Suche
Suche

Ein Eiffelturm für die Lausitz

Dänemark schafft einen Feiertag ab, um mehr Geld in die Verteidigung zu investieren. Diese Idee gefällt Sachsens Arbeitgeberchef - der das Geld jedoch nicht nur in die Bundeswehr stecken will.

Lesedauer: 6 Minuten

In Schipkau wächst der höchste Windmessmast der Welt. Wie das Ex-Kohlerevier weiter vom Strom lebt, wie man Industriekletterer wird – und in 180 Metern aufs Klo geht.

Von Michael Rothe

DresdenTina und Emma hängen seit drei Stunden in der Luft. In 180 Metern. Bei eisiger Kälte. Mehrfach gesichert. Die beiden haben eine exklusive Aussicht auf das stillgelegte Braunkohlerevier bei Senftenberg, die in der Folge entstandene Seenplatte an der sächsisch-brandenburgischen Grenze, den nahen Lausitzring mit dem 135 Meter hohen, kurze Zeit mal höchsten Windrad der Welt, das außer der Rennpiste noch 18.000 Haushalte mit grünem Strom versorgt.

Der Superlativ könnte bald in die Lausitz zurückkommen, denn der Dresdner Ingenieurdienstleister Gicon will dort mit einem Höhenwindturm in neue Dimensionen vorstoßen. Dafür legen Tina, Emma und drei Kollegen am Boden die Basis und sichern Schipkaus Ortsteil Klettwitz schon mal einen Eintrag im Guinness-Buch: Die Industriekletterer bauen den höchsten Windmessmast – mit 300 Metern nur 30 Meter kleiner als der Pariser Eiffelturm.

Die Frauen kommen den Wolken im Schnitt alle 45 Minuten drei Meter näher. So lang sind die 500 bis 800 Kilo schweren Stahlgitterteile, die per Flaschenzug und Generator nach oben gehievt und von ihnen verschraubt werden. Dann erklimmen sie das neue Element und schieben alle drei Teile auch den „Galgen“, einen mitwachsenden Kran, weiter. Auf neun Ebenen werden Stahlseile gespannt, die den rot-weißen Riesen mit je fünf Tonnen Zugkraft fast im Lot halten. Abweichung nach 100 Metern: zwei Zentimeter. So wächst das offene, dreiseitige Prisma mit 1,20 Metern Kantenlänge täglich um bis zu 24 Meter.

Ein eingespieltes internationales Team

Keine Zeit für Pausen, geschweige die Aussicht. Dann und wann meldet sich das Duo von oben, welches von unten kaum noch zu sehen ist, via Walkie-Talkie beim männlichen Bodenpersonal. Das internationale Team ist eingespielt, verständigt sich in Deutsch und Englisch. Klare Ansagen, kein Stress, jeder kennt seine Aufgabe. Im Quintett können alle alles, und so wechseln sie sich in der Luft und auf der Erde ab. Trotz des kurzen Wintereinbruchs ist das Projekt auch neun Wochen nach dem Baustart noch im Plan. Aber das hört Montageleiter Artur Gür ungern, denn er und seine Truppe sind erst gut zwei Wochen vor Ort. „Wir liegen so gut in der Zeit, dass wir am 13. März in ein verlängertes Wochenende nach Hause gehen können“, sagt der Pole, der vor 35 Jahren als Spätaussiedler nach Deutschland kam.

© SZ Grafik

Wie der 50-jährige ist die ganze Truppe aus dem Ausland: Marcin Andrzejczak (37) ebenfalls aus Polen, Tina Vekic (32) aus Slowenien, Emma Guidat (22) aus Frankreich und Sami Grolli (25), der in Tunesien aufwuchs. Sie waren schon ein paar Mal gemeinsam für die Ge:Net GmbH aus dem Oberharz unterwegs – und fühlen sich zu Höherem berufen. Tina etwa, die nach abgebrochenem Chemiestudium, einem Intermezzo als Tänzerin und im Bühnenbau sowie Jobverlust in der Pandemie nun europaweit als freiberufliche Industriekletterin arbeitet.

