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Vier von der Bahn erzählen, warum sie streiken

Die Lokführergewerkschaft GDL streikt für die 35-Stunden-Woche und mehr Geld. Wer sind die Leute, die angeblich nicht genug kriegen, Utopisches fordern und unsolidarisch sind? Ein Stimmungsbild von der Basis.

Lesedauer: 7 Minuten

Man sieht vier Mitarbeitende der Bahn.
Zum Streik bereit: der Schienenfahrzeugelektriker Tim Liepelt, die Zugbegleiterin Heike Richter, die Zugchefin im Fernverkehr Bettina Opitz und der Lokführer Nick Beier (v.l.) vor dem Bahnhof Dresden-Neustadt. © kairospress

Von Michael Rothe

Es ist ein ungleiches Quartett, das sich da an einem der ersten Nachmittage des neuen Jahres am Bahnhof Dresden-Neustadt zum Gruppenbild trifft: Zwei junge Kerle und zwei Frauen, die ihre Mütter sein könnten. Obwohl sich die Protagonisten kaum kennen, ist es ein Familienfoto, das da vor vertrauter Kulisse entsteht. Sie kommen aus unterschiedlichen Berufswelten und gehören doch zur gleichen Spezies: Beschäftigte der Deutschen Bahn (DB). Klaus-Peter Schölzke, Betriebsratschef von DB Regio Dresden, musste nicht lange suchen, um auf SZ-Anfrage Freiwillige zu finden, die öffentlich über ihre Arbeit reden. Einen Job, der zum Leidwesen von Millionen Reisenden aus Verspätung, Chaos, Pannen besteht.

Den Vier, alle Eisenbahner mit Leib und Seele, geht es vor allem darum, mit Vorurteilen und Falschinformationen über sich aufzuräumen. Über eine Truppe, die Konzern, Boulevard, Arbeitgeberlobby, Teile von Politik und Gewerkschaften als nimmersatt, unverschämt und unsolidarisch betiteln. Tatsächlich besteht ihr Name aus drei, manchen Angst einflößende, Buchstaben: GDL.

Die streikerfahrene Lokführergewerkschaft will die Republik von Mittwoch bis Freitag lahmlegen. Wieder mal. Doch wer sind diese Menschen im gut 40.000-köpfigen Gefolge von Claus Weselsky – für einige der meistgehasste Deutsche, für andere der letzte echte Arbeiterführer im Land? Ein Stimmungsbild von der GDl-Basis.

Der Lokführer: „Die Bahn spart selbst an der Uniform“

Nick Beier hat einen „dicken Hals“. Und da ist der kaputte Reißverschluss seines Dienst-Anoraks noch das kleinste Übel. Die DB spare an allem, sogar an den Klamotten, die schnell verschleißen würden, schimpft er. Der 22-Jährige ist als Lokführer bei DB Regio auf Dresdens S-Bahn unterwegs, pendelt mit dem Regionalexpress nach Leipzig und bedient Linien nach Hoyerswerda, Cottbus und Elsterwerda-Biehla.

Nick Beier ist Lokführer bei DB Regio und dort vor allem mit der Dresdner S-Bahn, dem Regionalexpress Dresden-Leipzig sowie nach Hoyerswerda, Cottbus und Elsterwerda-Biehla unterwegs.© kairospress

Nick ist fünf Jahre dabei und verdient 3.127 Euro brutto, wovon dem Alleinstehenden 2.200 Euro bleiben. Er empört sich über Martin Burkert, Chef der mit der GDL verfeindeten Bahngewerkschaft EVG, der in einem Interview behauptet hatte, Lokführer verdienten 3.000 bis 4.000 Euro netto. Selbst mit 30 Jahren Berufserfahrung komme seinesgleichen laut Tarifvertrag auf maximal 3.661 Euro brutto, sagt er. Und das bei Schichtbetrieb rund um die Uhr.

