Herr Terzenbach, unterscheiden Sie noch zwischen ost- und westdeutschem Arbeitsmarkt?
Nein, viel stärker sind die Unterschiede zwischen Ballungszentren und ländlichen Regionen, zwischen Jung und Alt am Arbeitsmarkt – und auch der Unterschied zwischen Nord und Süd fällt auf.
Was ist denn der Nord-Süd-Unterschied?
Im Süden Deutschlands gibt es eine extrem hohe Industriedichte mit großen Automobilherstellern und -Zulieferern, im Norden ist es tendenziell ländlicher. Nach 30 Jahren Wiedervereinigung sollte man wegkommen von Ost-West-Gegensätzen.
Sehen Sie denn eine Angleichung zwischen Ost und West?
Ja. Bis zum Jahr 2000 gab es eine Auseinanderentwicklung bei der Arbeitslosigkeit, sie war zeitweise im Osten doppelt so hoch wie im Westen. Inzwischen ist sie in manchen westdeutschen Ländern höher als zum Beispiel in Sachsen. Junge Leute sind früher zur Ausbildung in den Westen gegangen, inzwischen gibt es mehr Rückkehrer in den Osten als Fortzüge.
Sächsische Unternehmen vermissen aber junge Bewerber und klagen über die Überalterung im Osten …
Dieser demografische Wandel ist auch kein reines Ost-Phänomen. In Rheinland-Pfalz, Hessen oder Nordrhein-Westfalen gibt es ebenfalls ländliche Gebiete, in denen eher ältere Menschen leben. In Ostdeutschland ist im Durchschnitt der Anteil der Beschäftigten an der Bevölkerung höher als im Westen. Das liegt auch daran, dass im Osten ein größerer Anteil der Frauen arbeitet – und weniger in Teilzeit als in den alten Bundesländern.
Lässt sich das Ziel Vollbeschäftigung überall erreichen?
Für Deutschland insgesamt ist eine Arbeitslosenquote von drei bis vier Prozent ein erreichbares Ziel. Aber sie wird nie überall unter drei Prozent kommen. Derzeit hat Gelsenkirchen die höchste Arbeitslosenquote in Deutschland, vor zehn Jahren standen zehn ostdeutsche Städte vorne in der Statistik. Die Unterschiede hängen von Änderungen in der Wirtschaftsstruktur ab und auch vom Altersdurchschnitt je nach Gegend.
Die Unterschiede sind auch innerhalb Sachsens groß: 10,7 Prozent Arbeitslosigkeit in Görlitz, 3,2 Prozent im Raum Kamenz. Warum?
Die Lessingstadt Kamenz ist geprägt von der Ansiedlung größerer Industriebetriebe wie etwa die Deutsche Accumotive aus dem Daimler-Konzern. Solche großen Arbeitgeber prägen natürlich die Region. Aber auch in Görlitz hat sich die Arbeitslosigkeit halbiert – hier kommen wir aber von einem viel höheren Niveau der Arbeitslosigkeit. Im Sommer 2007 lag die Arbeitslosenquote hier noch bei fast 20 Prozent. Positiv finde ich es, dass viele der arbeitslosen Menschen, auch wenn sie bereits älter sind und in einer ländlichen Umgebung wohnen, die Chancen der guten wirtschaftlichen Entwicklung für sich annehmen und als ältere Arbeitnehmer an den Start gehen.
Was sollen denn nun Menschen tun, die in Görlitz seit Langem arbeitslos sind – vielleicht nach Kamenz umziehen?
Ich glaube nicht, dass Umziehen oder Weiter-weg-Pendeln die große Lösung ist – das polarisiert ja nur weiter zwischen Stadt und Land. Arbeitsmarktpolitisch wäre es gut, sowohl innovative Technologien und Dienstleistungen als auch Fachkräfte in die Region zu holen. Die Digitalisierung birgt hier viele Chancen. Bei guter Breitband-Anbindung können auch aus großer Entfernung Dienstleistungen etwa für einen Berliner Auftraggeber erledigt werden.
Für Langzeitarbeitslose könnten das zu schwierige Aufgaben sein …
Wenn jemand viele Jahre ohne Arbeit ist und sich aus mehreren Gründen nicht erfolgreich bei Unternehmen bewerben kann, dann gibt es Hilfe. Unter anderem das neue Teilhabechancengesetz – das kann Personen helfen, die sonst keine Chance auf dem ersten Arbeitsmarkt hätten. Sie erhalten langfristig eine geförderte Beschäftigung.
