Michael Rothe
Sachsen. Das Gefühl, von Bus und Bahn abgehängt zu sein, ist nach Ansicht der Allianz pro Schiene „ein Demokratie-Thema“. Wenn die Politik den Menschen keine Perspektive gebe, dass Mobilität in den öffentlichen Raum komme oder zu ihnen zurückkehre, würden sie sich zu Recht abgehängt fühlen und wählten nichtdemokratische Parteien, ist ihr Vereinschef Dirk Flege überzeugt.
Auch Martin Henke vom Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) sieht einen deutlichen Zusammenhang von Streckenstilllegungen und den jüngsten Erfolgen der AfD bei den Landtagswahlen. „Sachsen war in den letzten 30 Jahren bei Streckenstilllegungen in Deutschland der absolute Schwerpunkt – und dann kommt schon bald Thüringen“, sagt der Verkehrsexperte.
Fast 20 Prozent im Osten stillgelegt
Schwache Gebiete abzuhängen und sich auf Kernnetze zu konzentrieren, sei das Credo gewesen. Henke spricht von „außerordentlich fehlgeleiteter Politik“ und „kritikloser Hinnahme“. Auch habe der Freistaat „sehr lange gebraucht, auf den Zug der Reaktivierung aufzuspringen“.
Laut Eisenbahnbundesamt wurden seit 1994 von deutschlandweit 500 beerdigten Bahnstrecken 60 in Sachsen stillgelegt. Nur im fast doppelt so großen Nordrhein-Westfalen waren es noch 14 mehr. Die Länge des toten Gleises im Freistaat wird mit 510 Kilometern angegeben. Das entspricht einer Bahntrasse von Dresden nach Flensburg an der dänischen Grenze.
Im gesamten Osten wurden seit der Wende 2.468 Kilometer abgebaut, fast jeder fünfte Kilometer. Dort hatte das ursprüngliche Netz schon nach dem Zweiten Weltkrieg gelitten, als die Sowjetunion im Zuge der Reparationen vielerorts das zweite Gleis abbaute. Im Westen verschwand nach 1989 hingegen nur jeder zehnte Kilometer. Klimawandel und öffentlicher Druck führten zum Umdenken bei der Bahn und der Politik – auch in Sachsen, das mal eines der dichtesten Bahnnetze Europas hatte.
Der Freistaat prüft seit 2021 die Wiederbelebung stillgelegter Trassen. Zunächst ging es um 22 Strecken. Nach einer Erstbewertung gab es für ein Sextett Hoffnung auf Reaktivierung: Döbeln–Meißen, Kamenz–Hosena, Löbau–Ebersbach, Marienberg–Pockau-Lengefeld, Beucha–Brandis, Trebsen–Brandis. Für sie waren vertretbarer Reaktivierungsaufwand, mindestens 400 Reisende pro Tag und moderate Zuschüsse als größter Kostenfaktor prognostiziert worden. Kritiker hegen indes Zweifel, unterstellen fehlende Transparenz und Einbeziehung von Entscheidern vor Ort.
Drei Jahre später werden laut Verkehrsministerium in Dresden lediglich Döbeln–Meißen und Marienberg–Pockau-Lengefeld beplant. Für die mittelsächsische Verbindung soll bis zum Jahresende eine Nutzen-Kosten-Bewertung vorliegen, für die Erzgebirgsstrecke Ende 2026 – Basis für eine Bundesförderung nach Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz. Immerhin werden zwischen Nossen und Meißen seit Mitte August Schwellen ausgetauscht, um das Teilstück für Güterzüge zum Tanklager Rhäsa befahrbar zu machen.
4.500 Menschen hatten per Unterschrift für Beschleunigungsdruck gesorgt. Durch eine neue Regionalexpress-Linie könnte die Fahrzeit von Döbeln über Roßwein, Nossen, Meißen, Coswig nach Dresden auf eine Stunde verkürzt werden – wohl frühestens 2030. Für die Strecken Löbau–Ebersbach und Niedercunnersdorf–Oberoderwitz werden zu wenig Reisende prognostiziert, als dass sich die Investitionskosten rechnen. Auch seien die Zuschüsse für den Betrieb zu hoch, heißt es aus dem Ministerium. Die Herrnhuter Bahn werde deshalb nicht weiterverfolgt. Über Löbau–Ebersbach soll nach erneuter Nutzen-Kosten-Untersuchung bis Ende 2024 entschieden werden.
Polen belebt eine Strecke nach der anderen wieder
Beucha–Brandis–Trebsen ist trotz guter Parameter zurückgestellt, bis infrastrukturelle Voraussetzungen geklärt sind. Da nur eine umsteigefreie Linie bis Leipzig-Hauptbahnhof sinnvoll sei, müsste in der Stadt Leipzig ein weiteres Gleis gebaut werden. Die Wiederbelebung einer Strecke würde den Freistaat zweistellige Millionenbeträge kosten. Die Last der Verbindung Kamenz–Hosena ist er indes los. Denn deren Reaktivierung wird aus dem Topf der Kohlemilliarden für die Lausitz bezahlt.
Wie die SZ im Juli berichtete, ist das benachbarte Polen beim Thema schneller unterwegs. Seit 2007 wurden in Niederschlesien zehn stillgelegte Strecken wieder instand gesetzt. Mindestens sieben, auch die Trasse Bogatynia–Zgorzelec, sind im Bau oder in Planung – auch dank EU-Förderung, auf die das wirtschaftlich erstarkte Sachsen nicht oder weniger zugreifen kann.
„Viele Strecken wurden schlichtweg stillgelegt, weil sie nicht mehr von den Kunden genutzt wurden“, sagt Sachsens Verkehrsminister Martin Dulig (SPD). Der Freistaat sei „in einem mühsamen Prozess, den Bahnverkehr vom Abstellgleis auf die Überholspur zu bringen“. Das gehe „nicht mit einem Fingerschnipsen“, rechtfertigt er den bürokratischen Aufwand.
Dulig wünscht sich „eine realistische Debatte“. Die Investition in eine Strecke sei das eine, das andere, sie auch wirtschaftlich zu betreiben. Er hofft, dass ein sich änderndes Nutzerverhalten dazu führt, dass solche Strecken wieder betrieben werden.
Allianz pro Schiene und VDV nennen die Ergebnisse ihrer jüngsten Bestandsaufnahme „erschütternd“. In zwei Jahren seien in ganz Deutschland nur 21 Streckenkilometer wiederbelebt worden, heißt es. 2024 kämen lediglich 30 Kilometer hinzu.
Laut ihrer Vorschlagsliste warten mittlerweile 325 geprüfte Strecken mit 5.426 Kilometern Länge auf Reaktivierung. Angesichts des Schneckentempos müssten Bund und Länder mehr tun, um Initiativen vor Ort zu unterstützen, sagt VDV-Fachmann Henke. Die Menschen wollten eine Schienenanbindung, und auch für den Güterverkehr gebe es viel Potenzial. Die angestrebte Verkehrswende brauche Reaktivierungsraten von 500 bis 1.000 Kilometern pro Jahr. Aber das sei nur mit vereinfachter Planung und mehr Fördergeld zu schaffen.