„Innerhalb von fünf Wochen habe ich nur zwei zusammenhängende Tage frei, 26 sind komplett mit Arbeit belegt“, erzählt er. Da könne man sich privat selten Größeres vornehmen. Er habe eher zu kämpfen, genug Schlaf zu bekommen, sagt Nick mit Blick auf die hohe Verantwortung, die er und seine Kollegen tragen. „Daher fordert die GDL, 48-Ruhestunden zu tarifieren“, wirft Betriebsrat Schölzke ein, der mit Gewerkschaftsmandat im Konzern-Aufsichtsrat sitzt. Derzeit seien es nur 36 Stunden.

Außerdem variiert Beiers Arbeitsbeginn täglich, je nach Abfahrtszeit des zugeteilten Zuges. Sein Dienstplan ist minutiös getaktet, ohne Puffer für Havarien. „Wir schaffen es nicht mal, kleine Störungen zu beheben, weil der nächste Zug vorbereitet werden muss“, sagt der Lokführer. So entstünden dann Verspätungen. Es werde immer mehr eingespart, auch die Ölkontrolle bei Dieseltriebzügen zum Feierabend. Fehle dann Öl, bleibe der Zug stehen, müsse jemand aus Dresden nach Kamenz fahren, „um fünf Liter Öl reinzuschütten“. Auch die Dienst-Uniform werde abgeschafft. Die Schicht beginne künftig in zivil am Gleis, habe es im Dezember geheißen. Das soll acht Minuten für den Weg von der Umkleide zum Zug sparen – und der DB viel Geld.

Die Zugchefin: „Die Reisenden bedauern uns“

Auch im Fernverkehr kämen Lokführer jetzt in Jeans und Hawaii-Hemd, berichtet Bettina Opitz, die dort Zugchefin ist. „Gerade Nachwuchskräfte hängen so auch die Berufsehre an den Nagel, die viele noch von ihrem Vater kennen“, sagt die 55-Jährige, die auch als Praxistrainerin arbeitet. Sie verdient nach 38 Dienstjahren 3.800 Euro brutto, „das Ende der Fahnenstange“, sagt sie.

Die zweifache Mutter kann auf eine betriebliche Zusatzrente von maximal 140 Euro im Monat hoffen sowie auf 50 Euro aus einem Pensionsfonds. Eine Ex-Kollegin bekomme nach 47 Dienstjahren knapp 100 Euro Betriebsrente. Zum Vergleich: Bahn-Vorstände können im Schnitt mit Ruhestandsgehältern von über 20.000 Euro im Monat rechnen, wie die Süddeutsche Zeitung herausfand.

Bettina Opitz ist Zugchefin im Fernverkehr der Deutschen Bahn. Die Kundenbetreuerin arbeitet außerdem als Praxistrainerin.© kairospress

„Im Fernverkehr übernachten wir zwei, drei Mal pro Woche fremd“, beschreibt Opitz ihren Alltag. Sie bezahle Frühstück und Kaffee aus eigener Tasche, „und wenn ich Pech habe, hat, wenn mein Zug um 5.00 Uhr fährt, nicht mal ein Bäcker auf“.

Die Mittfünfzigerin hat schon viel an Wandel mitgemacht: von der Reichsbahn zur Bundesbahn, dann zur AG. „Ich habe immer gedacht, es geht nicht schlimmer“, sagt sie. Doch da habe sie sich geirrt. Ihr Dienstplan sei nur eine Richtzeit, Feierabend im Fernverkehr wie ein Fünfer im Lotto. „Wir werden immer später, dreckiger und die Züge immer voller“, schimpft sie. Aber sie gehe nicht mit Angst durch die Abteile. „Die Leute sehen, dass wir das Chaos, das sie einmal erleben, täglich durchmachen und bedauern uns eher“, sagt sie.

Im November waren nach Lesart der Bahn nur 52 Prozent der Fernzüge pünktlich. Selbst die Zugchefin hat keine Erklärung, warum die Deutsche Bahn Verspätungen erst ab sechs Minuten und Ausfälle gar nicht zählt.

