Kahl recken die Eichen ihre Äste in den Himmel. Ein altes, unbewohntes Fachwerkhaus aus grob beschlagenem, leicht verwittertem Holz erzählt von längst vergangenen Tagen. Mitten auf der Straße in Mühlrose steht Sten Kowalick. Sohn Johan stromert um ihn herum. Auch Großmutter Regina gesellt sich mit dem Rad dazu. Gemeinsam leben diese drei Generationen unter einem Dach. Ihr Hof, erbaut 1897, steht auf Braunkohle und wird demnächst durch den Tagebau Nochten verschluckt. 150 Millionen Tonnen „Schwarzes Gold“ sollen unter dem Teilfeld Mühlrose liegen.
Ein mechanisches Klappern weht über die Idylle auf der Dorfstraße. Rund um Sten Kowalick sammeln sich an diesem milden Vorfrühlingsabend gleich mehrere Mühlroser, darunter Ortsvorsteher Enrico Kliemann. „Das sind Kohlezüge“, kommentiert er das Donnern in der Ferne. Mit dem Tagebau sind die meisten aus dem Dorf aufgewachsen. Luftbildaufnahmen zeigen ein gigantisches, klaffendes Loch in der Landschaft, das den Ort wie ein tosendes Meer umschließt.
Auf dieser Insel gibt seit dem 14. Februar nur noch ein Thema: Die Umsiedlung einer der letzten Orte für die Braunkohle im Lausitzer Revier durch die Lausitz Energie Bergbau AG (LEAG). „Wir hatten jahrelang Unsicherheit. Jetzt ist die Entscheidung endlich gefallen“, sagt Sten Kowalick erleichtert. Er ist Jahrgang 1979. Knapp 15 Jahre vor seiner Geburt beginnt für den Tagebau im heutigen Landkreis Görlitz die Aufschlussbaggerung. Jene Vorkommen finden sich erstmals Mitte der 1950er-Jahre in einem Bericht des Braunkohlewerks „Frieden“. Der fossile Rohstoff aus der Erde Energieträger ist Nummer eins in der DDR. Er sorgt für Strom, Dampfkraft, Fernwärme, Brikett, Koks oder Teer, Öl und Gas.
Schon damals heißt es im Schreiben zu den erwartbaren Vorkommen dieser Kostbarkeit: „Zur Freimachung des Baufeldes … und die Weiterführung des Tagebaus Nochten kommen im Jahr 1964 rund 40 Familien zur Umsiedlung, im Jahre 1971 etwa 25 Familien und ungefähr um 2010 die restlichen Familien zur Umsiedlung.“ Dem Vorstoß der Bagger und Förderbrücke muss seinerzeit der erste große Teil des Dorfes, darunter der Friedhof, weichen. Die Verstorbenen werden an einen neuen Ort am Rand umgebettet. Widersprüche gegen die Teilortumsiedlung werden nicht geduldet. „Meine Frau haben sie 1963 einfach aus ihrem Haus geschmissen“, sagt Günter Zech.
Der 80-Jährige fegt mit einem riesigen Laubbesen auf dem Grünstreifen vor seinem Hof Blätter zusammen. In seinem Vorgarten steht ein Schild mit der Aufschrift: „Kein Sonderfeld Mühlrose! Keine Umsiedlung Mühlrose! Keine 2. Störung der Totenruhe auf dem Friedhof! Erhalt der Straße nach Mühlrose! Rettet unser schönes Mühlrose!“ Er stützt sich auf seinen Rechen, während er spricht, pfeift der Mann mit der Schirmmütze unbewusst eine kleine Marschmelodie. Die Querflöte hat er im Mühlroser Spielmannszug gespielt, den er 1973 mit aus der Taufe hob und dessen erster Chef er wurde.
Günter Zech ist einer, der das alte Mühlrose noch kennt. Er ist Jahrgang 1938, seine Großmutter spricht mit ihm Sorbisch. Mit einem Kuhgespann flieht seine Familie Richtung Westen im April 1945. Die Front liegt nur wenige Kilometer entfernt vom kleinen Dorf in der Lausitzer Heide. Deralte Mann zeigt Richtung Schleife. Sein Vater hat dort die Gefallenen aus dem Schützengraben gezogen und auf der Mühlroser Flur vergraben. Mühlrose heißt auf auf Sorbisch Miłoraz – Ort eines barmherzigen Herrn.
