Marco Paetzel
Hennigsdorf. Klaus Höckel (68) ist Vorsitzender des Hennigsdorfer Stahlwerker-Traditionsvereins. Zu DDR-Zeiten war der Hennigsdorfer Chef des Elektrostahlwerks 2 und stellvertretender Produktionsdirektor sowie ab 1990 Hauptabteilungsleiter Controlling/Finanzen in der Hennigsdorfer Stahl GmbH. Bis zum Ruhestand 2021 war er bei der Osthavelländischen Trinkwasserversorgung und Abwasserbehandlung GmbH (OWA) beschäftigt. In einem Interview mit der Märkischen Allgemeinen Zeitung (MAZ) hat er jetzt über den Teileinsturz der Dresdner Carolabrücke gesprochen.
Herr Höckel, in den frühen Morgenstunden des 11. September 2024 stürzte die Carolabrücke in Dresden ein. Was war Ihr erster Gedanke, als Sie das hörten?
Erstmal war ich froh, dass kein Mensch zu Schaden gekommen ist. Dann habe ich mich aber gleich gefragt, ob Hennigsdorfer Stahl eine Rolle bei dem Einsturz gespielt haben könnte. Die Hennigsdorfer Havelbrücke muss ja genau wegen dieses Problems jetzt durch einen Neubau ersetzt werden.
Die sächsische Landesregierung erklärte tatsächlich, dass der in den 1960er- bis 1980er-Jahren verbaute Hennigsdorfer Spannstahl eine wesentliche Schadensursache für den Einsturz gewesen sein könnte. Im öffentlichen Diskurs hatte da oft besagter DDR-Stahl den Schwarzen Peter. Was macht das mit einem stolzen Stahlwerker, der die Geschichte des Werkes im Traditionsverein bewahren will?
Für mich war das schon ein emotionaler Moment, wenn man liest, dass der Stahl, an dessen Produktion man ja beteiligt war, mitverantwortlich sein soll für den teilweisen Einsturz einer Brücke. Viele ehemalige Kollegen aus dem Stahlwerk haben unseren Traditionsverein anschließend kontaktiert und waren ebenfalls betroffen. Aber auch sie waren sich in einem Punkt einig: Es kann nicht am Stahl selbst gelegen haben.
Carolabrücke Dresden: „Fehler lag im Umgang mit dem Material“
Wenn es nicht das Material war, wo könnte der Grund sonst gelegen haben?
Der Grund ist im Umgang mit dem Material zu suchen. Schon 2011 schrieb das Bundesverkehrsministerium, dass die positiven Eigenschaften des Spannstahls, der ja den Beton in einer Brücke zusammenhalten soll, durch Mängel aufgehoben werden können. Fehler können an vielen Stellen auftreten – von der Planung über die Ausführung bis zur Konstruktion der Brücke.
Der Spannstahl wurde in der Carolabrücke etwa mit Blech ummantelt, da kann es undichte Stellen gegeben haben, in die Feuchtigkeit kommen konnte. Hohlräume in dieser Ummantelung wurden zudem damals mit Mörtel verfüllt, auch das würde man heute nicht mehr so machen. Und dann können auch Faktoren wie schlechte Entwässerung der Brücke, bei Rissbildung im Beton oder starker Salzbelastung begünstigend für einen solchen Einsturz wirken.
Sie haben auch die sogenannte Ölschlussvergütung, die ab den 1960er-Jahren bis Ende der 1970er-Jahre in vielen Stahlwerken angewendet wurde, als mögliche Ursache für den Teileinsturz genannt. Was steckt dahinter?
Der Stahl wurde zunächst auf der 280er-Straße gewalzt, im Ofen kontrolliert bis auf 900 Grad Celsius erwärmt, anschließend schlagartig von kaltem Öl umströmt bis auf 50 Grad abgekühlt, um dann im Bleibad wieder auf bis zu 500 Grad erwärmt zu werden. Bei diesem Prozess können unbeabsichtigt höhere Festigkeiten des Stahls entstanden sein als gewollt – in diesem Fall mehr als 1700 Newton pro Quadratmillimeter. Das kann die viel zitierte Spannungsrisskorrosion begünstigen.
Dabei verursachen eindringende Wasserstoff-Atome im unter Spannung stehenden Stahl, dass er von innen heraus spröde wird – und dann irgendwann brechen kann. Noch dazu kann der Stahl durch eindringende Feuchtigkeit ja auch noch von außen rosten.
Wettbewerbsdruck kann West-Brücken sicherer gemacht haben
Sie sprachen ja gegenüber der MAZ auch davon, dass rund 1000 Brücken in der Republik mit Spannstahl gebaut sein könnten.
Ja, dabei beziehe ich mich auf eine Dissertation von Matthias Rainer Wild von 2021, der heute an der Uni Passau lehrt. Demnach seien etwa 200 Bauwerke auf Bundesautobahnen spannungsrisskorrosionsgefährdet, weitere mindestens 500 betroffene Brücken im Bundesfernstraßennetz. Dazu kommt eine unbekannte Zahl Bauwerke unter kommunaler Verwaltung. Diese 1000 Brücken sind somit nur eine grobe Schätzung.
Dürfte der Großteil dieser Brücken auf dem Gebiet der ehemaligen DDR liegen?
