Der Mann hatte auf mehr gehofft. „Nur 20 Euro“, fragt er ungläubig in Richtung Panzerglasscheibe. Das Nicken dahinter zerstäubt die Hoffnung des Mittdreißigers. „Wir können Ihnen nur die Hälfte vom Materialwert geben“, sagt Andreas Schober. So richtig ist der junge Mann noch nicht überzeugt. Immerhin will er gerade seinen Ehering zu Geld machen. Vorübergehend.
„Ich will etwas verpfänden“, hatte er fast schüchtern gesagt, als er Schobers Leihhaus im Dresdner Stadtteil Friedrichstadt betrat. Unauffällig in einer Altbauzeile zwischen Fahrschule, Blumenladen und Asia Imbiss untergebracht. Auf dem Schild steht „Leihhaus Dresden-Chemnitz“. Ein Ort, der an eine Bank erinnert, nur kleiner. Weiß getünchte Wände, Überwachungskameras, eine Art Schalter hinter einer massiven Wand mit Tresoren und schusssicherem Glas. Ein Kasten, den der 58-jährige Pfandleiher hin und her schieben kann, um Pfandstücke anzunehmen und Geld auszugeben. Wer rein will, muss klingeln. Sicherheit ist alles. Vor 2009 war hier eine Autovermietung drin. Seither geht hauptsächlich Gold und Geschmeide über den Tisch. Aber nur, wenn es wertvoll ist. Das erkennt Schober oft auf den ersten Blick.
Der junge Mann mit der schwarz-gerahmten Brille trägt ein kariertes Hemd unter der dunklen Stoffjacke. Er könnte Beamter oder Angestellter sein. Es ist sein erstes Mal. Auf dem mattgoldenen Ehering ist „585“ eingraviert. „Die Legierung besteht zu 58,5 Prozent aus Gold“, sagt Schober. Er wiegt das gravierte Schmuckstück – geschätzter Goldanteil: ein Gramm. Ein Säuretest bestätigt die Vermutung. Die Edelmetallpreise hat der Pfandleiher tagesaktuell im Kopf; Gold rund 35 Euro, Silber bis zu 70 Cent. Er beleiht nur den halben Materialwert, der Rest ist Absicherung. Ein paar Stunden vorher brachte eine ältere Frau eine schlichte Halskette aus 333er-Gold. Für den Goldanteil gab es 80 Euro.Manche Neukunden enttäusche das, sagt Schober und guckt den jungen Mann an. „Sie haben bestimmt 300 Euro für den Ring bezahlt.“ Der Jüngere nickt. Er hatte auf die Hälfte davon gehofft, Schober erklärt, dass er für Design, Handwerker und Händler bezahlt habe – beim Pfandleiher zähle nur das Material. 20 Euro, das sei aufgerundet.
Ein paar Sekunden lässt der Mann den Ring durch seine Finger gleiten, sagt dann: „Okay.“ Schober nimmt einen Leihschein, lässt sich den Ausweis zeigen, greift ins Regal und zählt ihm das Geld vor. „Sie haben drei Monate Zeit, um den Ring wieder abzuholen und sie zahlen 1,70 Euro im Monat“, sagt Schober. „Oder Sie verlängern, aber dazu müssen Sie herkommen und die ersten drei Monate bezahlen.“ Sonst wird der Ring versteigert. Der Mann nickt.
Auf das Jahr gerechnet ein teurer Kredit mit 102 Prozent Aufschlag. Dafür gibt es innerhalb weniger Minuten Bargeld. Ohne Bonitätsprüfung und Schufa-Eintrag. Der Kunde haftet nie persönlich wie bei einem Bankdarlehen. Im schlimmsten Fall verliert er den verpfändeten Gegenstand, ist aber schuldenfrei. Der Pfandleiher verdient an Zinsen und Gebühren. Muss versteigert werden, bleiben nur Kreditwert und Versteigerungskosten, jeden Überschuss bekommt der einstige Eigentümer – wenn er sich meldet. Ansonsten die Stadt. Das Risiko trägt Schober. Wenn bei der Versteigerung weniger als sein Pfandkredit herauskommt, bleibt er auf den Kosten sitzen.
Menschenkenntnis, Geduld und Diskretion helfen. Geduldig müsse man vor allem anfangs sein, Gewinne gibt es das erste Mal vielleicht nach vier Jahren, sagt Schober. „Man muss warten können.“ Durchhalten, selber Kredite aufnehmen und bedienen. „Werbung bringt nichts, es geht nur mit Mund-zu-Mund-Propaganda.“ Plattformen wie Ebay sind keine Konkurrenz. „Familienschmuck mit Erinnerungsfaktor will niemand einfach nur so mal loswerden.“
Eheringe machen drei Prozent des Geschäfts aus. Manchmal kommen Paare, um ihre Liebesbeweise zu verpfänden. Für eine teure Autoreparatur, weil erst am Monatsende wieder Geld auf dem Konto ist. Die Kunden kommen aus Sachsen, manche aus Brandenburg, aber auch EU-Ausländer wie Tschechen, die hier günstigere Bedingungen finden. Das Gewerbe ist streng reguliert, Zinsen und Gebühren sind gesetzlich vorgegeben. Ein Prozent auf das Darlehen pro Monat. Je nach Höhe fallen zwischen 30 bis 300 Euro noch einmal Gebühren von 1,50 bis 6,50 Euro an. Darüber ist Verhandlungssache. Bei 300 Euro Kredit läge der jährliche Zins bei 38 Prozent.
