Görlitz. Sie wollen Zerspanungsmechaniker werden oder studieren Maschinenbau in Zittau und erlernen zugleich den Beruf eines Industriemechanikers – duales Studium heißt das. Die acht jungen Herren haben sich T-Shirts von Siemens übergeworfen. Sie reden miteinander auf dem Görlitzer Marienplatz an diesem Dienstagmittag, trinken etwas und essen eine Bratwurst. Ein bisschen feiern wollen sie. Nach der Ankündigung von Siemens, das Görlitzer Werk zur Zentrale des Industriedampfturbinenbaus auszubauen, finden sie ihre Zukunft geklärt. „Wir sind zufrieden“, sagen sie, „und finden es auch richtig, dass gefeiert wird“.
Ministerpräsident Michael Kretschmer nahm sich Zeit für die Zuhörer in der Görlitzer Innenstadt.
Bei Marion Wießmann am Eisfahrrad auf dem Marienplatz bekamen Kinder die ersten 600 Kugeln kostenlos.
Doch es sind viel weniger auf den Marienplatz gekommen, als die IG Metall erwartet hat. „Görlitz bleibt“, so haben die Gewerkschafter das kleine Stadtfest auf dem Platz genannt. Doch vielen ist gar nicht zum Feiern zumute. Das Siemens-Werk bleibt zwar vorerst bestehen, doch hat Konzernchef Joe Kaeser auch deutlich gemacht, dass mindestens eine schwarze Null erwirtschaftet werden muss. Während die Siemensianer aber die Chance haben, den Weltmarkt zu erobern, sieht es im Görlitzer Waggonbau ganz anders aus. Das einst stolze Werk wird zum Zulieferer von Bautzen heruntergestuft, ganze Wagen oder Züge sollen in Görlitz nicht mehr entstehen. Hunderte Industriearbeitsplätze sind schon verlorengegangen. Da ist es verständlich, dass die Feierlaune unter den Mitarbeitern nicht weit verbreitet ist. Wenn sich Arbeiter zeigen, dann haben sie meist die Siemens-Jacke des Turbinenbaus übergeworfen.
Dem Görlitzer Oberbürgermeister ist ebenso nicht zum Feiern zumute. Zwar lässt er sich am Mittag auf dem Marienplatz blicken, doch fröhliche Reden schwingen will er nicht. Die Presse hatte er schon am Morgen zu sich ins Büro gebeten, um noch mal seine Sicht auf die Dinge kundzutun. Für Siemens hat er viel Anerkennung und Dank übrig. Anerkennung dafür, mit welcher Fähigkeit und Selbstbewusstsein hier gerungen wurde. Die Auseinandersetzungen um die Standorte seien bis auf die höchste Ebene getragen worden, der OB selbst hatte an die Kanzlerin geschrieben. Danach kam Siemens-Boss Joe Kaeser mit ihr ins Gespräch und besuchte Deinege in Görlitz. Auch Ministerpräsident Michael Kretschmer hielt auf Vermittlung Merkels direkten Kontakt mit Kaeser. Kretschmer ist an diesem Dienstag nach Görlitz gekommen, wohlwissend um die schwankende Stimmungslage. „Wir sind nicht am Ende“, sagt er deshalb, „sondern wir haben einen Etappensieg erreicht.“ Während er bei Siemens gute Ansätze sieht, um als Marktführer auch dauerhaft Industriedampfturbinen anzubieten, fordert er die Bombardier-Spitze auf, endlich zu klären, wohin die Reise gehen soll. Der Freistaat wolle helfen, aber es brauche neben motivierten Mitarbeitern eben auch die Betriebsführung, die „was erreichen will“. Deinege sieht die Entwicklung beim Waggonbau, den er selbst lange Zeit leitete, mit Bitterkeit und Wut. „Wir sehen gerade zu, wie hier alles zerstört wird“, sagte er. „Und deswegen kann ich nicht feiern.“ Die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat in Berlin würden einen Beschluss nach dem anderen mittragen. Er selbst hat unzählige Gespräche geführt, so viele, dass er sie gar nicht mehr zählen könne. Nichts hat gefruchtet, Schritt für Schritt werde der Görlitzer Standort niedergemacht. Von „kontrolliertem Ausbeuten“ spricht der OB, vom „Ausverkauf der Leute“.
DGB-Chef Reiner Hoffmann machte in Görlitz Station auf seiner Sommer-Tournee.
DGB-Chef Reiner Hoffmann zeigt Verständnis dafür, zugleich findet er es aber richtig, dass die IG Metall der Stadtgesellschaft Danke sagen will für die große Solidarität mit den Arbeitnehmern bei Siemens und Bombardier. Nur diese Solidarität, so ist er überzeugt, habe Siemens dazu gebracht, das Görlitzer Werk doch zu erhalten. Für beide Betriebe sieht Hoffmann eigentlich große Chancen: Züge seien wichtig für die nötige Verkehrswende, die wieder mehr Güter und Personen auf die Schiene bringen soll. Und Industriedampfturbinen wiederum hätten auch bei der künftigen Energieerzeugung eine wichtige Aufgabe. Hoffmann ermuntert jedenfalls die Region, an ihren Industrietraditionen festzuhalten. „Wenn wir eine Lehre aus dem Kampf um die beiden Unternehmen ziehen müssen“, so sagt er gegenüber der SZ, „dann doch, dass wir in Deutschland die industrielle Wertschöpfung erhalten müssen.“ Sprach es und besuchte den Turbinen- und den Waggonbau.
von Sebastian Beutler und Daniela Pfeiffer
Bildquelle: Nikolai Schmidt