Stefan Winter
VW hat zu Wochenbeginn die größten Streiks seit Jahrzehnten erlebt, und mit einer Betriebsversammlung am Mittwoch in Wolfsburg steht die nächste Machtdemonstration der Belegschaft bevor. Kurz sah es nach einer Annäherung aus, nachdem die IG Metall ein eigenes Konzept zur Kostensenkung vorgelegt hatte. Doch das Management hat nachgerechnet und kommt zu dem Schluss: Das reicht bei Weitem nicht, Entlassungen und die Schließung von Werken bleiben auf der Agenda. Trotzdem will man möglichst bis Weihnachten ein Paket schnüren. Fünf Hürden sind zu überwinden – mindestens.
Tarif
Immer noch liegen beide Seiten weit auseinander. Die IG Metall hat sich von der Forderung nach 7 Prozent mehr Geld verabschiedet und ist inzwischen bereit, den mehr als 100.000 Beschäftigten im Haustarif der Volkswagen AG faktisch eine Nullrunde zuzumuten. Es soll zwar eine Tariferhöhung geben, dieses Geld will die Gewerkschaft aber vorübergehend in einen Fonds einzahlen lassen, um daraus Lohnausgleich bei einer eventuell nötigen Arbeitszeitverkürzung zu zahlen. Außerdem würde man die Jahresprämie einbringen.

Quelle: Jennifer Kramer/dpa
Das klingt nach einem typischen VW-Modell, bringt aber nach Rechnung des Unternehmens kaum Kostenentlastung. Dagegen steht die „Giftliste“ des Markenvorstands unter Führung von Thomas Schäfer. Unter anderem sieht sie die Kürzung der Einkommen um 10 Prozent vor, die Streichung einer monatlichen Zulage und der Jubiläumsprämien sowie Auslagerung von Arbeiten und notfalls Standortschließungen. Am Montag, 9. Dezember, sitzen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite zum vierten Mal zusammen, um über den Haustarif zu verhandeln. Intern wird damit gerechnet, dass VW dann mit einem eigenen Angebot auf das Konzept der IG Metall reagieren wird.
Standorte
Die Stückzahlen, für die VW seine deutschen Werke ausgerüstet hat, wird es in Zukunft nicht mehr geben – darin sind sich Unternehmensführung und Betriebsrat einig. Der Vorstand denkt deshalb über die Schließung ganzer Werke nach. Dagegen sucht der Betriebsrat Wege, Fabriken auch mit kleinerer Stückzahl rentabel zu betreiben. Deshalb laufen parallel zur Tarifrunde Verhandlungen über Kosten, Strukturen und Standorte. Dazu gehört auch die sogenannte Planungsrunde, in der jedes Jahr die Investitionen für die nächsten fünf Jahre auf Projekte verteilt werden – insgesamt mehr als 100 Milliarden Euro.
Deutsche VW-Standorte
Standorte des Volkswagen-Konzerns mit Funktion und Beschäftigtenzahl

