Von Nora Miethke
Herr Pferdt, wie nehmen Sie im kalifornischen Silicon Valley die Innovationskraft in Ostdeutschland wahr?
Ich mache grundsätzlich keine Einschätzungen, sie führen nur zu Bewertungen. Ich schaue nicht auf das, was war, sondern auf das, was möglich ist. Für mich ist die spannendste Frage: Welche Zukunft können wir gemeinsam erfinden? In diesem Sinn schaue ich als Deutscher und amerikanischer Staatsbürger auf Deutschland als ein Land, das unglaublich viel Zukunftsgeist hat. Nicht zu verwechseln mit Zeitgeist. Zeitgeist ist der Wind – mal rau, mal sanft. Zukunftsgeist ist, wie wir unsere Segel setzen. Und das liegt in unserer Hand. Zentral in meiner Arbeit ist, dass ich Menschen helfe, ihre Vorstellungskraft wieder zu aktivieren, sich Zukunft vorstellen zu können.
Wo genau sehen Sie Zukunftsgeist hier?
Für mich ist Potenzial überall dort, wo Menschen sich trauen, neu zu denken oder auch etwas anders zu denken oder anders zu tun. Für mich besteht die Aufgabe darin, nicht zu bewerten, wie innovativ eine Region ist, sondern zu fragen, welche Zukunft wollen wir hier gemeinsam erfinden. Es geht nicht darum, zu fragen, was bringt die Zukunft, sondern welche Zukunft will ich gestalten, für mich, meine Nachbarn und Nachbarinnen, mein Land, vielleicht auch für die Welt. Da habe ich auf meiner Zukunftsgeist-Tour durch neun deutsche Städte Tausende von Menschen getroffen, die Lust haben auf Zukunft.
Woran machen Sie das fest?
Es geht um eine Art und Weise zu denken, die nicht erfordert, dass du dich änderst als Mensch, sondern, dass du wieder etwas entfachst, das schon in dir steckt. Und das ist Neugier auf Neues. In uns allen steckt Offenheit gegenüber anderen Ideen, Experimentierfreude, etwas Neues auszuprobieren, den nächsten Schritt zu gehen. Aber noch etwas anderes ist ganz wichtig, was sich im Zukunftsgeist zeigt, und das ist Empathie – sich in andere hineinzuversetzen und sich und andere immer wieder zu fragen, wie willst du dich fühlen. Diesen Zukunftsgeist will ich trainieren. Dann sind wir weg vom Geschrei nach immer mehr Geld. Ich habe noch nie in meinem Leben irgendwo gesehen, dass, wenn man mehr Geld in etwas investiert, dort auch die größte Innovation herauskommt. Das ist nicht die Formel. Wenn man aber in Menschen investiert, indem man ihre Neugier weckt, indem man ihnen hilft, zu lernen, bessere Fragen zu stellen, sie zum Experimentieren bringt, dann führt dies zu besseren und größeren Innovationen.
Den Zukunftsgeist, den Sie beschreiben, erlebe ich vielleicht in meinem Freundeskreis, aber nicht in der Gesellschaft. Da herrschen Pessimismus und Verunsicherung vor. Wie lässt sich also Zukunftsgeist trainieren?
Man darf nicht pauschalisieren, dass eine Gesellschaft passiv oder pessimistisch ist. Ich habe in Ostdeutschland viele Menschen getroffen, die optimistisch denken, die Lust auf Neues haben. In den Medien wird oft ein anderes Bild kommuniziert, ein schlechtes, niemand will etwas machen, alle sind passiv, das entspricht nicht der Wahrheit.
Und ich wehre mich dagegen, den Medien immer die Schuld zu geben, sie würden alles schlecht schreiben oder reden. Wir stellen regelmäßig neue Lösungen und Produkte vor, die dazu beitragen können, die Herausforderungen unserer Zeit zu meisten. Doch ein Teil der Leserschaft schiebt das weg…
Genau da müssen wir den Zukunftsgeist schüren. Wenn ich durch den Tag gehe und meinen Fokus nur darauf lege, das Negative aufzunehmen, zu lesen, mir anzuschauen oder zu hören, dann falle ich natürlich in Passivität. Ich kann den Fokus aber auch auf das Positive legen, auf Beispiele von Gründerinnen und Gründern, die sich etwas trauen, oder auf Nachbarn, die sich gegenseitig helfen. Das lässt sich trainieren, zum Beispiel, indem man sich abends hinsetzt und die drei Dinge aufschreibt, die einem gefallen haben am Tag, die man positiv wahrgenommen hat, für die man dankbar ist. Studien zeigen, wer das 21 Tage macht, der ändert seine Denkweise.
Und was könnten diese Dinge sein?
Das können ganz kleine Dinge sein. Ich habe ein tolles Gespräch geführt mit einem Menschen oder ich bin mal offen auf jemanden zugegangen und habe dann ein Kompliment bekommen. Oder ich bin dankbar dafür, dass ich etwas mit jemandem essen durfte und wir eine tolle Zeit verbracht haben. Ich praktiziere das mit meiner Tochter jeden Tag. So lässt sich auch die Vorstellungskraft trainieren. Wenn man morgens aufwacht und sich drei Dinge vorstellt, die man an diesem Tag gestalten, erreichen oder erleben möchte, dann ist man in einer aktiven Haltung und lässt nicht diese ganzen negativen Nachrichten, Meinungen und Bewertungen an sich ran.
Wie lässt sich so ein Denken in die Arbeitswelt übertragen? Und welche Unternehmenskultur brauchen wir dafür, die das fördert?
