Suche
Suche

New Work: Wir haben keinen Chef

Die Dresdner Softwarefirma Ostec arbeitet hierarchielos. Funktioniert das?

Lesedauer: 2 Minuten

Drei Mitarbeiter auf einem roten Sofa.
Bei dem IT-Unternehmen Ostec darf jeder Beschäftigte mal auf dem Sofa sitzen und entscheiden. Foto: Veit Hengst

Von Luisa Zenker

Dresden. Achtzehn Jahre lief es bei dem Dresdner Unternehmen Ostec wie in fast jedem anderen Betrieb. Der Chef sagte den Angestellten, was sie zu tun hatten. Doch als das IT-Unternehmen mehr und mehr Mitarbeiter bekam, fragte sich Mitgründer Stefan Queißer, wie eigentlich eine andere Struktur aussieht. Dabei stieß er auf das holokratische Arbeitsmodell. Ein Ansatz, der festgefahrene Hierarchien aufbricht und Transparenz sowie Teilhabe in Unternehmen fördern will. Das von dem US-amerikanischen Unternehmer Brian Robertson entwickelte Modell verteilt die Entscheidungsmacht auf möglichst alle Organisationsmitglieder. Ein Schiff ohne Kapitän ist es trotzdem nicht, denn jede Person bekommt eine Rolle zugewiesen. In der Praxis heißt das: Den einen Entscheider gibt es nicht. Er oder sie wechselt je nach Aufgabenlage. Dafür kommen verschiedene Personen im Plenum zusammen und bestimmen im Konsent-Verfahren, wie es weitergeht. „Das bedeutet auch, man muss den Rollen vertrauen“, so Queißer, dessen Unternehmen die Software für das Fahrradportal Bike24 oder die Webseite preisvergleich.de entwickelt hat.

Offene Fehlerkultur
Die Umstellung auf Holokratie bedeutet also mehr Verantwortung für jede einzelne Person. Aber auch Sinnhaftigkeit und eine offene Fehlerkultur, so Stefan Queißer: „Es wird normal, darüber zu sprechen, wenn Dinge schiefgelaufen sind. Man legt fast alles offen.“ 2017 führten sie das Modell ein und besuchten ein dreitägiges Seminar bei einer Berliner Unternehmensberatung. Neue Begriffe, Handzeichen im Plenum, Ausreden lassen – das sollten die Mitarbeitenden verinnerlichen. Dann wurden sie in die Realität entlassen. Auf einmal mussten Rollen zugeteilt, mehrere Meetings pro Tag abgehalten, Protokolle für alle veröffentlicht werden. Klingt nach mehr reden? Ist es auch, doch lieber reden als gar nicht, so Stefan Queißer, der glaubt, dass sich die wenigsten kleineren Unternehmen wirklich Gedanken über ihre Struktur machen. Langfristig hält er Holokratie für das effizientere System. Weil mehr Menschen den Überblick behalten, lernen zu kommunizieren, Mitgestalter werden. Ein Schiff, das mit vielen Kapitänen durch die Software-Gewässer segelt. Über Gehälter sagt das Konzept nichts, hier haben die Dresdner selbst einen Verteilungsschlüssel erstellt, je nach Kinderzahl, Abschluss, Erfahrung, individueller Veränderung.

Mit Andersartigkeit auffallen
Nach zwei Jahren Holokratie konnte der Gründer dann auch endlich laut sagen: „So langsam haben es die allermeisten verstanden.“ Doch nicht für jeden war es was: Drei Mitarbeiter haben währenddessen gekündigt. Neue sind stattdessen dazugekommen. Gerade in der IT-Branche müsse man angesichts des Fachkräftemangels mit Andersartigkeit auffallen. Da kann Holokratie helfen: „In unseren Bewerbungsgesprächen sagen wir: Du musst es mögen zu kommunizieren“, sagt Laura Behrendt. Ihre Rolle ist: HR Management & Recruiting, Business Development, Lead Link. „Die Neuen kriegen erst mal das Buch Holocracy in die Hand gedrückt“, erläutert sie das Onboarding. Eine hohe Einstiegshürde, die anhält: „Holokratie bedeutet lebenslanges Lernen“, fasst Mitarbeiter Thomas Zinn zusammen. All das klingt nach viel Aufwand – kann sich sowas nur ein zwanzigköpfiges Softwareunternehmen leisten?
Die Praxis beweist: Auch woanders ist es möglich, so arbeitet etwa die niederländische Pflegeorganisation Buurtzorg holokratisch. 7.000 Pfleger und Pflegerinnen organisieren sich in kleinen Teams, die jeweils für 50 Bedürftige zuständig sind. Zinn sieht im holokratischen System einen Werkzeugkasten, welcher sich an jedes Unternehmen anpasst. Dass es in größeren Organisationen scheitert, liege meistens am mittleren Management. Warum, das kann noch keiner sagen, hier müsse mehr Wissenschaft betrieben werden, so der Ostec-Mitarbeiter. Aber auch, wenn in dem Dresdner Unternehmen die Hierarchien so flach wie möglich sind, Queißer steht trotzdem als Geschäftsführer im Unternehmensregister, denn deutsche Regularien kennen keine Holokratie. Somit dürfen die Gründer René Mittag und Stefan Queißer jederzeit das System abschaffen. Aber Queißer liegt das nicht im Sinn. Erst durch Holokratie konnte der Familienvater Verantwortung auf mehrere Schultern verteilen.

Das könnte Sie auch interessieren: