Von Michael Rothe
Das Gefühl, von Tausenden beklatscht zu werden, hat Martin Dulig selten. Am 5. Mai ist so ein Moment. Es ist der Sonntag nach dem Überfall auf seinen SPD-Parteifreund und Europapolitiker Matthias Ecke am Dresdner Pohlandplatz. In Blouson und Jeans hält er von der Ladefläche eines Lkw eine hemdsärmelige Rede gegen die Feinde der Demokratie und spricht 3.000 Demonstranten aus der Seele. Kein Statement eines sächsischen Ministers, sondern das eines Bürgers und Christen. Des Menschen Martin Tobias Dulig, geboren 1974 in Plauen, aufgewachsen in Vogt- und Elbland, wohnhaft in Moritzburg.
Von Amts wegen wird der Sozialdemokrat kaum bejubelt. Als er 2014 Sven Morlok (FDP) als Minister für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr beerbt, hängt die Messlatte tief. Sehr tief. Er übernimmt einen Rucksack unerledigter Wahlversprechen – und packt neue hinein, die auch zehn Jahre später noch kein Häkchen haben. Voran ein Vergabegesetz mit sozialen und ökologischen Mindeststandards.
Der gelernte Maurer geht es an – zunächst unter Ministerpräsident Stanislaw Tillich, der 2017 an Michael Kretschmer (beide CDU) übergibt. Kumpeltyp Dulig ist engagiert, auch blauäugig. Sein Gestaltungsspielraum bleibt angesichts konservativer Mehrheiten in Landtag und Landkreisen begrenzt. Hinzu kommt die immer lautere Fraktion von Querulanten.
Ober sticht Unter – nicht nur beim Doppelkopf. Dulig lernt: Lorbeeren für Ansiedlungen und neue Jobs werden von Ministerpräsidenten geerntet. Und Hiobsbotschaften wie Pleiten, Stellenabbau, Abwanderung verkauft der Juniorpartner.
Nach der Landtagswahl 2019 ist die SPD nur noch fünftstärkste Kraft. Das hat Folgen fürs Ministerranking, bei dem Dulig von Umweltminister Wolfram Günther (Grüne) überholt wird. Gegner nennen ihn genüsslich laut Protokoll: zweiter stellvertretender Ministerpräsident.
Mit Corona und Ukrainekrieg warten nun ungeahnte Probleme, und für Lockdown und vom Bund verhängte Russlandsanktionen gibt es keine mildernden Umstände. Ständig muss Dulig erklären, warum was nicht geht und rechtfertigen, dass Sachsen notleidenden Firmen nicht wie andere Länder mit Zuschüssen hilft, sondern nur mit Liquiditätsdarlehen.
Wenig Raum für Optimismus
Auf halbem Weg lässt er sich einen Bart wachsen. Neues Aussehen. Und sein Ansehen? Die Arbeitgeberlobby spricht dem Sozialpädagogen ökonomische Kompetenz ab, unterstellt Gewerkschaftsnähe. Doch auch der DGB ist unzufrieden mit ihm, der Sachsen zu einem „Land guter Arbeit“ machen wollte – entgegen Morloks Billiglohn-Werbung. Dank Bundeshilfen bleibt die Pleitewelle aus. Rohstoffmangel, hohe Material- und Energiekosten und Inflation belasten dennoch Sachsens Wirtschaft, zu 99,8 Prozent kleine und mittlere Firmen. Dazu die flächendeckende Personalnot.
Konjunkturumfragen verbreiten auch in Duligs 10. Jahr als Minister wenig Optimismus – dafür die Sorge, der Freistaat könnte nach der Wahl im Herbst unregierbar sein. „Man muss aufpassen, dass man sich von der Angst nicht auffressen lässt“, warnt der SPD-Mann, der seit 2004 im Landtag sitzt. Dabei sei die Lage besser als das Empfinden, gebe es Potenzial zur Bewältigung der D-Trends: Digitalisierung, Dekarbonisierung, Demografie. Sachsen entwickle sich vom Auto- zum Elektromobilitätsland, sei unter den Top-3 bei grünem Wasserstoff, habe eine exzellente Forschungslandschaft, zählt der oft – auch zu Unrecht – Gescholtene auf. „Wir schaffen nach dem Aufbau Ost, sprich Nachbau West, auch mal einen Vorsprung“, so der Ostbeauftragte und Ex-Landesvorsitzende seiner Partei.
Laut Statistischem Landesamt stockt der Aufholprozess. Die Pro-Kopf-Produktivität ist nur in Thüringen schlechter, das Bruttoinlandsprodukt, der Wert aller produzierten Waren und Dienstleistungen, liegt gar unter dem ostdeutschen Mittel.
Dulig beruft sich auf „höhere Rückflüsse aus dem Mittelstand als im Westen“ und die bundesweit höchste Beschäftigungsquote. Das Verdi-Mitglied räumt ein: Obwohl die Löhne in zehn Jahren um 47 Prozent zugelegt hätten, sei Sachsen – wie bei der Tarifbindung – Schlusslicht, bekomme jede/r Sechste Mindestlohn. Auch gebe es eine Lücke bei der Technologieförderung und rückläufige Investitionen. Seine Bilanz sei aber „auf alle Fälle positiv“.