Offiziell haben diese Themen in der Tarifrunde nichts zu suchen. Aber in der Praxis hängt alles mit allem zusammen: Ein Werk bekommt nur dann den Zuschlag für den Bau eines bestimmten Automodells, wenn die Kosten wettbewerbsfähig sind. Umgekehrt wird die Gewerkschaft nur dann Zugeständnisse bei den Löhnen machen, wenn künftige Modelle garantiert in deutschen Werken gebaut werden. So geht das eine nicht ohne das andere.
Aktionäre
Lange befasste sich Betriebsratschefin Daniela Cavallo in ihrer Streikrede am Montag mit den Dividenden für die Aktionärinnen und Aktionäre. Sie rechnete vor, dass allein die Gewinnbeteiligung der Porsches und Piëchs seit 2014 rund 100.000 Jahren Facharbeiterlohn entsprochen habe – oder einem lebenslangen wöchentlichen Lottogewinn.
Aber diese Summe – also ein Menschenleben lang jede Woche aufs neue Lottomillionär werden –, das ist die Summe, die unsere Großaktionäre Porsche und Piëch allein seit 2014 an Dividende erhalten haben.
Daniela Cavallo,, Vorsitzende des VW-Konzernbetriebsrats
Den beiden Familienstämmen gehören 53 Prozent der stimmberechtigten VW-Stammaktien. Weitere Großaktionäre sind das Land Niedersachsen mit 20 Prozent und das Emirat Katar mit 17 Prozent. Daneben gibt es noch Millionen kleinere Teilhaber, vor allem mit stimmrechtslosen Vorzugsaktien. Cavallo legte sich auf keine konkrete Forderung fest, erwartet aber Verzicht und lobte den niedersächsischen Ministerpräsidenten Stephan Weil, der als Vertreter des zweitgrößten Aktionärs gesagt hatte: „Die Dividende hat für das Land Niedersachsen nicht die oberste Priorität.“
Doch bei der Dividende entscheidet der VW-Betriebsrat ausnahmsweise nicht mit: Sie wird vom Vorstand vorgeschlagen und von der Hauptversammlung der Aktionäre beschlossen – oder eben nicht. Finanzchef Arno Antlitz hat die Aktionäre bereits auf Einbußen eingestellt, weil auch der Gewinn sinken wird. Ob das aus Sicht der Belegschaft reicht, wird sich zeigen. Einen kompletten Dividendenausfall würden schon die Großaktionäre sicher verhindern.
Management
Die Forderung klingt selbstverständlich, hat erfahrungsgemäß aber Sprengkraft: Die Führungskräfte der Volkswagen AG sollen für dieses Jahr auf Boni verzichten, fordern IG Metall und Betriebsrat. Die verschiedenen Leitungsebenen umfassen allein in der Marke VW einige Tausend Personen, und es geht pro Kopf um sechsstellige, an der Spitze auch siebenstellige Summen.
Trotz der schwierigen Lage hat das Management in der Regel Anspruch auf Erfolgsprämien. Deren Details sind jedoch in individuellen Verträgen geregelt – müssten also genau genommen auch individuell einvernehmlich geändert werden. Bei früheren Gelegenheiten zeigten sich viele Führungskräfte in solchen Fällen sperrig. Im Management heißt es deshalb bereits, die IG Metall fordere Dinge, die juristisch gar nicht möglich seien.
Auch die Boni sind kein Thema der Mitbestimmung und haben in Tarifverhandlungen formal nichts zu suchen. Es dürfte aber ähnlich wie bei den Dividenden gelten: Ohne Opfer in den oberen Etagen wird es auch an der Basis keine geben.
Personen
Verhandlungen über den VW-Haustarif zu führen, ist kein dankbarer Job, denn die größeren Mächte agieren im Hintergrund. Die Arbeitgeberdelegation wird angeführt von Arne Meiswinkel, Personalvorstand der Marke VW Pkw. Es fehlt aber nicht an Ratschlägen von Vorgesetzten. So pocht Markenchef Thomas Schäfer auf Kostensenkungen. Sollte Schäfer schwächeln, steht Konzern-Finanzvorstand Arno Antlitz bereit. Beide Manager sind inzwischen die Buhmänner der Belegschaft. Vergleichsweise beliebt sind dagegen immer noch Konzern-Personalvorstand Gunnar Kilian und Konzernchef Oliver Blume. Beide halten sich bisher bedeckt – und für Vermittlungsaktionen in der Schlussphase bereit.
Auch die Arbeitnehmerseite spielt mit verteilten Rollen, hat aber weniger Personal. Tarifpartei ist nicht der Betriebsrat, sondern die Gewerkschaft, und so steht an der Spitze der Delegation ein Mann, der nie bei VW gearbeitet hat: Thorsten Gröger ist Bezirksleiter der IG Metall in Niedersachsen und Sachsen-Anhalt. Das letzte Wort dürfte allerdings die Frau neben ihm haben. Betriebsratschefin Daniela Cavallo ist im Konzern bestens vernetzt und im Gegensatz zu Gröger auch in allen innerbetrieblichen Runden vertreten. Mindestens Ratgeberin im Hintergrund ist hier die IG-Metall-Vorsitzende Christiane Benner, die im nächsten Jahr auch in den VW-Aufsichtsrat einziehen soll.
Zwischen den Fronten braucht Stephan Weil sein ganzes diplomatisches Geschick. Als niedersächsischer Ministerpräsident vertritt er den zweitgrößten VW-Aktionär im Aufsichtsrat, aber als SPD-Politiker ist er der Arbeitnehmerseite nah. Es müssen also viele Interessen zusammengebracht und manche Machtspiele in den verschiedenen Lagern ausgefochten werden.

Quelle: Boris Baschin
Für mindestens zwei Beteiligte geht es dabei wohl auch um den Job. Kann Cavallo Entlassungen nicht verhindern, steht es um ihre Wiederwahl im Frühjahr 2026 schlecht. Schon ein Kompromiss mit seinen Härten dürfte sie Rückhalt in der Belegschaft kosten. Bei den Streiks am Montag wurde auf Transparenten teilweise noch die 7‑Prozent-Erhöhung gefordert.
Für Markenchef Schäfer ist die Sache noch komplizierter – aber auch einfacher. Die unangenehme Wahl für den Topmanager: Erreicht er nicht seine Kostenziele, ist er als Manager erledigt. Setzt er sie hart durch, erwartet ihn bei späteren Gelegenheiten die Rache des Betriebsrats. Das Dilemma lässt sich allerdings gut aushalten, denn sein neuer Fünfjahresvertrag mit Laufzeit ab Mitte 2025 ist bereits unterschrieben. Und VW ging es noch nie so schlecht, dass Verträge für rausgeschmissene Vorstände nicht ausgezahlt worden wären.