Böhlen. Die Ankündigungen klangen vielversprechend: Gemeinsam mit dem britischen Unternehmen Mura sollte im Industriegebiet Böhlen-Lippendorf Europas größte Anlage für chemisches Recycling von Kunststoffen entstehen.
Jetzt kommt für die millionenschweren Absichten das Aus: „Mura Technology und Dow haben gemeinsam beschlossen, die 2022 angekündigten Pläne zum Bau einer Anlage für chemisches Recycling am Dow-Standort Böhlen nicht weiterzuverfolgen“, teilt Dow-Sprecher Florian Hartling auf LVZ-Anfrage mit.
Dow und Mura legen Großvorhaben zu den Akten
„Diese gemeinsame Entscheidung spiegelt das gegenwärtige industrielle Umfeld in Europa wider, in dem die Wettbewerbsfähigkeit industrieller Investitionen durch anhaltende wirtschaftliche und regulatorische Herausforderungen beeinträchtigt wird – einschließlich jener, die auf nachhaltige Technologien abzielen“, so der Sprecher der Dow Olefinverbund GmbH mit Sitz in Schkopau.
Sogar Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) war angereist, um im September 2022 die frohe Botschaft zu verkünden und das für den Strukturwandel im Leipziger Südraum wichtige Großvorhaben zu feiern. Gemeinsam mit der damaligen Dow-Deutschland-Chefin Katja Wodjereck und Mura-Projektleiter Oliver Borek trat der Regierungschef vor die Presse.

Die Pläne hörten sich in jeder Hinsicht ambitioniert an: Am Dow-Standort in Böhlen sollte eine Anlage für die Verarbeitung von 120.000 Tonnen Kunststoffabfällen im Jahr entstehen. Es wäre die größte Anlage ihrer Art in Europa und die erste in Deutschland gewesen.
Die geplante Investition sollte im dreistelligen Millionenbereich liegen. Mindestens 100 Arbeitsplätze waren im Gespräch. Carlo de Smet, damaliger Dow-Standortleiter, verknüpfte mit der innovativen Anlage die Hoffnung, engagierte junge Leute für die chemische Industrie zu interessieren.
In Deutschland fallen jährlich weit mehr als sechs Millionen Tonnen Plastikabfälle an. Der meiste Teil davon wird verbrannt, nur ein geringer Teil wiederverwertet. Dort wollten Mura und Dow ansetzen. Nicht weniger als die Bekämpfung des Klimawandels und des weltweiten Plastikmüll-Problems waren die ausgerufenen Ziele.
Sein Verfahren schildert Mura als einzigartig. Unter Einsatz von Wasser, Hitze und Druck werden alle Arten von Kunststoffen, einschließlich derer, die bislang als nicht recycelbar gelten, wieder in die Öle und Chemikalien verwandelt, aus denen sie hergestellt wurden.
Michael Kretschmer war 2022 voll des Lobes
Sachsens Landeschef war deshalb 2022 auch voll des Lobes: „Die Errichtung Europas größter Recyclinganlage in Böhlen ist ein großer Erfolg für den Industrie- und Innovationsstandort Sachsen. Dow und Mura werden mit ihrer Partnerschaft von Sachsen aus einen wertvollen Beitrag für eine nachhaltige Welt leisten. Chemisches Recycling ist eine Schlüsseltechnologie auf dem Weg zu einer ressourcenschonenden und klimaneutralen Kreislaufwirtschaft.“
Die Kooperation von Dow und Mura, pries der Sachsen-Chef die Großansiedlung, schaffe zukunftsfähige Arbeitsplätze, stärke den traditionsreichen Standort und unterstütze den Strukturwandel.
Auch Dow hatte großes Interesse an dem Vorhaben. Der Chemie-Konzern wollte den Einsatz seines fossilen Produktionsgrundstoffes Naphta (Rohbenzin) im Cracker verringern. Doch zu einer finalen Investitionsentscheidung kam es nie.
Cracker-Aus besiegelte auch das Ende des Mura-Projekts
Mit dem vor Monaten verkündeten Aus für den Böhlener Cracker kehrten sich die Vorzeichen mit einem Schlag um. Mit der geplanten Stilllegung fehlte dem Mura-Projekt der sicher geglaubte Abnehmer für das als Naphta-Ersatz gedachte Öl.
Obwohl das Böhlener Projekt gestoppt ist, würden sich Dow und Mura weiter gemeinsam dafür einsetzen, die Kapazitäten für chemisches Recycling auszubauen und eine Kreislaufwirtschaft für Kunststoffe weltweit voranzutreiben, erklärte Dow-Sprecher Hartling zu den neuen Umständen.
Mura und Dow arbeiten jetzt in Nordengland zusammen
„Gemeinsam werden derzeit neue Möglichkeiten geprüft, um das Lieferportfolio in Europa zu erweitern. Unter anderem arbeitet Dow weiterhin eng mit Mura sowie anderen Partnern zusammen, um den Start der Betriebsphase der Mura-Anlage in Wilton (Teesside), Großbritannien, zu unterstützen.“ In Nordengland will Mura vorerst 20.000 Tonnen Kunststoffe recyceln.
Während die Pläne für Böhlen endgültig ad acta gelegt sind, strebt Mura neue Vorhaben in Asien an. Erst vor wenigen Tagen verkündeten die Briten im Kampf gegen den Plastikmüll ein Engagement in Singapur.
Zu der von Landrat Henry Graichen (CDU) zuletzt betonten Öffnung des Böhlener Standortes für andere Interessenten erklärte der Dow-Sprecher: „Auch in Böhlen hat Dow bereits in der Vergangenheit an Neuansiedlungen für die Standorte gearbeitet. Diese Bestrebungen werden mit der Entscheidung zur Schließung einzelner Dow-Anlagen am Standort nun verstärkt.“
Dow sei aktuell mit verschiedenen potenziellen Partnern und Unternehmen sowie mit politischen Vertretern in intensiven Gesprächen. „Allerdings ist es noch zu früh, um konkrete Details zu kommunizieren.“