Leipzig. Die Gerechtigkeitslücke, die die Espenhainer Braunkohlekumpel fühlen, lässt sich auf Seiten drucken. 252 hat der jüngste Band, in dem die Bergleute ihren juristischen Kampf für eine höhere Rente dokumentieren. Es ist der vierte. Dazu kommen Handgeschriebenes, Kopien, Sozialversicherungshefte, Fotos.
Klaus-Dieter Wolf und Günter Freitag sitzen in einem Büro der Leipziger Linken. Um sich herum ausgebreitet haben sie die Flut von Dokumenten. Die beiden über 80-Jährigen zitieren daraus. Freitag kann das langzeilige Aktenzeichen eines Urteils auswendig. Sein Fazit: „Wir wurden kalt enteignet.“
Von einst 600 Betroffenen leben etwa 350
Die Geschichte klingt einfach, ist aber in ihren Wirrungen komplex. Braunkohleveredelung – aus der Kohle werden in aufwendigen Verfahren Briketts und Treibstoff gewonnen – ist für die Beschäftigten eine anstrengende, riskante und überaus fordernde Arbeit, staubig und gefährlich. Deshalb wurden ihnen in der DDR bereits 1968 besondere Ansprüche mit einer Art Entschädigungscharakter zuerkannt. Wer bis Ende 1996 in Rente ging, erhält sie. Wer danach ging, erhält sie nicht.
Betroffene empfinden das als demütigend. Ehemalige Bergleute der mittlerweile stillgelegten Braunkohleveredelung schlossen sich vor mehr als 20 Jahren zur Solidargemeinschaft Espenhain/Borna zusammen, die die Ingenieure Wolf und Freitag nach außen vertreten. Von einst 600 Betroffenen leben etwa 350. „Uns fehlen etwa 500 Euro im Monat“, sagt Freitag. So hoch ist nach seiner Berechnung der gestrichene Rentenanspruch heute.
Prominente Unterstützer aus der Politik
Die sich fast drei Jahrzehnte hinziehende Auseinandersetzung enthält filmreife Szenen. Freitag und Wolf berichten von langen Verhandlungsrunden in Berlin, nächtlichen Disputen und immer neuen Anläufen. Der mittlerweile verstorbene CDU-Politiker Norbert Blüm setzte sich für die Kumpel ein – erfolglos. Auch der Linke Gregor Gysi versuchte sich. Die Grünen im Bundestag brachten das Thema per Antrag ins Plenum. Zu den SPD-Unterstützern zählen die frühere Leipziger Bundestagsabgeordnete Daniela Kolbe und Sachsens Vizeregierungschefin Petra Köpping.
Die Ministerin widmete den Espenhainern in ihrer 2018 erschienenen Streitschrift „Integriert doch erst mal uns“ einen Abschnitt mit dem Untertitel „Ungerechtigkeiten, die bis heute bestehen“. Mit Blick auf das Auslaufen der Regelung 1996 schrieb die frühere Landrätin: „Doch nun argumentierte die gesamtdeutsche Knappschaft: Wer nicht unter Tage arbeitete, sondern in einer staubigen Halle mit toxischen Dämpfen … hat keinen Anspruch auf diese Zusatzrente.“

Anders gesagt: Die DDR behandelte die Espenhainer wegen des krassen Jobs als Bergleute – auch wenn sie oberirdisch arbeiteten. Aufgrund der Gefahren galten bis 1996 Ansprüche wie unter Tage. Im Westen, wo überwiegend die weniger schwefelhaltige Steinkohle verarbeitet wurde, fällt dieser Aspekt kaum ins Gewicht.
Zudem war die Bundesregierung im Zuge der Vereinigung von einer Angleichung der Ost- an die Westrenten bis 1996 ausgegangen. Der damalige Sozialminister Blüm sprach, wie Köpping anmerkte, im Nachhinein von einem Fehler. Korrigiert wurde er bislang nicht.
Rente für Hilfe aus dem Härtefallfonds zu hoch
Die Espenhainer Braunkohlekumpel sind nicht naiv. Ihnen ist klar, dass sie nicht über Jahrzehnte rückwirkend 500 Euro pro Monat erhalten. Daher setzten sie zunächst Hoffnungen auf eine Härtefallregelung.
Ende 2022 brachte die Bundesregierung den sogenannten Härtefallfonds auf den Weg. Wer in der DDR gearbeitet hat und eine Rente nahe der Grundsicherung erhält, kann einmalig Unterstützung von 2500 Euro beantragen. Für die Kumpel aus dem Südraum Leipzig kommt diese Hilfe jedoch nicht infrage. Ihre Rente ist dafür zu hoch.
Jetzt tut sich etwas in dem verfahrenen Fall
Freitag und Wolf lassen sich nicht abschrecken. Sie erzählen von den Härten des Berufs, wie Kumpel aufgrund der Gasbelastung bewusstlos wurden, aber auch von immer neuen Anläufen für ihre Rente, eine Einmalzahlung, eine Entschädigung.
Womöglich kommt nun Bewegung in die verfahrene Causa. Ein Parteitag hat Sachsens Sozialministerin Köpping unlängst an die SPD-Spitze im Bund gewählt. Auch Bundessozialministerin Bärbal Bas ist Sozialdemokratin. „Als stellvertretende SPD-Vorsitzende werde ich das Gespräch mit Frau Bas suchen“, sagte Köpping dieser Zeitung.
Auch die Linke wird erneut aktiv. Zwei der im Wahlkampf erfolgreich tourenden Silberlocken versuchen sich an einer Lösung. Bundestagsvizepräsident Bodo Ramelow und Gysi suchen das Gespräch mit der Knappschaft. Dabei sein wird auch der Leipziger Bundestagsabgeordnete Sören Pellmann.
In einem der vielen Schreiben, die die Solidargemeinschaft an Politiker geschickt hat, heißt es: „Wir Bergleute wollen keine Gesetzesänderung, sondern nur die Anerkennung unserer Lebensarbeitsleistungen wie Kumpel West nach Schließung der Zechen.“