Von Henry Berndt
Die Post vom 25. Januar 1994 ließ nichts Gutes erahnen. Die Dresdner Vieh- und Schlachthof GmbH informierte sie, dass ihr Arbeitsplatz nach der Stilllegung des Produktionsbetriebes in Dresden „ersatzlos weggefallen“ sei. „Betriebliche Erfordernisse, insbesondere die wirtschaftliche Gesamtsituation, machen eine Weiterbeschäftigung unmöglich. Wir sehen uns leider veranlasst, das Arbeitsverhältnis zum 30. April 1995 zu kündigen.“ 15 Jahre war Iris Lange zu dieser Zeit als Diplomingenieurin im VEB Dresdner Fleischkombinat und ihrem Nachfolgeunternehmen beschäftigt gewesen. Nun war sie 37 und musste sich fragen: Wie soll es weitergehen? Braucht mich noch jemand?
Iris Lange ist Jahrgang 1958, wurde in Dresden geboren und wuchs ab ihrem fünften Lebensjahr in Thüringen auf. Weil sie Dresden so sehr vermisste, kehrte sie 1976 zum Studium zurück. Da sie Zahlen liebte, hätte sie gern Mathematik studiert, allerdings warnte ihre Lehrerin, dass sie damit nur Lehrerin werden könne. In Gedanken an ihren Metallbaukasten und an die faszinierenden Dampfer auf der Elbe fiel ihre Wahl letztlich auf Maschinenbau, Schwerpunkt Energieumwandlung, Strömungsmechanik und Thermodynamik. Damit lag sie im Trend. In den 70er-Jahren wurde in der DDR jeder zehnte Jugendliche zum Ingenieur ausgebildet. Fünfmal mehr junge Leute als in Westdeutschland.
Iris Lange träumte davon, als Diplomingenieurin Strömungsmaschinen zu konstruieren, doch es kam anders, nicht zuletzt, weil Dresdner und verheiratete Kommilitonen bei der Stellenvergabe Vorrang hatten. „Fleischkombinat wollte keiner, das blieb für mich übrig“, sagt sie. Nach dem Studium wurde sie verpflichtet, für mindestens drei Jahre hier ihren Dienst zu tun. Quasi als Gegenleistung für die kostenlose Ausbildung. Iris Lange machte das Beste draus. Fortan mangelte es ihr nie an Fleisch, und sie konnte sich bis zur Herrin über die Energieversorgung im Betrieb hocharbeiten.
„Diesel- und Benzinmarken wurden abgezählt und an die Betriebsteile übergeben“, erinnert sie sich. „Ohne Marken gab es keinen Treibstoff.“ Unter anderem war Iris Lange dafür zuständig, die zugewiesenen Energiekontingente zu verteilen. „Man musste immer mehr einplanen als benötigt wurde, denn es wurde grundsätzlich gekürzt. Wenn am Ende zu viel verbraucht wurde, war als Sanktion der zehnfache Preis zu zahlen, es sei denn man konnte das gut begründen.“

1987 wurde Iris Lange schwanger und ließ sich freistellen. Das erste Jahr galt als Babyjahr, dann blieb sie bis 1990 unbezahlt daheim. Als sie zurückkehren wollte, signalisierte ihr der Chef, dass er sie nicht mehr benötige, doch so einfach ließ sie sich nicht unterbuttern und drohte mit dem Arbeitsgericht. „Ich konnte ja ein Schreiben mit Wiedereinstellungsgarantie aus DDR-Zeiten vorweisen.“ Letztlich bekam sie wieder eine Stelle im Bereich Technik zugewiesen, bevor vier Jahre später das endgültige Aus für sie und Hunderte andere kam.
„Trotz zigfacher Bewerbungen war es damals nicht möglich, eine Beschäftigung zu finden, die meiner Ausbildung entsprach und dementsprechend bezahlt wurde“, erinnert sie sich. „Ingenieure brauchen wir nicht“, hörte Iris Lange nun immer wieder. „Es wurde zwar gesagt, es liege nicht am Alter und nicht an der Qualifikation, aber woran dann?“ 1989 lebten im Osten genauso viele Ingenieure wie in der wesentlich größeren Bundesrepublik, wie eine Untersuchung zur Qualifikation der DDR-Ingenieure zeigt. Als mit dem Ostblock wichtige Exportmärkte wegfielen, mussten viele DDR-Betriebe aufgeben. Einen Großteil der verbliebenen sicherten sich Westfirmen, die ihre eigenen Fachkräfte mitbrachten. Die Zahl der Maschinenbaustudenten an der TU Dresden sank rapide. 1990 waren hier noch über 4.000 eingeschrieben, sieben Jahre später noch ein Viertel davon.
