich“, diesbezüglich Fragen zu beantworten.
Immerhin weiß das sächsische Umweltministerium zu berichten, was die österreichische Spedition an jenem 6. November 2018 transportieren sollte: „18,06 Tonnen Abfall mit der Abfallschlüsselnummer 170603“.
"Dämmstoffe, lose umherfliegend"
Sämtliche Abfälle dieser Welt sind in einem Abfallverzeichnis erfasst. Das besteht aus 842 Abfallarten, die sich wiederum in 408 gefährliche und 434 nicht gefährliche Abfallschlüssel unterteilen. Der Abfallschlüssel „170603“ bezeichnet „anderes Dämmmaterial, das aus gefährlichen Stoffen besteht oder solche Stoffe enthält“. Dazu gehört beispielsweise Mineralwolle.
Der in Thüringen kontrollierte Sattelzug hingegen fuhr laut Polizei nicht nur „Dämmstoffe, lose umherliegend“ durch die Gegend, sondern auch Dachpappe, Holzreste, Putzschicht- und Gipsplatten, Trittschalldämmungen und Styropor.
Weiterhin ist vom Umweltministerium zu erfahren, dass der in Thüringen gestoppte Mülltransport von einer Firma namens Eco-Gest SRL stammt. Die hat ihr Lager in dem stillen Örtchen Campomaggio in der Toskana, rund 35 Kilometer nördlich der Touristenhochburg Siena gelegen. Eco-Gest jedenfalls, teilt die Behörde mit, sei notifiziert „zur Verbringung von Abfällen“ an die Westsächsische Entsorgungs- und Verwertungs-GmbH, kurz WEV. Das kommunale Müllunternehmen betreibt in Störmthal südlich von Leipzig eines der größten Sondermülllager Deutschlands: die Zentraldeponie Cröbern.
Die misst fast 50 Hektar und liegt im mitteldeutschen Braunkohlerevier. Der Name Cröbern stammt von einem Ort, der dem Bergbau weichen musste. Im vergangenen Jahr räumte der Geschäftsführer des Zweckverbandes Abfallwirtschaft Westsachsen, André Albrecht, in einem Gespräch mit der Leipziger Volkszeitung ein: „Die Dimension der Deponie war Anfang der 1990er-Jahre unter Erwartung eines viel höheren Müllaufkommens geplant worden.“ Allein mit Abfällen aus der Region sei die Deponie nicht wirtschaftlich zu betreiben. „Wir brauchen mindestens die zehnfache Abfallmenge, um nachhaltig planen und wirtschaften zu können.“
Vor allem die Rücklagen für die Risiken des laufenden Betriebs und die Deponie-Nachsorge nach der Schließung schlagen ins Kontor. Ende 2016 betrugen diese Rücklagen rund 53 Millionen Euro. Die Deponie, deren Volumen rund 12,5 Millionen Kubikmeter beträgt, ist derzeit zu etwa Zweidritteln gefüllt. Albrecht macht klar: „Ohne Müllimporte nach Sachsen müssten wir die Abfallgebühren in der Region um ein Vielfaches steigern.“
Dass der Sondermülldeponie-Betreiber WEV mit seinen 90 Arbeitsplätzen finanziell zu kämpfen hat, zeigt ein Blick in den zuletzt veröffentlichten Jahresabschluss von 2016. In dem Jahr blieben von 46,2 Millionen Euro Umsatz gerade einmal 800 000 Euro als Nettogewinn übrig. Vor zwölf Jahren lavierte die WEV sogar am Rande der Insolvenz – woraufhin die Müllimporte drastisch anstiegen, vor allem aus Italien.
Das BKA, Neapel und der Untersuchungsausschuss
Die Folge waren vermeintliche oder auch tatsächliche Skandale. Rund um den Sondermüll aus Südeuropa machten Firmen wie die ETU GmbH im Landkreis Görlitz oder die SDR Biotec bei Delitzsch Schlagzeilen. Vor allem Biotec zog mit unschlagbaren Preisen den Dreck geradezu an: Schlacken, Schlämme, Teere, gebrauchte Katalysatoren, Säuren, zerkleinerte Leuchtstoffröhren, Bremsbelagstäube, toxische Reste aus der Abgasreinigung von Müllverbrennungsöfen.
Der Ex-Chef des Unternehmens musste sich vor dem Landgericht Leipzig verantworten. Verurteilt wurde er im Januar 2018 einzig wegen des „vorsätzlichen unerlaubten Betreibens einer Anlage“: zu einer Geldstrafe von 8 100 Euro. Ein Drittel davon erließ das Gericht gleich wieder, wegen der langen Verfahrensdauer. Wie viel Müll zwischen 2007 und 2011 bei Biotec unzureichend oder gar nicht behandelt, anschließend falsch deklariert und damit illegal entsorgt wurde, blieb unklar.