Auch Emma war die Uni zu langweilig – wie Sami, der nach dem Abbruch Dachdecker lernte und seinen Meister machte. „Ich wollte eigentlich Hubschrauberpilot werden, aber daraus wurde nichts wegen meiner Rot-Grün-Schwäche“, sagt er und ist seit Oktober das jüngste Mitglied jenes Teams auf Zeit. Marcin war im ersten Leben Automechaniker, hat aber schon gut zehn Jahre Erfahrung in jenem ausgefallenen neuen Job.

In einer Woche zum Industriekletterer

„Industriekletterer ist kein Beruf, sondern eine Zusatzqualifikation wie Bagger- oder Staplerfahrer“, erklärt Chef Artur. Praktisch könne jede/r Schwindelfreie nach einem Wochenkurs mit Prüfung das Basisniveau erreichen, sagt er. Natürlich sei der frei verhandelbare Lohn mit Level II und III besser. Dazwischen lägen „je mindestens ein Jahr und 1.500 Stunden Praxis“.

Das "Seilmoped" erspart eine halbe Stunde Kletterei - und Muckis, die Tina, Emma & Co oben noch brauchen. Dort bringen sie bis zu sechs Stunden zu. Der spezielle Aufzug schafft 17 Meter pro Minute.
Das „Seilmoped“ erspart eine halbe Stunde Kletterei – und Muckis, die Tina, Emma & Co oben noch brauchen. Dort bringen sie bis zu sechs Stunden zu. Der spezielle Aufzug schafft 17 Meter pro Minute.© kairospress

Der Werkzeugmachermeister „war es leid, im Büro zu sitzen“ und hatte vor 15 Jahren umgesattelt. Er habe eine Rubbel-Weltkarte, und überall, wo er solche Maste aufgebaut habe, lege er Hand an. 76 Länder, zuletzt Tansania, habe er so freigeräumt, erzählt er. „Ich bin nicht böse, wenn der Wind mal zu heftig weht und die Arbeit abgesagt wird“, sagt der Weltenbummler und grinst. So habe er nicht nur die Pyramiden bei Kairo erleben können. Seine Frau, die vier Kinder und noch mal so viele Katzen hätten sich damit abgefunden, ihn nur selten zu sehen.

Wind ist der Hauptfeind der Kletterer: Bei 43 km/h ist Schluss. Temperaturen wie in Kuwait erlebte 47 Grad oder minus 35 Grad in Kasachstan seien kein Problem, sagt Artur. Auch nicht Regen, Schnee, Eis.

Mast schon höher als die 59 Windräder ringsum

All das ist am letzten Februartag in Schipkau kein Thema. Doch trotz Sonne und blauem Himmel sind Tina und Emma dick eingepackt, ihre Gesichter kaum zu sehen. Nunmehr misst ihr Arbeitsplatz 186 Meter, ist er höher als die 59 Windräder ringsum.

Sie sind der Gegenbeleg zur These, die Jugend von heute suche im Job „Wohlfühloasen“ und weniger Work- als Life-Balance. Täglich dreckig, nass oder durchgefroren und immer am Abgrund. Aber bessere Aufstiegschancen gibts kaum – obwohl das Seilmoped, wie es Artur nennt, die beschwerliche Kletterei erspart. Dieser besondere Aufzug schafft 17 Meter pro Minute, spart eine halbe Stunde und Muckis, die Frau oben gut gebrauchen kann.