Iris Lange fand einen Job als Sachbearbeiterin in der Energiebranche. Als sie auch dort 2007 bei einer Massenentlassung herausgespült wurde, landete sie wieder auf dem Arbeitsamt. Diesmal wurden ihr allerdings nur noch Jobs im Callcenter angeboten. „Das tat sehr weh, weil es für die Rente nichts brachte und man sich nicht wertgeschätzt fühlte.“ Im Jahr darauf meldete sie einen kleinen Nähservice an und verdiente sich ein Taschengeld dazu. Nachdem sie zuletzt noch einige Jahre für 8 Euro in der Stunde bei einer Energieberatungsfirma im Einsatz gewesen war, ging sie mit 63 Jahren freiwillig und mit Abzügen vorzeitig in Rente.
Heute hegt Iris Lange keinen Groll auf Land und Leute. Durch ihren Mann kann sie einen halbwegs sorgenfreien Ruhestand genießen. Gerade sind sie mit dem Wohnmobil durch Schottland gereist. Dennoch: Ein Makel bleibt. Als sie in der SZ im Januar einen Beitrag mit der Überschrift „Ein Land geht in Rente“ las, schrieb sie einen Brief an die Redaktion, in dem sie den Fachkräftemangel ein „Desaster“ nannte, das der Staat selbst verschuldet habe.
Laut einer Studie des Vereins Deutscher Ingenieurinnen und Ingenieure fehlten 2022 in Deutschland 170.000 Fachkräfte. „Damals wolltet ihr uns nicht haben“, sagt Iris Lange, wohl wissend, dass die Situation Anfang der 90er kaum mit der von heute gleichgesetzt werden kann. Dennoch seien ihre Fähigkeiten als Ingenieurin nach der Wende verschenkt worden – und insgesamt unheimlich viel Potenzial im Osten. „Die Grundlagen der Technik waren in Ost und West kaum verschieden und dazugelernt haben wir Ossis ständig“, sagt sie. „Das fiel uns noch nie schwer.“
Franziska Graube-Kühne (35): „Genau das, wovon ich geträumt habe“

Maschinenbau. Das klang für viele Frauen nach Maschinen und nach Bauen. Nach Männerdomänen. „Viele hatten Angst vor dem Wort und haben sich das nicht zugetraut“, sagt Franziska Graube-Kühne. Sie schon. In ihrer Seminargruppe an der TU Dresden war sie 2006 die einzige Frau. Insgesamt lag damals der Anteil im Fachbereich Maschinenbau bei rund acht Prozent. „Inzwischen ist es ein Drittel, da hat sich einiges getan.“
Franziska Graube-Kühne interessierte sich schon als Schülerin in Berlin für Energietechnik. „Ich wollte einen sinnvollen Beitrag für die Umwelt leisten, nicht nur Dienst nach Vorschrift verrichten“, sagt die 35-Jährige. Nach der Schule engagierte sie sich für einige Monate bei einer Naturschutzorganisation in Neuseeland. „Es ist großartig, dass ich jetzt genau das machen darf, wovon ich früher geträumt habe.“ Bei Sachsen-Energie ist die Diplom-Ingenieurin für die Entwicklung neuer zukunftsfähiger Kraftwerke und den Betrieb des Fernwärmenetzes zuständig. Als Gruppenleiterin hat sie zwei Teams mit je 15 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern unter sich.
Das Studium und die Liebe hatten sie nach dem Abitur nach Dresden verschlagen, wo sie bis 2012 Maschinenbau studierte. „Am Anfang bin ich als Frau belächelt worden“, erinnert sie sich. Als der Dozent sie bei einem Experiment im Seminar versehentlich mit kochendem Wasser traf, krähten die Männer: „Das kommt davon, wenn Frau Maschinenbau studieren!“ Der Kampf gegen diese dämlichen Klischees habe sie zusätzlich motiviert. Spätestens als sie ihre Matheprüfung mit 1,0 abschloss, seien die Herren verstummt.