Beim Gehen guckt sich der Mittdreißiger noch einmal um, so als wollte er sicherstellen, dass ihn niemand gesehen hat. Pfandleihern haftet bis heute ein anrüchiger Ruf an. Eine Art schmuddelige Wucher-Bank für Arme und Kriminelle in dunklen Hinterhöfen, die nirgendwo Kredit bekommen. „Das hat noch nie gestimmt, weil Arme gar nichts haben, was sie verpfänden könnten“, sagt Andreas Schober. „Während der Armeezeit habe ich ein Buch über Karl Marx gelesen, in dem stand, dass der immer ins Pfandhaus ging, um sich Geld für Kaffee und Zigarren zu leihen.“ Der größte Kritiker des Kapitalismus war chronisch knapp bei Kasse. Sein bester Anzug und die Taschenuhr waren praktisch immer im Pfandhaus, es sei denn, Marx brauchte sie für besondere Anlässe.
Diamanten werden mit einem Spezialgerät auf Echtheit geprüft. Manchmal trügt auch der erste Schein der schönen Klunker.
Die Geschichte der Pfandhäuser ist viel älter und passt irgendwie zu Marx. Um den Wucher einzelner mächtiger Pfandleiher einzudämmen, gründeten Franziskaner-Mönche 1462 im italienischen Perugia das erste institutionelle Leihhaus Europas. Arme sollten Wertsachen hinterlegen können und dafür Geld bekommen. Monte di pietà, Berg der Barmherzigkeit, heißt es und gehört heute zu einem österreichischen Auktionshaus. In Österreich besorgte sich ein Sachse Bares gegen Pfand. Als August der Starke König von Polen werden wollte, braucht er viel Geld, um den Adel zu bestechen. Für seine Juwelen erhielt er von den Wiener Jesuiten eine Million Taler.
Der kräftige große Mann, graue Haare, blaues Poloshirt, sitzt im Schalterraum und wartet auf weitere Kunden. Manchmal kommen drei am Tag, manchmal 20. Zu gewissen Daten sind es viele, immer um den Monatsanfang, wenn Löhne, Renten oder Sozialhilfe ausbezahlt werden. Die Leihbeträge liegen zwischen 20 und mehreren Tausend Euro, im Schnitt 350 pro Kunde. Rund 300 Pfandscheine gibt Schober im Monat aus. Mancher nutze sein Pfandleihhaus auch als sicheres Lager für den wertvollen Familienschmuck während er im Urlaub ist.
Die Klingel reißt Schober aus seinen Überlegungen. Er drückt den Öffner und guckt Richtung Tür. Ein Stammkunde. Der hagere Mann tritt vor den Schalter, stützt sich vor der Scheibe ab. Der Latzhosen-Träger ist vielleicht 30, hat nur wenig Haare auf dem Kopf. „Ich hab meinen Schein dabei, ich will verlängern“, sagt er. Schober nickt und tippt die Nummer des Leihscheins in seinen Computer. „Haben Sie Geld dabei?“ Aus der Hosentasche kramt der Bauarbeiter Banknoten und Münzen hervor. Schober gibt ihm einen neuen Schein und legt die Kopie in den Tresor.
In dem Stahlkasten mit den feuer- und sprengfesten Wänden stehen kleine Kisten dicht an dicht, darin unzählige Plastiktütchen mit Clipverschluss und Leihscheinnummern, streng geordnet. Schober muss die Übersicht behalten. Er ist Bank und Schließfach in einem, vor allem für die Mittelschicht. Junge, Alte, Frauen, Männer. Auch Selbstständige, die auf die Bezahlung ihrer Rechnungen warten. „Es ist durchaus üblich, dass einer in drei Monaten vier oder fünf Leihscheine macht“, sagt Schober. „Wenn es dann mal mit dem Geld klappt, löst er vielleicht alle ein.“ Oder die älteren Frauen, die seit DDR-Zeiten geschieden sind oder allein leben mit einer kleinen Rente. „Die wollen zur Kommunion oder Jugendweihe ihrer Enkel gehen und schämen sich vielleicht, ohne Geschenk aufzutauchen.“ Viele wollen nicht, dass jemand weiß, dass sie zum Pfandleiher gehen.