Gelernter Maurer
Der Minister tut sich schwer mit eigener Bewertung. Erfolg mache sich nicht nur an Bildungsticket, der Ansiedlung von Bosch und TSMC und der Bahn-Neubaustrecke Dresden–Prag fest, die es ohne ihn nicht gebe. Es gehe um die Gesamtentwicklung, sagt er. „Und wenn uns andere dafür beneiden, entwickle ich stellvertretend für die Wirtschaft Stolz.“
Der gelernte Maurer weiß, wie man sich dreckig macht und kann eine Decke über Kopf putzen. Er versteht, dass Handwerksmeister Fördermilliarden für TSMC monieren, oder dass nur die Stahlindustrie vom subventionierten Brückenstrompreis profitieren soll. „Es geht nicht um Gerechtigkeit, sondern um Strategie“, argumentiert Dulig. Vom Chip-Investment profitierten alle: Dienstleister, Bau, Anlagenbauer, Infrastruktur. Chips seien „das Erdöl des 21. Jahrhunderts und entscheidend für die industrielle Entwicklung“.
Tatsächlich ist in Sachsen eine solide Wirtschaftsstruktur entstanden, hat der Freistaat nach der Wende viel Schlimmeres durchgemacht als jetzt, da Untergangsszenarien kursieren. Doch mitunter widersprechen ministerielle Einschätzungen jenen der Kammern und Verbände: so zum Stand von Breitbandausbau und Digitalisierung und zum 2023 mit viel Bohei verkündeten Pakt zur Gewinnung internationaler Arbeits- und Fachkräfte. Erfolgsmeldung hier, Bankrotterklärung da.
Dulig sieht sich im Krisenmanagement bestätigt – trotz Kritik, er warte nur auf Geld und Signale aus Brüssel und Berlin, statt selbst aktiv zu werden. Auch bei Fragen zu kriselnden Staatsbetrieben wie der Mitteldeutschen Flughafen AG und hofierten Pleitefirmen wie dem Möchtegern-Batteriezellenhersteller Blackstone Technology in Döbeln ist er wortkarg oder verweist an das Finanzministerium.
Anders bei seiner Aktion „Deine Arbeit. Meine Arbeit“, wo er tagweise und medienwirksam Schlips und Anzug gegen die Kluft von bislang 26 Berufen tauscht, etwa der eines Zugbegleiters. Im Dienst fährt er selten Bahn. Bei 20 innerdeutschen Fahrten nutzt er 2022 nur einmal, zur Wirtschaftsministerkonferenz in Dortmund, das selbst ernannte „Unternehmen Zukunft“ und sonst den Dienst-Diesel – wie fast alle Kabinettsmitglieder.
Delegationsreisen führen Dulig in 20 Länder, allein vier Mal nach China. Manch Ansinnen kassiert die Weltpolitik, so 2016 „die Bestätigung des außenwirtschaftlichen Potenzials“ bei einer Iran-Expedition sowie „langfristigen Aufbau und Pflege von Kontakten“ beim Russland-Trip. Kraft des Amtes öffnet er gut 600 Firmen Türen und Märkte. Der Hobby-Trompeter und Volleyballer hat die Laufschuhe immer dabei. Überwältigt von Kanadas Landschaft, postet er Fotos – und sät Zweifel. Ein Minister ist auch ein Mensch. Die letzten Wochen der Legislatur sind wenig exotisch: 1. Baggeraushub zur Erneuerung einer Staatsstraße, Fördergeldschecks, Eröffnung des Christopher Street Days, Treff mit Betriebs- und Personalräten, Podiumsdiskussionen. Dort tritt Dulig souveräner auf als früher, wird aber auch selten gefordert. So hat jüngst beim vom eigenen Ministerium anberaumten Bürokratieforum in Radebeul niemand gefragt, warum sein Haus fast 18 Prozent mehr Planstellen hat als vor zehn Jahren. Am Ende der Legislatur sind die Töne versöhnlicher, spricht das Arbeitgeberlager von Begegnung „auf Augenhöhe und mit Respekt“, aber auch von „mangelndem Problembewusstsein“. Die Dresdner IHK lobt Innovations- und Rohstoffstrategie. Das Handwerk würdigt das Azubiticket und die Ansiedlung von Großunternehmen – fühlt sich selbst aber oft unverstanden. Der DGB schätzt das Leitbild „Gute Arbeit“ und die Ansiedlung hochwertiger Jobs in der Chipbranche. Beim abgeblasenen Vergabegesetz habe das Durchsetzungsvermögen gefehlt, heißt es. Dulig fühlt sich ausgetrickst. Die CDU hatte nach Zusage noch ihr Veto eingelegt. Auch die versprochene Landesverkehrsgesellschaft gibt es nicht.
Deutschlands dienstältester Wirtschaftsminister hofft nach der Landtagswahl auf eine 3. Chance zur Erledigung, trotz einstelliger Umfragewerte für die SPD. Der sechsfache Vater und vierfache Opa weiß dafür seine Familie hinter sich und sagt: „Was ich als Ministerium habe, ist das zweitschönste Amt in Sachsen.“