Drei Jahrzehnte nach dem Mauerfall ist der wirtschaftliche Aufholprozess in Ostdeutschland nach Expertenmeinung zum Erliegen gekommen. Mehr als zwei Drittel der für eine Studie befragten Wirtschaftsforscher gehen davon aus, dass der Osten in den kommenden Jahren ökonomisch kein Westniveau erreicht. Knapp ein Drittel der Wissenschaftler sagt voraus, dass es mittel- wie langfristig überhaupt keinen Gleichstand geben wird.
Die Ökonomen weisen auch auf Folgen hin. „Viele gut ausgebildete junge Menschen sehen keine Perspektive im Osten, von Ausnahmen wie Leipzig, Dresden oder Jena abgesehen, und gehen in den Westen“, sagt Niklas Potrafke. Er leitet das Ifo Zentrum für öffentliche Finanzen und politische Ökonomie in München, das zusammen mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung 136 Wirtschaftsprofessoren befragte.
Die vorige Woche veröffentlichte Erhebung nennt mehrere Gründe für die Kluft zwischen Ost und West. Dazu zählen die Abwanderung qualifizierter Arbeitskräfte sowie ein Mangel an Arbeitsplätzen. Die Wissenschaftler weisen zudem auf die geringe Zahl an Industrie-Ansiedlungen und die ungenügende Export-Orientierung hin. Ballungsräume seien weniger stark als im Westen. Es gebe weniger Forschung und Entwicklung. Zudem bemängeln die Professoren eine „falsche Wirtschaftspolitik nach 1990“. Sie sprechen von der „Zerstörung industrieller Netzwerke“.
Einige Volkswirte vertreten aber die Ansicht, die Lage im Osten sei nichts Besonderes. Ähnliches gebe es im Westen. So hole das Ruhrgebiet nur langsam auf. Das Saarland sei 60 Jahre nach der Angliederung an die Bundesrepublik noch immer wirtschaftsschwach. 42 Prozent der Befragten bewerten die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung nach 1990 negativ, 35 Prozent positiv. Auf die Frage, ob eine staatlich geförderte Batteriefabrik in einem strukturschwachen Gebiet zu zusätzlichen regionalpolitischen Effekten führt, antwortet mehr als die Hälfte mit Nein. Mehr als ein Drittel sieht weiter reichende positive Konsequenzen durch solche Ansiedlungen.
Ostdeutsche CDU-Bundestagsabgeordnete fordern nach Recherchen der Frankfurter Zeitung in einem Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) Sonderwirtschaftszonen für die Lausitz und Mitteldeutschland. Dort sollen niedrigere Steuern und höhere Fördersätze die Wirtschaft ankurbeln. Sachsens Wirtschaftsminister Martin Dulig (SPD) hält die Auswertung der Befragung für wenig zielführend. Er widme sich sächsischen Themen. Die Regierung habe in seinem Ressortbereich erreicht, dass sich regionale Unterschiede nicht weiter verstärken.
Sachsens Arbeitgeberpräsident Jörg Brückner fordert ein Umsteuern durch die Politik. Die stehe derzeit "viel zu sehr auf der Bremse und konzentriert sich vor allem auf das Verteilen und neue soziale Wohltaten statt darauf, die wirtschaftliche Entwicklung zu befördern". Brückner verlangt die Stärkung der Investitions- und Innovationsaktivitäten von Firmen. Dazu notwendig seien unter anderem steuerliche Forschungsförderung, leistungsfähige Infrastruktur und weniger Regulierung. Brückner betont: "Keinesfalls dürfen sich die Standortbedingungen für die Unternehmen, beispielsweise durch eine Arbeitszeitverkürzung, im weltweiten Wettbewerb verschlechtern."
Von Thilo Alexe
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