Die bekanntesten Adligen, die in den Wäldern rund um das Dorf das Sagen hatten, waren Herrmann von Pückler-Muskau (1785 – 1871) und seine Vorfahren mütterlicherseits. Gern zog sich der „grüne Fürst“ in den Urwald und den Anbau des maroden Jagdschlosses zurück, um vom höfischen Leben in Muskau durchzuatmen. Seine „Andeutungen über Landschaftsgärtnerei“ entstanden im Refugium. Selbst seine frisch angetraute Frau, Lucie von Hardenberg, soll er nach der Hochzeit 1817 erst in diese Dependance geführt haben, bevor er mit ihr im Schloss Einzug hielt. Das Pücklersche Anwesen samt großer Teile des Urwalds sind längst in der Braunkohlegrube verschwunden.
Doch es bleiben die Geschichten, die auch der ehrenamtliche Bürgermeister Waldemar Locke gern erzählt. „Mein Ur-Ur-Großvater ist noch zu Pückler gegangen, um sich über die schlechten Lebensbedingungen im Dorf zu beschweren. Manchmal muss man sagen, etwas geht nicht“, sagt der 57-Jährige. Bergarbeiter im Tagebau Nochten ist er – und zum Glück wird es ihm erspart bleiben, seinen eigenen Ort wegzubaggern.
2024 soll die Umsiedlung abgeschlossen sein. Er will mit seiner Familie und den acht Bienenvölkern als Letzter gehen. „Über 600 Jahre Geschichte verschwinden. Wichtig ist aber, dass ein großer Teil der Dorfgemeinschaft gemeinsam an den neuen selbstgewählten Standort in Schleife geht. Der Kapitän verlässt dann als Letzter das sinkende Schiff“, sagt er. Die erste Braunkohle wird voraussichtlich Anfang der 2030er Jahre gefördert.
Waldemar Locke ist nachdenkliche Stimme für diejenigen, die gehen wollen genauso wie für jene, die sich wie die alten Eichen nicht mehr so leicht verpflanzen lassen, wie Günter Zech. „Wir bleiben, bis sie uns rausschmeißen“, sagt er. Dabei purzeln die Erinnerungen aus dem alten Mann mit dem markanten Gesicht nur so heraus. Er erzählt von seiner Hochzeit 1958. Zur Trauung nach Schleife ging es über die gerade neu angelegte Straße für den Tagebau. Geld bekamen die Arbeiter, damit die Frischverliebten überhaupt durchgelassen wurden.
Auch an den Umzug der Toten 1966 denkt er und den Dreck durch die Kohleverladung mitten im Dorf. Dort kam der Rohstoff aus dem Tagebau bis 1997 an und wurde in Züge verladen, um ihn dann an die Kraftwerksstandorte zu verteilen. „Das ist doch Vergangenheit“, sagt Günter Zech und kratzt weiter sein Laub zusammen. „Heute sind wir doch ein schönes, sauberes Dorf.“ Er grüßt eine Vorbeifahrende, eine, die wegwolle. Noch einmal klingt pfeifend ein kurzer Marsch an. Mühlrose ist zu klein, um sich aus dem Weg zu gehen.
Dieses Mühlrose umschließen bereits an drei Seiten die Abbruchkanten des Tagebaus, lediglich eine Straße führt noch in den Ort. „Früher sind wir zum Tanz auf die Dörfer rund um Mühlrose gefahren. Weder die Straßen, noch die Orte gibt es noch“, erinnern sich ein paar ältere Damen in der Abendrunde rund um Sten Kowalick. Sie erzählen vom Blaubeersammeln im „Urwald“, vom Picknick am einstigen Jagdschloss, von Kinderwagen und Wäsche voller Kohlenruß. In Reinhild Martins Gasthaus „Zur Erholung“ wurde 1954 verkündet, dass die Kohle kommt, 1973 wurde auf die erste abgebaggerte Kohle angestoßen. Am 14. Februar 2019 hat die LEAG in ihrem Saal die weitere Kohleförderung in Mühlrose angekündigt – unter Jubel.
Es war ein erleichternder Beifall vieler über das Ende der Ungewissheit, sagen Dabeigewesenen. „Es wird sicher Tage geben, an denen wir traurig sind, aber die Erinnerungen kann uns keiner nehmen“, sagt Ingrid Kowalick. Dabei haben die Mühlroser bereits in der Vergangenheit gedanklich mehrfach ihre Koffer gepackt. Nach den ursprünglichen Abbaggerungsplänen in der DDR heißt es nach der Wende, als Tausende Arbeitsplätze in der Braunkohle wegfallen: Das Dorf darf bleiben. Es entstehen einige neue Häuser. Anfang der 2000er-Jahre folgt eine Retour. Der Eigentümer des Tagebaus will nun aus dem Sonderfeld „Mühlrose“ Braunkohle holen. Bei einer Befragung 2004 stimmen 84 Prozent der Bürger für den Abschied vom Dorf in gut zehn Jahren. Doch es kommt anders.