In der Vitrine des Holzschranks hinter Schober steht Meißner Porzellan, eine Teekanne, Tassen, Teller, ein Aschenbecher. Porzellan hat er früher auch beliehen. Heute seien die Preise für Meißner zu klein geworden und das Risiko zu groß. Die Hände verraten, dass Schober auch schon körperlich gearbeitet hat. Als Steiger, später als Ingenieur im Uranbergbau bei der Wismut in Thüringen. Dann ein paar Jahre bei der Stadt Gera, bevor er sich selbstständig machte. „Ich dachte, das Pfandleihgeschäft ist interessanter als sich ab und zu einen Schlips umzubinden, es hatte noch keiner im Osten probiert, während es das im Westen zuhauf gibt.“ Er guckte einem westdeutschen Kollegen ein paar Wochen über die Schulter. Sein Interesse für Geschichte, Literatur und Kunst kam ihm beim neuen Job entgegen. Pfandleiher müssen recherchieren und verstehen, damit sie bewerten können, was ihre Kunden vorlegen.
Bis heute gibt es in der Branche die Ost-West-Teilung. In der alten Bundesrepublik war es üblich, zu verpfänden. Teure Teppiche, Pelzmäntel oder Sonntagsanzüge, die für den Kirchgang ausgelöst wurden. Noch immer gibt es dort die meisten Pfandleiher. Oft seit Generationen familiengeführt, einige Häuser in öffentlicher Hand. Mehr als eine Million Menschen bundesweit gehen jedes Jahr zum Pfandleiher, schätzt der Zentralverband des Deutschen Pfandkreditgewerbes. Im Westen mehr als im Osten. Der westdeutsche Schauspieler Heinz Rühmann hat in seinen späten Jahren einen Pfandleiher gespielt. In der DDR konnte man sich kaum mit wertvollen Dingen eindecken. Die Häuser, die es gibt, existieren seit der Wende. „Zu DDR-Zeiten waren Pfandhäuser ein Thema, das möglichst verborgen bleiben sollte“, sagt Schober. „Nur in Ostberlin und Leipzig gab es so etwas.“
Das Geschäft in Dresden hat Schober eröffnet, weil die Tochter hier lebt. In Chemnitz betreibt er sein Leihhaus seit 24 Jahren, früher in einem großen Laden, um teure Fernseher, Hi-Fi-Anlagen oder Kameras zu lagern. Das ist Geschichte. „Die technische Entwicklung ist heute viel zu schnell und entsprechend verfällt der Wert.“ Er nimmt nur noch Schmuck, Edelmetalle, wertvolle Kunstgegenstände oder Uhren von Marken wie Rolex oder Lange & Söhne.
Die Gründe für den Pfandkredit sind so vielfältig wie die Menschen. „Oft geht es um finanzielle Missgeschicke“, sagt Schober. „Mal gibt jemand zuviel beim Shoppen aus und es reicht nicht mehr für das Bahnticket oder jemandem wurde das Portemonnaie gestohlen und er braucht Geld für die Heimfahrt.“ Über die Jahre hat Schober seine Pappenheimer kennengelernt, sagt er. „Stammkunden, die immer treu und brav nach drei Monaten ihre Sachen abholen, bekommen auch mal Geld bis zum Maximalwert des Pfands statt der üblichen 50 Prozent.“ Die meisten seien verlässlich.
Andreas Schober ist lange genug Pfandleiher. Er weiß, dass er sich neue Kunden genau angucken muss. Und, was sie zu welcher Tageszeit bringen. Nicht mit allen will er Geschäfte machen. „Wenn morgens um zehn einer etwas Wertvolles bringt wie Gold oder eine teure Markenuhr und aussieht, als hätte er die ganze Nacht Kohlen geschleppt, werde ich misstrauisch. Es gibt ja keine Kohlenschlepper mehr.“ Der komme dann eher aus der Nacht-Bar.
Es habe auch schon Versuche gegeben, gefälschte Rolex zu beleihen. „Die sind nicht immer auf den ersten Blick zu erkennen, da muss man genau hinschauen.“ Schober kennt die meisten Modelle, studiert Uhrenkataloge, um auf dem Stand zu bleiben. „Wenn die Uhren original sind, stimmen auch die Maße auf den zehntel Millimeter.“ Um das zu checken, hat er den Messschieber griffbereit. Diamanten prüft er mit einem Spezialgerät. Manchmal trügt der erste Schein. „Einer kam mal mit einer Taschenuhr von Lange & Söhne von 1911, aber der hatte alle Papiere und die Rechnung dabei.“ 400 Goldmark hatte die Uhr gekostet. „Ein Gutsarbeiter auf dem Land bekam damals zehn bis 15 Mark Lohn pro Woche.“ Für das gute Stück gab es einen Pfandkredit von 3 000 Euro.
Die Klingel schellt wieder. Wieder ein Mann, diesmal im schwarzen Anzug, Typ Banker. Einer, der seit Monaten zuverlässig kommt und Zinsen und Gebühren für den verpfändeten Familienschmuck bezahlt, sagt Schober hinterher. Für eine Sammlung Mischgold: Ringe, Ketten, Armbänder. Der Banker legt seinen Pfandschein in die Schublade unter der Panzerglasscheibe. „Das macht 115 Euro und 50 Cent.“ Routiniert sortiert Schober das Geld in die Kasse und druckt den neuen Schein aus. „Alles klar, bis zum nächsten Mal“, ruft der Anzugträger und ist so schnell verschwunden, wie er kam. Bloß nicht gesehen werden.
Von Tobias Wolf
Bildquelle: Ronald Bonß