Von Stephan Schön
Dresden. Es ist wieder mal Bahn-Zeit. Sechs Stunden von Dresden nach Mainz mit dem Zug. „Genug Zeit zum Spielen am Computer“, sagt Claudia Felser. Sie ist mit der Bahn unterwegs zu ihrer Tochter, fast jedes Wochenende. Claudia Felser ist Professorin und Direktorin im Dresdner Max-Planck-Institut für Chemische Physik fester Stoffe (CPfS). Was sie „spielen“ nennt, ist ein Spiel mit der KI und eigentlich harte wissenschaftliche Arbeit. ChatGPT wird dann von ihr mit immer schwierigeren Fragen traktiert. „Die KI macht die Arbeit so viel leichter“, sagt die Wissenschaftlerin. „Ich könnte nie so viele Publikationen lesen. So aber verschaffe ich mir einen Überblick.“ Dabei entstehen jene Ideen, die nicht mehr ganz Chemie sind, aber auch noch nicht Physik. Von beidem etwas. „In den Grenzbereichen der Wissenschaften passieren schließlich die spannendsten Dinge.“ Und ihre Mitarbeiter im Institut ahnen dann schon, nach der Zugfahrt kommt wieder mal was Neues auf sie zu. Claudia Felser hat die Topologie der Quantenchemie führend mit erdacht und ins Experiment gebracht. Völlig neue Materialien werden dort im Labor erfunden. Dafür bekam sie in Paris einen der weltweit wichtigsten Forschungspreise, den L’Oréal-Unesco-Preis für Frauen in der Wissenschaft.
Dreieinhalb Minuten Redezeit
Aus fünf Regionen der Welt bekommen jedes Jahr fünf Frauen diesen Preis. Für Europa ist es in diesem Jahr Claudia Felser. Dafür kann man sich nicht selbst bewerben. 466 Nominierte habe es in diesem Jahr gegeben, teilt die Unesco mit. In den fast 30 Jahren, seitdem es diesen renommierten Preis gibt, ist Claudia Felser erst die dritte deutsche Forscherin. Sie rückt damit näher an den Nobelpreis heran und wird durchaus als mögliche Kandidatin gesehen. Sieben der bisher von der Unesco ausgezeichneten Frauen haben schließlich später auch den Nobelpreis bekommen. Exakt dreieinhalb Minuten beträgt die Redezeit, um das eigene Fachgebiet in Paris einem Publikum zu erklären, von dem es vermutlich zuvor noch nie etwas gehört hat. Was war das doch gleich: Topologische Quantenmaterialien? Neue Stoffe werden da erschaffen, mit uns heute noch unbekannten Eigenschaften und Funktionen. Die Dreieinhalb-Minuten-Rede hatte Claudia Felser schon geschrieben und beim Preiskomitee eingereicht. Da durfte sie noch mal von vorn beginnen, wie sie berichtet. Sie hatte ihre Rede auf Englisch verfasst. „Das muss auf Deutsch sein. Und das war richtig schwer.“ Viele Fachausdrücke gibt es nun mal gar nicht auf Deutsch. Da muss es halt ohne gehen. Vielleicht ja so, wie sie im Gespräch ihr topologisch-exotisches Fachgebiet erklärt, das sich an der Grenze von Chemie, Physik und Mathematik befindet: „Stellen Sie sich vor, die Elektronen im Atom wären Autos“, sagt sie. Normalerweise bewegen sich diese Elektronen wie Autos in einer Stadt mit Staus. Sie navigieren durch Verkehr und mit Hindernissen. „Aber in topologischen Quantenmaterialien verhalten sich diese Elektronen wie auf einer Hochgeschwindigkeitsautobahn. Es ist sogar so, als ob sie sich teleportieren könnten oder auch mehrere Routen gleichzeitig nehmen.“
Ihr Team macht Grundlagenforschung. Die konkreten Anwendungen solcher Supermaterialien sind aber dennoch schon absehbar. Ohne die wird der grüne Umbau der Industrie, die Bewältigung der Klimakrise und ein energiesparendes Rechnen auf neuen, superschnellen Computern nicht gelingen, da ist sich die Wissenschaftlerin sicher. Es sind Materialien, die sich dann nicht mehr den Metallen, Keramiken oder Kunststoffen zuordnen lassen. Es wird irgendetwas von jedem dabei sein, zumindest was die Eigenschaften betrifft.