Unter den Verträgen zur Umsiedlung fehlen nur noch Unterschriften, als der schwedische Vattenfall-Konzern seine Braunkohlesparte 2016 verkauft. Auf solchen wackligen Schollen lässt sich keine Zukunft aufbauen. Besonders die jungen Leute gehen. „Von meinen sechs Mitschülern aus Mühlrose bin ich der Einzige, der noch da ist“, sagt Sten Kowalick.
Er hat eine ganz klassische Lausitzer Biografie. Nach der Schule macht er eine Ausbildung als Energieelektriker im Tagebau. Der Einstellungsstopp in seinem Ausbildungsbetrieb führt ihn im Jahr 2000 nach Dresden in die Computerchipproduktion. Fünf Jahre später kehrt zurück. Seinen Arbeitsplatz findet er in einer Forschungsanlage in Schwarze Pumpe, wo hochreines Silizium für die Solarindustrie hergestellt wird.
Auf dem elterlichen Hof baut der Mühlroser für seine Familie ein Nest, seine Schwester wohnt gleich nebenan. „Wir wollten, dass unsere Kinder auf dem Dorf groß werden“, sagt er und schaut Johan hinterher. Der Dreijährige wird das alte Mühlrose später nur noch aus Erzählungen kennen. Einen Dreigenerationenhof, um weiter mit den Eltern unter einem Dach zu wohnen, plant Sten Kowalick auch für den neuen Standort in Schleife. Ein Entwurf des Baugebiets von Neu-Mühlrose hängt bereits im Dorfgemeinschaftshaus. Er zeigt knapp 40 Grundstücksplätze, nur einige der 200 Einwohner werden woanders bauen. Mitgenommen werden zudem Glockenturm und Kriegerdenkmal.
Eingezeichnet sind im Bauplan ein kleines Freibad, ein Sportplatz und ein Dorfgemeinschaftshaus, die kommunalen Einrichtungen, die es auch bis jetzt gibt. Ein zweites Mal werden indes die Toten auf Reisen gehen und ihren Platz auf einem separaten Teil des Schleifer Friedhofs finden. Eine Grabstelle indes hat Mühlrose bereits: im Archiv verschwundener Orte in der Lausitz mit der Nummer 138. Der Energiekonzern begründet seine Entscheidung für das Teilfeld Mühlrose mit dem Bedarf des Kraftwerks Boxberg – auch beim Kohleausstieg Ende 2038.
Die Abendrunde zerstreut sich. Ihren Sorgen und Fragen wird sich in den kommenden Monaten Martin Klausch vom LEAG-Umsiedlungsmanagement annehmen. „Jede Umsiedlung ist individuell. Wichtig ist, miteinander zu reden und zu zuhören. Dabei sind wir mit allen Mühlrosern im Gespräch“, sagt er. Noch diesen Monat sollen alle die Umsiedlungsverträge unterschreiben. Genaue Schritte, zum Beispiel wie schnell der Umzug erfolgen kann, werden am 11. März bei einer Bürgerversammlung in der Gaststätte „Zur Erholung“ erläutert. Mitte 2020 rechnet Klausch, könnten die ersten anfangen, ihr neues Grundstück zu bebauen.
Rauch steigt aus dem Schornstein eines Hauses auf. Es riecht nach Kohle. „Wenn die Umzugswagen kommen, wird’s uns nochmals komisch werden“, sagt eine ältere Frau und schließt das Tor zu ihrem Hof. Als Letzte an diesem Abend geht Reinhild Martin in ihr Gasthaus. Ihr Großvater Mattheus Marusch eröffnete es 1925 als kriegsverletzter Glasmacher. Im neuen Mühlrose werden die Wirtin und ihr Mann nur noch ein Haus bauen. „Vielleicht feiern wir zum Abschied ein zünftiges Sommerfest“, sagt die 67-Jährige. Irgendwo donnert der Kohlezug. Wie zum Trotz recken die Eichen ihre Äste weit in den Himmel. Dieser Frühling bringt noch einmal frische Knospen.
Von Miriam Schönbach
Foto: © Thomas Kretschel