Beim Einlass gibt es für jeden Teilnehmer einen Zollstock, auch Gliedermaßstab genannt – und beim Parlamentarischen Abend von Sachsens Handwerk ausdrücklich Schmiege. Manch Abgeordneter des Landtags hatte das Teil gleich in die linke Innentasche seines Jackets gesteckt. Das Handwerk als Herzensangelegenheit?
Roland Ermer, Präsident des Handwerkstags, macht auf das Kleingedruckte am Rand aufmerksam, und die voreiligen Einpacker nesteln am Revers. Dieses Andenken hat es nicht in aber auf sich: „Oberschulen stärken, Berufsschulzentren zukunftsfest aufstellen, Attraktivität der dualen Berufsausbildung erhöhen“, steht dort Weiß auf Blau, der Farbe der Treue. Dahinter Ausrufezeichen. Und davor: „Daran werden wir die Landespolitik messen“, was sich schon fast wie eine Drohung liest. Auch für Sachsens Ministerpräsidenten und fünf seiner Minister: für Wirtschaft, Kultus, Umwelt, Wissenschaft und die Staatskanzlei. Beim 17. Mal, da Handwerk Mundwerk trifft, ist das halbe Kabinett anwesend – Ehrerbietung vor 56 000 Betrieben in Sachsen mit 320 000 Beschäftigten. Nie zuvor hat es das gegeben, dafür Jahre, in denen höchstens Staatssekretäre da waren. Die Landtagswahl 2019 macht’s möglich. Oder die Fraktionssitzung der CDU, ihre Abgeordneten waren ohnehin im Haus.
Lauter Ruf nach Bildungsticket
Doch der Dienstagabend ist mehr als eine Pflichtübung mit anschließendem Buffet. Die selbst ernannte Wirtschaftsmacht von nebenan wird Forderungen los: nach besserer Ausstattung der Ober- und Berufsschulen, mehr qualifizierten Lehrern, schnellem Internet auf dem Land, Aufwertung des Meisterbonus’ durch einen Zuschuss für Jungunternehmer. Sachsens Oberhandwerker Roland Ermer sieht auch gute Ansätze: Praxisberater an Oberschulen für passgenaue Berufswahl, die Hilfe für abschlussgefährdete Jugendliche, den Doppelabschluss durch ein Berufsabitur – und dass Gymnasien nicht mehr nur für die Uni, sondern auch für die Lehre werben.
Ermer, Präsident jener Dachorganisation der Kammern und Verbände, bringt auch Bedenken vor, etwa vor zu vielen Quereinsteigern in der Lehrerschaft. Und das Oberhaupt der größten ostdeutschen Handwerksorganisation ist „enttäuscht, dass es bei der zentralen Berufsschulnetzplanung offenbar nichts Konkretes zu vermelden gibt“. Er ruft nach einer „Zeitschiene mit Zielmarke“ und schlägt einen „Zukunftspakt berufliche Bildung“ vor.
Premier Michael Kretschmer (CDU) ist „dankbar für die Idee. Auch die Minister für Wirtschaft und Kultus haben eifrig genickt“, sagt er. Er wolle „jedes Potenzial heben“. Die Schulsozialarbeit ab dem nächsten Schuljahr an jeder Oberschule habe eine große Bedeutung. Die zu investierenden 1,7 Milliarden Euro würden den ländlichen Raum und die Oberschulen stärken.
Kretschmer ist „zurückhaltend“ bei der Forderung nach längerem gemeinsamem Lernen wie zu DDR-Zeiten. Der Vergleich hinke, sagt er. Damals seien nur elf Prozent der Schüler zur EOS gegangen – „für eine Wissensgesellschaft eindeutig zu wenig“. Jedoch seien die 60 Prozent Gymnasiasten von heute zu viel. Der Diskurs laufe und er sei offen für Argumente, so Kretschmer.
Bei allem Streit um die Gemeinschaftsschule eint die Statements aller Fraktionen eine Vokabel: Bildungsticket. Das soll noch in dieser Legislatur, also bis Herbst 2019, kommen: verkehrsverbundübergreifend und bezahlbar. Der Ministerpräsident ist „beeindruckt, Abgeordnete zu sehen, die in anderthalb Minuten so viele kluge Dinge sagen“. Um die Attraktivität einer Lehre zu erhöhen, sieht er auch die Handwerksbetriebe in der Pflicht – von der Ausbildungsvergütung bis zur Digitalisierung. Er appelliert an alle im vollen Plenarsaal, mit- statt abzutun, „dass alles nur noch Mist ist“.
Dann geht’s zur Diskussion am Buffet. Die hätte sich mancher im Plenum gewünscht. Die Abgeordneten nehmen den Zollstock mit und die Erkenntnis: Bildung ist das Maß aller Dinge. Das wird ihnen nun bei Untergrundarbeit im heimischen Keller vor Augen geführt. Aber: Wählerstimmen werden nicht mit der Schmiege gemessen.
Von Michael Rothe
Bildquelle: Wolfgang Schmidt