Eher nicht. Man muss ja sehen, dass Spannstahl auch in den alten Bundesländern mit der Ölschlussvergütung behandelt wurde, alle Anbieter von Spannstahl haben damals so produziert. Und weil das Gebiet der alten Bundesländer viel größer ist und auch viel mehr Straßen hat, gehe ich davon aus, dass es auch mehr betroffene Brücken geben könnte. Allerdings sind Brücken, die ab den 1980er-Jahren im Westen gebaut wurden, wohl wiederum sicherer. Und zwar schlicht, weil es – im Gegensatz zur DDR – drüben einen Wettbewerbsdruck gab, und sich Technologien im Bausektor besser entwickelt haben könnten.
Werden denn auch heute noch Brücken nach demselben Prinzip – mit armdicken, ummantelten Stahlbündeln – gebaut?
Ja, Spannstahl steckt auch in modernen Brücken noch drin. Aber die technische Entwicklung ist ja 60 Jahre weiter. Früher wurden etwa die Hohlräume zwischen Spannstahl und Ummantelung mit Mörtel verfüllt, heute nimmt man Fett und Wachs – was ja wasserabweisend ist. Die Umhüllung ist auch kein Blech mehr, heute nimmt man dafür Kunststoff.
Das sieht dann aus wie dicke Kabel, die im Beton liegen. Zudem sind die Brücken heute durch Schächte im Inneren begehbar, sodass man sie besser kontrollieren kann. Probleme mit Spannungsrisskorrosion dürfte es da keine mehr geben.
„Autofahrer sollten froh sein, dass eine Brücke saniert wird“
Gehen wir zurück zu den alten Brücken. Es gab ja etliche andere Beispiele von Rissen oder Sperrungen in der Republik. 1980 etwa stürzte ein Großteil der Berliner Kongresshalle ein, 1998 wurden in der Berliner Elsenbrücke erste Risse festgestellt, im November musste die Elbbrücke in Bad Schandau gesperrt werden. Wie soll das weitergehen, wenn der Stahl noch mehr altert?
Die Carolabrücke muss ein Weckruf sein! Ich gehe davon aus, dass die Verantwortlichen die Vorgaben des Ministeriums noch genauer einhalten und die Überwachungen der Brücken sehr engmaschig durchführen werden. Und Autofahrer sollten, wenn sie mal eine Umfahrung nehmen müssen, froh sein, dass eine Brücke saniert wird, anstatt dass sie unten im Wasser liegen.

Quelle: Enrico Kugler
Und überhaupt sollte man Verständnis dafür aufbringen können, dass eine Brücke nach 60 Jahren verschlissen sein kann. Der Sanierungsrückstau ist gigantisch, das muss erstmal aufgeholt werden.
Kommen wir noch zur aktuellen Situation im Hennigsdorfer Stahlwerk. Ab Januar steht Kurzarbeit an, nach neuesten Informationen aus dem Werk sind etwa 680 Mitarbeitende betroffen. Gründe seien laut dem Unternehmen die „anhaltend schlechte wirtschaftlichen Lage und unveränderte Rahmenbedingungen“. Herr Höckel, hat die Stahlindustrie in Hennigsdorf noch eine Zukunft?
Unbedingt. Und zwar, weil die Technologie, die hier angewandt wird, schon jetzt relativ klimaschonend ist. Und wenn einmal das neue Elektrostahlwerk gebaut wird, wird es noch besser. Ein paar Zahlen: Bei der klassischen Stahlproduktion, dem sogenannten Primärweg mit Erzaufbereitung, Hochofen und Konverter, fallen pro Tonne Rohstahl rund 1,8 Tonnen Kohlenstoffdioxid an.
Bei der sogenannte Sekundärmetallurgie, bei der Schrott und etwas Roheisen im Elektro-Ofen bearbeitet werden, wie hier in Hennigsdorf, fallen nur noch 0,4 Tonnen Kohlenstoffdioxid pro Tonne an. Es sind sogar technisch schon 0,35 Tonnen möglich – und alle streben diesen sauberen Weg an. Was die Kurzarbeit angeht, bin ich ebenfalls optimistisch, weil der Riva-Konzern hier ist und seit 32 Jahren am Standort Hennigsdorf immer die richtigen Entscheidungen getroffen hat.
Ihr Stahlwerker-Traditionsverein hat sich zum Ziel gesetzt, die lange Geschichte des Werkes zu bewahren. Die meisten der Vereinsmitglieder sind aber schon über 70 Jahre alt. Wie soll das in Zukunft noch funktionieren?
Bei der Gründung des Vereins 1998 waren es fast komplett Stahlwerker, die schon zu DDR-Zeiten im Werk gearbeitet haben. Aktuell sind fast die Hälfte unserer Mitglieder erst nach der Wende in Rente gegangen, sie haben also schon bei Riva gearbeitet.

Quelle: Enrico Kugler
Allein in diesem Jahr haben wir schon vier Zugänge, davon sind drei unter 70. Wir arbeiten da eng mit Riva zusammen, unter anderem hatten wir Stände beim 70. Jubiläum des 17. Juni 1953 oder bei der „Langen Nacht der Wirtschaft“ hier in Hennigsdorf. Dazu wurde am 4. September im Bürgerhausunsere Ausstellung zum Stahlwerk als Teil der Industriegeschichte eröffnet. Dadurch bekommt man einfach Aufmerksamkeit. Die haben wir allerdings auch durch die Sache mit dem Spannstahl bekommen. Da haben auch schon einige Leute gesagt, dass sie bei uns mitmachen wollen.