Im Zuge des damaligen Müllbooms, der befeuert wurde durch den Entsorgungsnotstand in der italienischen Region Kampanien mit ihrer Hauptstadt Neapel, geriet allerdings auch die WEV mit ihrer Deponie Cröbern in den Fokus. Auslöser waren zunächst Beschwerden von Anwohnern über Geruchsbelästigungen durch Züge mit italienischen Abfällen. Das Thema griffen regionale Zeitungen auf, dann der MDR und das ZDF. Das Bundeskriminalamt ermittelte, die Staatsanwaltschaft in Neapel – und in Sachsen trat 2010 ein Landtags-Untersuchungsausschuss zusammen.
Der Ausschuss tagte 143,5 Stunden, vernahm 48 Zeugen, darunter auch Ermittlungsbeamte aus Italien. Allein für den Komplex „Italienmüll“ wurden 287 Seiten Protokolle produziert und 19 Stunden lang Beweise erhoben.
Nur sporadische Kontrollen
Danach stand fest: 2007 und 2008 war es zu zwei großen Abfalllieferungen aus Italien nach Sachsen gekommen. Die erste bestand aus gefährlichen Abfällen aus der Gegend um Ancona, die gefährlicher waren als angegeben. Die zweite setzte sich aus ungefährlichen Siedlungsabfällen aus Kampanien zusammen, die jedoch nicht vorbehandelt waren und deshalb nicht deponiert hätten werden dürfen. Ein ehemaliger WEV-Mitarbeiter sagte vor dem Ausschuss, manchmal seien bis zu drei Züge am Tag mit 700 bis 800 Tonnen Abfall aus Italien gekommen. Ein Ermittler des Bundeskriminalamtes betonte, dass mit der illegalen Abfallentsorgung Gewinne in Dimensionen zu erzielen seien, die denen im Drogenhandel in keiner Weise nachstünden. Er vermutete, dass allein mit der an die sächsische WEV gelieferten Menge den Drahtziehern 30,5 Millionen Euro zugeflossen sein könnten.
Ein Beamter aus dem damaligen Regierungspräsidium Dresden räumte ein, dass die Italien-Transporte nur sporadisch kontrolliert wurden. Mit drei Leuten könne man das nicht machen. Sie hätten 5 000 bis 6 000 Anträge pro Jahr zu bearbeiten gehabt.
Dennoch bilanzierte die CDU im Abschlussbericht im März 2014, die sächsi-schen Behörden hätten „die ihnen zugewiesenen Aufgaben so erledigt, wie es die gesetzlichen Regelungen und Verwaltungsvorschriften vorsehen“. Grüne und Linke hingegen verwiesen auf einen Bericht des Bundeskriminalamtes zur deutsch-italienischen Wirtschaftskriminalität, in der die WEV als „relevanter Akteur“ identifiziert worden sei.
Fast fünf Jahre nach dem Ende des Untersuchungsausschusses konstatiert Grünen-Politiker Zschocke: „An der Praxis, Hunderttausende Tonnen gefährlicher Abfälle aus Italien nach Sachsen zu importieren, hat sich nicht wirklich etwas geändert.“ Es gebe im Freistaat zwar hohe Entsorgungsstandards. Die aber nützten wenig, wenn es an behördlicher Überwachung fehle. „Die Entdeckungswahrscheinlichkeit von schwarzen Schafen ist eher nach wie vor gering“, sagt Zschocke.
2017 kam mehr als die Hälfte der Auslandsabfälle aus Italien. Mit großem Abstand folgen Österreich, Luxemburg, Norwegen und die Schweiz. Sogar Müll aus Singapur landete in Sachsen. Von 2010 bis 2018 summiert sich der Import der italienischen Abfälle auf rund 1,6 Millionen Tonnen. Gemessen in Sattelschleppern, könnte man damit nahezu die gesamte A7 von Hamburg bis Füssen zustellen.
Größter Müllexporteur nach Sachsen sitzt am Comer See
Größter der insgesamt 71 Sondermüll-Exporteure aus Italien in den vergangenen zwei Jahren ist im Übrigen die Entsorgungsfirma Sirchi SRL. Fast ein Fünftel der Abfallmenge stammt aus deren Lager in Cucciago, gelegen an Eisenbahn und Autobahn, nicht weit entfernt vom Comer See. Als seine Mission bezeichnet es das 1998 gegründete Unternehmen, „den Kunden den besten Service bei Qualität und Preis zu bieten … und die Natur zu schützen“. Auch die in Thüringen aufgeflogene Spedition aus Österreich fährt für Sirchi.
Ebenso für den Entsorger Vidori in Venetien und das Abbruchunternehmen Zetadi in der Lombardei. Zwei Firmen, die das Bundeskriminalamt bei seinen damaligen Ermittlungen verdächtigte, seinen Sondermüll illegal in Sachsen entsorgt zu haben. Mit Bahn und Lkw lassen sie bis heute ihre gefährlichen Abfälle in den Freistaat bringen: auf die Deponie Cröbern und die privatwirtschaftliche Deponie Wetro in Ostsachsen.
Die Firma Euro-Gest, die nach Angaben des sächsischen Umweltministeriums Auftraggeber für die in Thüringen gestoppte Müllfuhre war, ist auf einer offiziellen Liste aus dem gleichen Haus mit dem Titel „Im Jahr 2018 aus Italien in den Freistaat importierte Abfälle“ gar nicht erst zu finden.