Der Windmessmast hat längst sein Versteck im Kiefernwald verlassen und ist schon größer als die 59 Windräder im Energiepark mit 300 Hektar Solaranlage. Auch die 186 Meter sind nur eine Momentaufnahme.
Der Windmessmast hat längst sein Versteck im Kiefernwald verlassen und ist schon größer als die 59 Windräder im Energiepark mit 300 Hektar Solaranlage. Auch die 186 Meter sind nur eine Momentaufnahme.© kairospress

Noch verirren sich nur Quadfahrer und Pilzsammler in den Kiefernwald auf dem in den 1990ern zugeschütteten Tagebauloch. Das könnte bald anders werden – je nachdem, wie viel medialer Wind um den Mast gemacht wird. Es wäre ein Wallfahrtsort auf Zeit, denn in einem Jahr wird der Riese wieder ab- und in Jüchen bei Düsseldorf erneut aufgebaut. Dann sollten die ermittelten Daten reichen, einschließlich derer zum Flugverhalten von Fledermäusen.

Die Erkenntnisse sind Basis für künftige Höhenwindtürme in einer zweiten Ebene, ohne weiteren Flächenverbrauch. Sie seien 240 bis 300 Meter hoch, inklusive der Rotorblätter sogar bis zu 360 Meter, sagt Jan Claus, Sprecher des Dresdner Ingenieurdienstleisters Gicon. Der Konzern mit 500 Beschäftigten an 20 Standorten und rund 45 Millionen Euro Jahresumsatz will etwas abhaben vom milliardenschweren Kuchen, der beim Strukturwandel in der Lausitz verteilt wird. Er managt das 2,8 Millionen Euro teure Windmessprogramm im Auftrag der Leipziger Beventum GmbH.

Das „kleine Geschäft“ wird oben am Seil erledigt

Schipkaus Bürgermeister hätte nichts gegen einen Besucheransturm. Schon bei der Erneuerung des Windparks vor acht Jahren, seien ganze Reisegruppen aus China gekommen“, sagt Klaus Prietzel. Seine Gemeinde habe nicht nur ihren Frieden mit den oft verteufelten Riesen gemacht – sie profitiere sogar von ihnen. „Die Hälfte unserer Gewerbesteuern kommt aus erneuerbarer Energie“, sagt er. Über ein Bürgerstrommodell würden jährlich 450.000 Euro an alle 6.996 Einwohner ausgeschüttet, gesetzlich eingeschränkt, künftig noch alle zwei Jahre. Das mache 80 Euro pro Kopf – egal ob Säugling oder Greis. Die Firmen stünden Schlange, um sich im geplanten neuen Gewerbepark anzusiedeln. „Die Kommune wächst“, freut sich Prietzel.

Ein eingespieltes Team: Sami, Tina, Chef Artur, Emma und Marcin (v. l.). Das internationale Quintett kennt sich, war schon öfter gemeinsam unterwegs.
Ein eingespieltes Team: Sami, Tina, Chef Artur, Emma und Marcin (v. l.). Das internationale Quintett kennt sich, war schon öfter gemeinsam unterwegs.© kairospress

Es ist 13.15 Uhr. Tina und Emma haben das letzte Teil für diesen Tag befestigt. Am Seil gehts in vier Minuten hinab in den aufgetauten Morast um das tonnenschwere Fundament. Kurze Mittagspause. Im Bauwagen warten mitgebrachte Bemmen, Schokobagels und Tee. Am Nachmittag werden am Boden noch die Halteseile festgezurrt, dann ist das Tagwerk geschafft.

Bleibt eine wichtige Frage: Wie geht Mann oder Frau in 180 Metern auf Toilette? Dank des Seilmopeds sei genügend Zeit fürs „große Geschäft“ im Dixi-Klo, sagt Artur. Auch stelle sich der Körper auf die Abläufe ein. Das „kleine Geschäft“ werde tatsächlich oben am Seil erledigt – nach Warnung an die Bodencrew. Frauen hätten dafür Hilfsmittel aus Silikon dabei. Und dann fügt er scherzhaft hinzu: „Je nachdem, wer unten ist, schreit man ganz laut – oder versucht, genau zu zielen.“

Das könnte Sie auch interessieren: