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Mehr als 150.000 Pendler: Ist Sachsen wirklich noch Niedriglohnland?

Jede Woche pendeln viele Sachsen, die meisten von ihnen in den Westen oder nach Berlin. Doch die Lohnunterschiede werden kleiner. Innerhalb Sachsens finden sich größere Unterschiede als zwischen Ost und West.

Lesedauer: 4 Minuten

Pendler willkommen: Mit diesem Gruß bemühten sich Chemnitzer vor einigen Jahren, berufspendelnde Sachsen zurückzugewinnen. Die Löhne in Sachsen sind gestiegen, aber es wird nicht weniger gependelt. © Archivfoto: Ronald Bonß

Von Georg Moeritz

Dresden. Manche fahren jeden Montag los, manche schon am Sonntagabend: Mehr als 150.000 Menschen aus Sachsen verbringen Stunden auf der Autobahn oder in Zügen, um in andere Bundesländer zu pendeln. Ziel sind oft die alten Bundesländer und die Hauptstadt: Allein 75.000 Pendler reisen nach Westdeutschland, 15.000 nach Berlin.

Lars Fiehler stellt fest, dass das Pendeln Jahr für Jahr zugenommen hat und heute so stark ist „wie seit der Wiedervereinigung nicht“. Dabei sind die Lohnunterschiede geschrumpft. Der Sprecher der Industrie- und Handelskammer Dresden (IHK) fragt sich manchmal, ob es in der sächsischen Heimat vielleicht doch nicht genügend passende Job-Angebote gibt, oder ob die Pendler auf ganz andere Kriterien achten. Andererseits ist auch die Zahl der Einpendler nach Sachsen gestiegen. Ist Sachsen noch immer ein Niedriglohnland?

Die Unterschiede zum Westen sind jedenfalls kleiner geworden – gerade in den vergangenen Jahren mit den steigenden Mindestlöhnen. Der mittlere Lohn für eine Vollzeitarbeit in Sachsen liegt nach jüngsten Zahlen vom vorigen Jahr in Sachsen bei 3.182 Euro brutto im Monat. Die Hälfte der Beschäftigten bekommt mehr als diese Summe, die andere Hälfte liegt darunter. Urlaubsgelder und Zuschläge sind dabei mitgerechnet. Seit 2019 ist dieser Medianlohn um 487 Euro gestiegen, um immerhin 18 Prozent in vier Jahren.

In den anderen Ländern sind die Löhne allerdings auch gestiegen. Der Abstand zwischen Sachsen und dem ärmsten West-Land Schleswig-Holstein beträgt nun beim Medianlohn 344 Euro im Monat. Dafür dürfte sich Pendeln keinesfalls lohnen. Die Lücke zwischen Ost und West beträgt 716 Euro, sie ist seit 2019 um 115 Euro kleiner geworden.

Stadt-Land-Unterschied größer als zwischen Ost und West

Der Abstand ist immer noch groß, aber es gibt selbst innerhalb Sachsens größere Unterschiede: In der Hauptstadt Dresden lässt sich laut Statistik sachsenweit am besten verdienen, der Medianlohn beträgt 3.689 Euro. Ein Einwohner des Erzgebirgskreises kann durch Pendeln nach Dresden rein rechnerisch 874 Euro im Monat Unterschied ausgleichen. Zum Landkreis Görlitz ist der Unterschied ähnlich groß: 869 Euro.

In Sachsen beträgt das mittlere Einkommen für eine Vollzeitstelle 3.182 Euro im Monat. Das ist mehr als in den anderen Ost-Ländern, aber weniger als im Westen. Dort gibt es aber große Unterschiede.
© SZ-Grafik: Gernot Grunwald

Der Stadt-Land-Unterschied macht also mehr aus als der Unterschied zwischen Sachsen und Westdeutschland. Das liegt freilich nicht an der Einwohnerzahl der Orte, sondern vor allem an unterschiedlichen Tätigkeiten. Dresden hat mehr gut bezahlte Stellen in Verwaltung, Forschung und größeren Betrieben. Gastronomie-Jobs sind in der Landeshauptstadt zwar auch häufig, dürften aber zum Teil mit Teilzeitkräften und Minijobbern zum Beispiel während des Studiums besetzt sein.

Sachsens Arbeitsagentur-Chef Klaus-Peter Hansen sagt, dass in ländlichen Gebieten oft landwirtschaftliche oder handwerkliche Berufe dominieren, die tendenziell niedrigere Löhne haben können. Auch in Dresden ist der Lohnabstand groß, etwa zwischen einer Küchenhilfe mit 2.219 Euro Medianlohn knapp über dem Mindestlohn und einem Gymnasiallehrer mit 5.871 Euro.

Arbeitsagenturchef hat Erfahrung als Pendler

Besonders groß ist die Lohnlücke bei Spezialisten und Experten. Sachsens DGB-Chef Markus Schlimbach sagt: „Wenn diese ausgewiesenen Fachkräfte beispielsweise in Bayern im Schnitt bis zu 1.400 Euro monatlich mehr verdienen, werden sie auch weiterhin aus Sachsen auspendeln.“ Damit gehen dem sächsischen Arbeitsmarkt wichtige Kompetenzen verloren.

