Das Umfrageergebnis überrascht die Wenigsten: 190 000 Beschäftigte in bundesweit 1 400 Unternehmen der Metall- und Elektroindustrie wollen laut Industriegewerkschaft Metall im nächsten Jahr lieber acht zusätzliche freie Tage statt mehr Lohn. Diese Option hatten regionale Tarifverträge vom Februar jenen eingeräumt, die Kinder betreuen, Angehörige pflegen oder in Schichten arbeiten.
Im IG-Metall-Bezirk Sachsen-Berlin-Brandenburg lagen Ende Oktober rund 25 000 Anträge aus etwa 100 Betrieben vor. Kein Wunder: Wegen dort dominierender Schichtarbeit kommen fast 90 Prozent von derart Beschäftigten. „Das zeigt, wie sehr ihre Belastungen vor allem durch Mehrarbeit und Sonderschichten in den vergangenen Jahren gestiegen sind“, sieht sich IG-Metall-Bezirksleiter Olivier Höbel bestätigt. Die Mitarbeiter brauchten dringend mehr zeitliche Freiräume – auch zum Erhalt ihrer Gesundheit, sagt er und: „Flexibilität ist jetzt keine Einbahnstraße mehr!“
Was die Bahn- und Lokführergewerkschaften EVG und GDL vor knapp zwei Jahren erstmals thematisierten und durchsetzte ist nun branchenübergreifend Usus bei Tarifforderungen und ein wertvolles Gut: freie Zeit für sich und die Familie. „Mehr Selbstbestimmung bei der Arbeitszeit ist ein Wunsch, der landauf und landab zu hören ist“, sagt Gewerkschafter Höbel.
In Leipzigs Porsche-Werk mit 4 500 Mitarbeitern wurden 2 500 Anträge gezählt. In der dortigen BMW-Fabrik mit 5 200 Leuten liegen 2 100 Gesuche vor. „Ich gehe davon aus, dass sie auch genehmigt werden“, sagt Betriebsratschef Jens Köhler. Es werde deutlich, „dass die Kolleginnen und Kollegen zwischendurch Luft holen müssen“, und es sei „ein deutlicher Fingerzeig, dass die Arbeitszeit dauerhaft reduziert werden muss“.
In Ostsachsen ist das Echo ähnlich. Im Planeta-Werk des Druckmaschinenbauers Koenig & Bauer (KBA) etwa hätten sich von 830 Schichtarbeitern unter 1 219 Beschäftigten 480 für mehr Freizeit entschieden, sagt Willi Eisele, 1. Bevollmächtigter der IG Metall in Dresdenweiter zur Lokalausgabe Dresden und Riesa. Jedoch würden wohl nicht alle die Bedingungen erfüllen: schon drei Jahre und auch in der Folge in Schichten arbeiten, ein Kind unter acht Jahren erziehen oder Angehörige mit Pflegegrad haben, räumt Eisele ein.
Die regionalen Tarifverträge der Branche schreiben fest, dass solche Beschäftigte einen Teil des neuen tariflichen Zusatzgeldes in Höhe von 27,5 Prozent eines Monatslohns in Freizeit umwandeln können. Die Anträge für 2019 mussten bis 31. Oktober beim Arbeitgeber eingereicht werden.
„Insgesamt geht der Trend zu mehr Liebe statt Geld“, sagt Gewerkschaftsfunktionär Eisele in Anlehnung an eine legendäre Fernsehshow mit Jürgen von der Lippe. Auch bei den Elbe Flugzeugwerken in Dresden hätte sich mit 320 von 680 Schichtarbeitern in der 1 100-köpfigen Belegschaft fast die Hälfte für das Modell entschieden. „Der Anteil ist noch viel höher, weil wir nur Meldungen bei Betriebsräten erfasst haben, viele den Antrag aber bei der Personalabteilung abgegeben haben“, so Eisele.
Die ebenfalls vereinbarte Möglichkeit, die Arbeitszeit bis zu zwei Jahre ohne Lohnausgleich auf 28 Stunden zu verkürzen, beantragten bundesweit 8 000 Beschäftigte. Aus Sachsen, Berlin und Brandenburg gibt es 600 Anträge. Nutzer können danach zur ursprünglichen Arbeitszeit zurückkehren.
Sachsens Arbeitgeber wissen um die große Resonanz. „Ganz offensichtlich spielt der Wunsch nach einem höheren Einkommen – angesichts der hohen Löhne in den tarifgebundenen Unternehmen der sächsischen M+E-Industrie – nicht mehr die zentrale Rolle“, sagt Sandra Lange, Sprecherin des Tarifverbandes VSME. Sie verweist darauf, dass laut Vertrag „jeder Freistellungstag im Betrieb von einem gleich qualifizierten Mitarbeiter durch längere Arbeitszeiten auszugleichen ist“. Das heißt: „Betriebsintern müssen andere Mitarbeiter für ihre Kollegen einspringen, denn das Arbeitszeitvolumen darf sich nicht verringern und die betrieblichen Abläufe nicht gefährdet werden.“
Schließlich sicherten Termin- und Qualitätstreue langfristig Arbeitsplätze, so die Sprecherin der Interessenvertretung mit noch 59 Mitgliedsbetrieben. Zur möglichen Mehrbelastung der Betriebe äußert sich der VSME auf SZ-Anfrage nicht – auch nicht, ob nur Gewerkschaftsmitglieder oder alle Beschäftigten eine Wahlmöglichkeit bekommen sollen. Der Arbeitgeber-Dachverband Gesamtmetall stellt aber klar, dass Betriebe Anträge ablehnen dürfen, wenn dort im Gegenzug kein Mitarbeiter länger arbeiten will.
„Arbeitgeber haben zahlreiche Möglichkeiten, die ausfallenden Arbeitszeiten auszugleichen“, sagt IG-Metall-Mann Höbel. Nutzung von Arbeitszeitkonten, Qualifizierung und Förderung der Beschäftigten seien nur einige Möglichkeiten für eine vorausschauende Personalpolitik. „Wer heute gute Fachkräfte gewinnen will, muss Arbeitszeiten bieten, die zum Leben passen“, so der gebürtige Münchner. Er hatte den regionalen Chefposten 2004 übernommen, ein Jahr nach dem gescheiterten Streik für eine 35-Stunden-Woche in Ostdeutschland.
Für den gelernten Kfz-Mechaniker und diplomierten Sozialwirt ist dieses Thema nicht vom Tisch. Auch im Westen gibt es Handlungsbedarf, klaffen Tarifvertrag und Realität 34 Jahre nach dem Einstieg auseinander: Nur jeder fünfte Beschäftigte arbeitet tatsächlich 35 Stunden, das Gros teils deutlich mehr.
Ost-Metaller bekommen zwar den gleichen Lohn wie ihre Kollegen „drüben“ – vorausgesetzt sie sind in der IG Metall, und ihr Chef ist als Verbandsmitglied tarifgebunden. Dafür arbeiten sie pro Woche drei Stunden länger, übers Jahr einen Monat. Die Branche zählt in Sachsen etwa 1 700 Unternehmen. In 140 Betrieben gelten Flächentarif-, Haus- oder Anerkennungsverträge. Somit erhält weniger als die Hälfte der 190 000 Beschäftigten Tariflohn.
Von Michael Rothe
Foto: © Ralph Koehler/propicture