Nachdem sie zwischendurch ein Jahr für ihr Baby ausgesetzt hatte, errang Franziska Graube-Kühne 2012 ihr Diplom, blieb der Uni aber zunächst treu. Bis 2020 promovierte sie zum Thema Effizienzsteigerungen bei Kraftwerken und streute dabei noch einmal zwei Jahre Elternzeit ein. Ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse zu den Möglichkeiten, Kraftwerke zu reinigen, verstauben seither nicht in irgendeiner Bibliothek, sondern werden praktisch umgesetzt. Darauf ist sie stolz. Sie hielt Vorlesungen und Seminare, wurde mit einem Fach-preis ausgezeichnet.
Dann wartete der nächste Karriereschritt. Regelmäßig hatte sie da bereits über Onlinenetzwerke Jobangebote erhalten, die sie aber weit über die Grenzen der Region hinaus geführt hätten oder aus anderen Gründen unattraktiv waren. Eine Weile suchte sie in einer der größten Jobbörsen im Internet nach der perfekten Stelle, dann stieß sie auf die Ausschreibung von Sachsen-Energie. Gesucht wurde eine Projektleiterin für Kraftwerkstechnik, die die Energiewende mitgestaltet. „Das ist es“, dachte sich Franziska Graube-Kühne und bewarb sich. Allerdings war sie nicht die Einzige. „Je mehr die Stellenangebote den Touch des Grünen haben, desto mehr Interessenten gibt es. Bei den erneuerbaren Energien wollen alle mitmischen.“
Am Ende erhielt Franziska Graube-Kühne den Zuschlag und wurde Teil des Großunternehmens mit 3.300 Mitarbeitern – trotz ihrer bis dahin begrenzten praktischen Erfahrungen. Ihr fachliches Profil und ihre Willensstärke überzeugten die Chefs, die sie mit der Einstellung direkt von der angedachten Projektleiterin zur Gruppenleiterin in die nächste Hierarchieebene beförderten. Viele ihrer Kommilitonen sind nach dem Abschluss in den Westen gegangen und werden dort um Welten besser bezahlt. Auch ihr wäre der Einstieg in die Wirtschaft in anderen Teilen Deutschlands sicher noch leichter gefallen, doch sie wollte ihr liebgewonnenes Dresden nicht mehr hergeben. Mit ihrem Mann und zwei Kindern lebt sie in einem eigenen Häuschen in Cossebaude.
„Je spezieller die Vorstellungen von der Stelle, desto schwieriger ist es natürlich“, sagt sie. „Ich hatte einfach Glück und war im richtigen Moment am richtigen Ort.“ Im Berufsalltag verbringt sie zwar viel Zeit vor dem Rechner, schaut sich aber auch regelmäßig Projekte an, beispielsweise im sogenannten „Innovationskraftwerk“ in Dresden-Reick, das bereits mit Fotovoltaikanlagen ausgestattet ist und demnächst auch eine Luftwärmepumpe erhalten soll.
Weitaus größer als für die Bewerber selbst ist die Herausforderung auf dem Arbeitsmarkt inzwischen für die Arbeitgeber. Unternehmen wie Sachsen-Energie suchen in den Bereichen Elektrotechnik und IT zunehmend verzweifelt nach Fachkräften. Im Maschinenbau sieht es noch etwas besser aus. „Nach der Wende gab es für einige Zeit zu viele Ingenieure, dann sank die Zahl und irgendwann wurde der Moment verpasst, ab dem es zu wenige wurden“, sagt Franziska Graube-Kühne.
Eines der Hauptprobleme aus ihrer Sicht: Der Anspruch an die Mitarbeiter ist gestiegen, die Qualität der Lehre an den Hochschulen aber gleichzeitig gesunken. Jahrelang verfolgte sie diese Entwicklung in ihren Kursen. „Ich musste die Klausuren immer wieder etwas leichter gestalten und erhielt trotzdem immer schlechtere Durchschnittsnoten.“
Ihr Vorgesetzter erinnert sich, dass es 2021 insgesamt immerhin 20 Bewerbungen auf die ausgeschriebene Stelle gegeben habe, die am Ende an sie ging. Längst nicht alle entsprachen den fachlichen Vorstellungen. „Es war schon damals nicht ganz einfach, einen passenden Kandidaten oder eine Kandidatin in diesem Fachbereich zu finden“, heißt es aus dem Unternehmen. Einfacher wird es so schnell nicht mehr werden. Gerade sind bei Sachsen-Energie 145 Stellen ausgeschrieben.