Arbeitsagenturchef Hansen war selbst viele Jahre Pendler, allerdings wegen wechselnder Posten bei der Bundesbehörde. Der gebürtige Zittauer leitete auch mal das Jobcenter Berlin-Neukölln. Auf die Frage, ob sich Auspendler zurückgewinnen ließen, sagt Hansen, leider sei der Mensch ein Gewohnheitstier. Wer pendle, passe sich diesem Lebensrhythmus an – das habe er selbst lange getan. Er sagt, die wenigsten Pendler machten eine Kalkulation.

Laut Gewerkschaftsbund zeigt aber der Blick auf den Niedriglohnbereich, dass sich in Sachsen mehr tun muss, wenn es für Fachkräfte aus dem In- und Ausland attraktiv sein will. Niedriglohn, das ist nach Definition der Statistischen Ämter alles unterhalb von zwei Dritteln des mittleren Lohns. Das Statistische Bundesamt nennt 13,04 Euro pro Stunde als Niedriglohngrenze, allerdings berechnet für April 2023 und für Deutschland insgesamt.

DGB-Chef Schlimbach: In Sachsen tut sich was bei Löhnen

Inzwischen ist der gesetzliche Mindestlohn erhöht worden, das hatte im Osten stärkere Wirkung als im Westen. Das Statistische Landesamt in Kamenz berichtete voriges Jahr, dank der Erhöhung auf zwölf Euro sei die Zahl der Niedriglohn-Beschäftigten in Sachsen binnen weniger Monate von rund 400.000 auf rund 290.000 gefallen.

Bei der Zuordnung zum Niedriglohn kommt es allerdings darauf an, ob mit der westdeutschen, gesamtdeutschen oder sächsischen Niedriglohnschwelle gerechnet wird. Das Statistische Bundesamt schreibt, voriges Jahr seien im Osten 18 Prozent der Jobs mit Niedriglohn bezahlt worden, im Westen 16 Prozent. Laut Gewerkschafter Schlimbach dagegen ist der Anteil der Beschäftigten mit Niedriglohn in Sachsen mit 24,7 Prozent „viel zu hoch“ und deutlich höher als in ganz Deutschland mit 15,3 Prozent. In Sachsen fänden sich die roten Laternen: Im Erzgebirge würden 34,1 Prozent und im Kreis Görlitz 33,2 Prozent der Vollzeitbeschäftigten mit Niedriglöhnen abgespeist. „Das ist nicht hinnehmbar“, sagt Schlimbach.

Der Gewerkschafter sieht noch viel Luft nach oben bei Sachsens Arbeitgebern, um auch in Zukunft Fachkräfte halten und gewinnen zu können. „Mit Billiglöhnen wird ihnen das nicht gelingen.“ Andererseits stellt der sächsische DGB-Chef fest: „In Sachsen tut sich was. Bei den Löhnen, bei den Arbeitsbedingungen und vor allem bei der Kampfbereitschaft der Beschäftigten für mehr Tarifverträge.“ Unter dem Druck von Warnstreiks und im Wettbewerb um Arbeitskräfte hat selbst die Mikrochipfabrik von Globalfoundries trotz US-Managements nach vielen Jahren einen Entgelttarifvertrag abgeschlossen. „Die Zeiten von Wild-Ost sind vorbei“, sagt Schlimbach.

Aussichten: Mehr Großbetriebe, höherer Mindestlohn

IHK-Sprecher Fiehler sagt, viele Betriebe strengten sich an, um an Attraktivität zuzulegen. In Büroberufen gebe es mehr Homeoffice, auch daher könne er sich die Pendlermengen nicht vollständig erklären. In der Umfrage zum Sachsen-Kompass stand der Wunsch nach besserer Entlohnung vorne, als nach erhofften Veränderungen am Job gefragt wurde. Ein kürzerer Arbeitsweg stand bei knapp 14 Prozent der Befragten auf Platz 1 der Wunschliste. Häufiger erhofft wurden mehr Wertschätzung und ein geringeres Arbeitspensum.

Damit Sachsen bei den Löhnen weiter zum Westen aufschließt, gibt es mehrere Wege: Zum einen müssen die Wirtschaftsstruktur und Produktivität weiter verbessert werden. Hansen betont, in Sachsen gebe es wenige Konzernsitze und gut bezahlte Forschungs- und Entwicklungsbereiche. Die Kleinteiligkeit der Wirtschaftsstruktur führt auch dazu, dass Beschäftigte und Gewerkschaften weniger Tarifverträge durchsetzen können. Das Land müsste weiterhin aussichtsreiche Branchen fördern, die Ansiedlung der Mikrochipfabriken und Großforschungseinrichtungen ist ein Beitrag.

Zugleich steigen die Mindestlöhne weiter: Derzeit sind mindestens 12,41 Euro pro Stunde zu zahlen, das macht im Monat 2.151 Euro bei Vollzeitarbeit mit 40-Stunden-Wochen. Nächstes Jahr steigt der Mindestlohn auf 12,82 Euro, das macht im Monat 71 Euro mehr aus. Erstmals vorgeschrieben wurde der Mindestlohn im Jahr 2015 mit 8,50 Euro oder 1.473 Euro im Monat. Inzwischen ist das Lohnniveau insgesamt gestiegen.

Gependelt wird trotzdem. Lars Fiehler bedauert es, auch wegen der freien Arbeitsplätze in sächsischen Betrieben. Seine Hoffnung ist, dass viele Pendler eine neue Kalkulation aufstellen und sich für eine Stelle in Sachsen entscheiden: „Die große Zahl an Berufspendlern, die ihren Hauptwohnsitz nach wie vor in Sachsen haben, ist eines der größten Potenziale für den sächsischen Arbeitsmarkt.“

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