„Unser Ziel für die Zukunft ist es, die Materialwissenschaft neu zu definieren.“ So wurden bereits Stoffe gefunden, die zugleich supraleitend, aber auch isolierend sind. Und erst im März konnte sie mit ihrem Team im Top-Wissenschaftsmagazin PNAS einen Katalysator für die Brennstoffzellen vorstellen, der die Effizienz dieser Technologie erheblich steigert. Eine mehr als 100-mal höhere Stromdichte wird damit erreicht. Oder in einem anderen Fall wird aus Abwärme Elektrizität gewonnen. Neue pharmazeutische Produkte sollen folgen. „Im Moment konzentriert sich unsere Forschung vor allem auf die topologische Katalyse, um hocheffiziente Katalysatoren zu entwickeln.“
Aus dem Abfallprodukt wird neuer Treibstoff
Noch krasser wird eine noch bevorstehende Veröffentlichung, die zumindest schon mal als Patent angemeldet ist, wie vieles andere übrigens auch. Es geht um CO₂ in den Abgasen von Industrie, Fahrzeugen und in der Atmosphäre. „Diese Materialien haben das Potenzial, die CO₂-Reduktion zu revolutionieren, bei der dann Kohlendioxid in wertvolle Chemikalien oder Kraftstoffe umgewandelt wird.“ Topologische Katalyse macht letztlich etwas, was wie ein Märchen klingt: Stroh zu Gold. Aus dem Abfallprodukt wird die neue Ressource. Gelingt dieser CO₂-Coup schließlich im großen Stil, wäre eines der größten Klimaprobleme gelöst und Claudia Felser dem Nobelpreis noch ein Stück näher. Dabei hatte es für sie damals gar nicht so gut angefangen. Nach zwei Studienjahren Pädagogik merkte sie noch rechtzeitig, das sei nicht ihr Ding. Sie wechselte zur Chemie und war zugleich auch in der Physik zu finden. Genau das, was sie jetzt auch macht. Ihre Tochter kam während der Promotion zur Welt. Später folgte die Trennung vom Partner und es gelang trotz allem die erste aussichtsreiche Bewerbung auf eine Professur. Allerdings mit der Absage: Als alleinerziehende Mutter sei sie für diese Stelle nicht geeignet. Ein Jahr später wollte diese Uni sie dann doch, da war sie bereits weg und woanders.
„Die Wissenschaft lebt von vielfältigen Perspektiven, und wir können es uns einfach nicht leisten, talentierte Frauen aufgrund veralteter Strukturen oder mangelnder Unterstützung zu verlieren“, sagt die Wissenschaftlerin. Auch heute noch gelte es, geschlechtsspezifische Vorurteile zu beseitigen und dafür zu sorgen, „dass Frauen ihre Karriere stabil planen können. Insbesondere, um Familie und Beruf miteinander zu vereinbaren.“ Sie selbst hat es bis ganz an die Spitze geschafft. Ist Vizepräsidentin der Max-Planck-Gesellschaft und hat das soeben nochmals verlängerte Excellenzcluster Ct.qmat für neue Quantenmaterie in Dresden und Würzburg mitgegründet.
Mit der richtigen Unterstützung klappt es
Als größte Herausforderungen in ihrer Karriere sieht Claudia Felser heute die Schwangerschaft während ihrer Promotion. 1989 war in Westdeutschland halt immer noch die Erwartung, als Mutter eine Hausfrau zu sein. Und trotzdem: „Rückblickend glaube ich, dass die Promotionsphase ein idealer Zeitpunkt ist, um eine Familie zu gründen. Meine eigene Tochter, die jetzt selbst promoviert und Mutter von zwei Kindern ist, ist der Beweis dafür.“
Sagt sie und setzt hinzu: „Mit der richtigen Unterstützung.“ Die kommt garantiert, an den Wochenenden mit der Bahn nach Mainz. Oma und Opa. Claudia Felser und ihr Mann. Der kommt von Halle dazu. Dort, wo er ebenfalls Direktor an einem Max-Planck-Institut ist. An den Wochenenden treffen sich beide selten in Dresden und Halle, aber oft bei der Lufthansa, oder auf irgendeiner Tagung in der Welt. Dort, wo ihre gemeinsame Geschichte begann.