Bei Google durfte ich mitgestalten, wie aus einer Idee eine Kultur wird – eine Innovationskultur, in der Menschen eingeladen sind, ihre Vorstellungskraft zu nutzen, wo Ideen geteilt werden, um miteinander und nicht gegeneinander Projekte zu gestalten und Neues zu wagen.
Wie können wir eine solche radikal bessere Kultur gestalten?
Indem man zum Beispiel Zukunftsrituale etabliert. Jede Organisation hat bestimmte Werte wie Qualität, Innovation, Miteinander, Nutzerzentrierung. Wenn ich mit Institutionen wie dem DFB oder den Vereinten Nationen arbeite oder in Start-ups komme, dann werden mir diese Werte stolz präsentiert. Meine Frage ist dann immer: Wie lebt ihr denn diese Werte im Alltag, in Meetings, in E-Mails, die ihr verschickt, in eurem Produkt? Da wird es meist schnell ruhig. Und hier wird mit Ritualen angesetzt, genau diese Werte ins Leben zu holen.
Welche Rituale können das sein?
Eines der Rituale, die ich bei Google eingeführt habe, war ein Pinguinpreis. Die mutigste Mitarbeiterin wurde mit einem Pinguin ausgezeichnet. Das ist eine kleine Stofffigur, die signalisiert hat, diese Person ist ein Risiko eingegangen. Wer Pinguine in der Natur beobachtet, weiß, da gibt es immer einen mutigen Pinguin, der von der Eisscholle springt. Er hat eine 50-prozentige Chance, gefressen zu werden oder Fressen zu finden. Die restlichen Pinguine warten ab, ob dieser Pinguin noch einmal auftaucht. In Organisationen funktioniert das ähnlich. Deshalb ist das wichtig, dass Unternehmen dies wahrnehmen und zu Beginn eines Projekts signalisieren, hey, da springt jemand ins kalte Wasser und hilft uns, wieder neue Nahrung zu finden.
Und das zweite Ritual?
Das ist das Ritual des Loslassens. Wir alle finden natürlich unsere eigenen Ideen unglaublich toll und tun uns schwer damit, uns von ihnen zu trennen. Nun zeigen aber Studien, dass Unternehmen und Organisationen in den meisten Fällen an Ideen und Projekten arbeiten, die eigentlich schon gescheitert sind. Hier muss man Mitarbeitenden helfen, loszulassen. Das wollen die meisten nicht, denn sie machen diese Projekte mit Leidenschaft, fühlen sich als Experten sicher. Ihnen zu helfen, Abstand zu gewinnen und sich auf Neues einzulassen, wo man vielleicht noch Anfänger oder Anfängerin ist, dafür haben wir den Tag der Toten zelebriert. Wir haben Projekte, Business-Pläne oder Prototypen in einen Papier-Sarg gelegt und gemeinschaftlich verbrannt, um gemeinsam von Dingen Abschied zu nehmen, die nicht mehr funktionieren. Dieses Ritual hat geholfen, das mutig loszulassen – und Platz zu schaffen für neue Ideen, Perspektiven und Projekte.
Lassen sich solche Rituale auch auf ganze Regionen übertragen? Wenn Sie der Ministerpräsident von Sachsen fragen würde, welches Ritual kann ich initiieren, damit etwa die Menschen in den Kohleregionen bereit sind, loszulassen von der Kohle, um sich für Neues zu öffnen, was würden Sie ihm raten?
Veränderung beginnt immer bei uns selbst. Ich würde ihn einladen, ein eigenes Ritual des Loslassens zu leben – und damit ein Vorbild für seine Region zu werden. Man kann andere Menschen nicht ändern, nur sich selbst, indem man Experimentierfreude und Offenheit trainiert. Auch da gibt es ganz einfache Methoden.
Welche sind das?
Eine ist zum Beispiel, sich seinen eigenen Einflusskreis aufzuzeichnen. Im Inneren stehen die Dinge, die man selbst beeinflussen kann wie die eigene Meinung oder den eigenen Blick auf andere Menschen und Ideen.
Außerhalb des Kreises stehen die Dinge, die man gar nicht oder nur begrenzt beeinflussen kann wie politische Entscheidungen, Gesetze, Regularien. Schnell wird klar, womit ich den ganzen Tag meine Zeit verschwende und zwar genau mit den Dingen außerhalb meines Einflusskreises, mit Menschen und Meinungen anderer. Stattdessen sollten wir uns stärker auf das konzentrieren, was innerhalb des Einflusskreises steht.
Und dann kann jeder einmal ausprobieren, einen ganzen Tag damit zu verbringen, zu allem Ja zu sagen und sich dabei zu erwischen, wie viele Ausreden man wieder findet. Denn dieses Ja eröffnet neue Horizonte und hilft, Neues auszuprobieren. Den ersten Job hat man nur durch ein Ja bekommen, die erste Partnerin oder Partner auch. Und dieses Ja-Sagen ist etwas, das sich wieder lernen lässt.
Buchtipp: Frederik G. Pferdt, Googles erster Innovationschef, ist überzeugt: Wir müssen uns von Unsicherheit nicht lähmen lassen. In seinem Buch „Radikal Besser“, das am 27. März im Murmann Verlag erschienen ist, zeigt er, was es braucht, um die Furcht vor dem Unbekannten abzulegen und aus Angst Handlungskraft zu machen. Mit seinen Ansätzen hat er in der Vergangenheit bereits Organisationen wie der NASA, Adidas, den DFB oder die Vereinten Nationen inspiriert. Mit authentischen Geschichten, praxisnahen Übungen und überraschenden Beispielen aus der Innovationswelt. Die These des Visionärs: „Die Zukunft passiert nicht einfach – sie ist ein Ergebnis von dem, was wir heute tun.“