Etwa 1 500 Sachsen haben inzwischen solche Arbeitsplätze, bei denen der Staat bis zu 100 Prozent der Lohnkosten übernimmt. Wird dieser soziale Arbeitsmarkt noch wachsen?
Nach dem ersten halben Jahr kann ich zunächst sagen, dass der soziale Arbeitsmarkt gut angelaufen ist. Nach ersten Schätzungen sind rund 30 Prozent dieser Arbeitsplätze direkt bei Unternehmen entstanden, in manchen Regionen sind es sogar mehr. Gerade für Menschen, die trotz des langen Wirtschaftsaufschwungs keine Stelle gefunden haben, wird es noch mehr Angebote geben. Genauso wichtig wie die Lohnzuschüsse ist dabei, dass die Menschen einen Coach haben, einen Kümmerer.
Das Land Sachsen hat eigene Förderprogramme gegen Arbeitslosigkeit – aber unterscheiden die sich wirklich von anderen?
Ja, Sachsen hat auch einiges begonnen, das von anderen Ländern übernommen wurde: Die Berufseinstiegsbegleiter zur Verbesserung des Übergangs von der Schule in den Beruf gab es zuerst in Sachsen. Auch die Praxisbausteine in Werkstätten für behinderte Menschen sind ein Vorbild aus Sachsen. Ich erlebe auch eine sehr große Offenheit in Sachsen für gesteuerte Zuwanderung, wenn es um gut qualifizierte Fachkräfte geht. Sachsen gehört auch zu den Ländern, die Pendler und Weggezogene zurückholen, das ist der richtige Weg. Hier in Sachsen gibt es aus meiner Sicht ein wirklich breites und ausgewogenes Konzept der Fachkräftesicherung.
Können auch Arbeitsagentur-Mitarbeiter nach Sachsen zurückkommen, die derzeit im Westen arbeiten, oder werden die Agenturen hier weiter verkleinert?
Zur Zeit der Massenarbeitslosigkeit vor 15 Jahren ist die Bundesagentur für Arbeit neu ausgerichtet worden, jetzt steht sie vor ähnlich großen Veränderungen. Eine Massenarbeitslosigkeit mit fünf Millionen Arbeitslosen ist kaum noch möglich, schon allein wegen der demografischen Entwicklung. Die Bundesagentur wird jedenfalls personell nicht wachsen. Wir stellen uns aber natürlich den neuen Herausforderungen am Arbeitsmarkt.
Welche Aufgaben müsste die Arbeitsagentur denn da übernehmen?
Wir müssen außer Arbeitslosen auch Menschen unterstützen, die in Beschäftigung sind. Daneben wird Fachkräftezuwanderung in den nächsten Jahren eine zunehmende Rolle spielen. Es gibt riesige Veränderungen am Arbeitsmarkt, ganze Branchen wandeln sich, etwa durch Digitalisierung und Dekarbonisierung.
Zum Beispiel in der Autoindustrie …
Ja, durch den Wechsel vom Verbrenner zur E-Technik, aber genauso durch die digitale Vernetzung der gesamten Wertschöpfungskette. Manche Änderungen beginnen schleichend, werden aber immer schneller. Die Digitalisierung betrifft fast alle Branchen. Gerade habe ich in einem Altenheim gesehen, dass die Technik auch dort die Arbeit erleichtern kann. Ich sehe in der Digitalisierung mehr Chancen als Risiken. Die Wissenschaft sagt, dass dadurch in den nächsten Jahren 1,5 Millionen Arbeitsplätze wegfallen, aber ebenso viele entstehen. Wir als BA fangen erst an mit lebenslanger beruflicher Beratung – die kann teilweise auch online stattfinden.
Derzeit steigt die Kurzarbeit, und die Leiharbeit sinkt. Sind das Vorboten steigender Arbeitslosigkeit?
Die Konjunktur kühlt sich derzeit ab. Vor 15 Jahren hätte das rasch dazu geführt, dass die Arbeitslosigkeit deutlich steigt. Heute sehen wir, dass dennoch weiter nach Fachkräften gesucht wird. Die Unternehmer überlegen sich gut, ob sie noch Nachwuchs finden und ob sie die Fachkräfte wiederbekommen, wenn sie sie gehen lassen. Allerdings sehen wir auch, dass die Arbeitslosigkeit bei gering Qualifizierten steigt, darunter sind auch Menschen in Zeitarbeit. Was für mich aber besonders wichtig ist, und das möchte ich betonen: Das Risiko, arbeitslos zu werden, ist insgesamt so gering wie nie.
Das Gespräch führte Georg Moeritz
Foto: © Kristin Richter