Die Selbstbedienungsmentalität der Konzernspitze sei ein Aufreger in den Betriebskantinen, beschreibt das Quartett die Stimmung an der Basis. Jüngst wurde bekannt, dass der damals neunköpfige Vorstand für 2022 Boni von fast fünf Millionen Euro erhält – trotz verfehlter Ziele und zusätzlich zum Grundgehalt von insgesamt vier Millionen Euro. So kassiert Personalvorstand Martin Seiler, der gerade mit der GDL verhandelt und deren Forderungen „weltfremd“ und „unerfüllbar“ nennt, 736.000 Euro on top. Bahnchef Richard Lutz kommt mit der Gratifikation auf 2,24 Millionen Euro im Jahr, etwa das 53-fache eines Lokführergehalts.

Die Schaffnerin: „Wir platzen aus allen Nähten“

Da schluckt man schon, sagt Heike Richter, Kundenbetreuerin im Nahverkehr. Dieselben Leute hätten sich vor einem Jahr damit geschmückt, dass alle Bahner 150 Euro Inflationsausgleich bekommen, so die Zugbegleiterin. Ihr Frust sei groß, zumal neben dem Vorstand 3.500 weitere Führungskräfte hohe Boni erhalten hätten.

Heike Richter ist Zugbegleiterin. Trotz ihres Facharbeiterabschlusses bei der DDR-Reichsbahn, hat die DB ihre langjährige Berufserfahrung als Schaffnerin beim Wiedereinstieg in den Job nicht anerkannt.© kairospress

Die 53-Jährige hatte noch bei der DDR-Reichsbahn gelernt. Nachdem die DB Strecken an Wettbewerber verloren hatte, landete sie in einer Transfergesellschaft und sollte in den Westen wechseln. „Frankfurt, München, Hamburg waren die Alternativen zum Aufhebungsvertrag.“ Doch die kamen für sie, die zum zweiten Mal Mutter geworden war, nicht infrage. Sie ging und kehrte „aus Liebe zum Beruf“ zurück, nach 17 Jahren als Köchin in einem Pflegeheim. Ihre langjährige Berufserfahrung als Schaffnerin hat die Bahn beim Wiedereinstieg nicht anerkannt. Als Quereinsteigerin bekomme sie in der untersten Lohngruppe 2.566 Euro brutto, sagt sie. Maximal 2,895 Euro seien drin – nach 30 Dienstjahren in Vollschicht.

Die Zugbegleiterin hat 28 Tage Urlaub. Weil das bei der Belastung nicht reicht, hat sie Freizeit hinzugekauft. Das dürfen alle Eisenbahner: sechs oder zwölf Tage für 2,6 bzw. 5,2 Prozent vom Brutto-Monatslohn. 90 Prozent der Schichtarbeiter nehmen die Einbußen inkauf. „Wir platzen wegen des 49-Euro-Tickets aus allen Nähten“, berichtet die Schaffnerin. Es fehle an Fahrzeugen, die Toiletten seien übervoll, die Waggons vermüllt, „und wir werden im Nahverkehr oft verbal attackiert“, sagt Heike Richter. Jedes dritte Wochenende habe sie frei. Überstunden könnten abgefeiert werden, „wegen Personalnot aber eher theoretisch“.

Der Werkstattmitarbeiter: „Der Fuhrpark ist am Ende“

Tim Liepelt kam in orangefarbener Werkstattkluft zum Treff. Der Schienenfahrzeug-Elektriker kennt ebenfalls Kollegen, die nach der Umstrukturierung unfreiwillig zur Konkurrenz gingen, zurück kamen und mit nochmaligem Erwerb der Lizenz wieder ganz unten anfangen mussten – auch finanziell. Sie waren nach Jobabbau vom Marktführer zu Privatbahnen gewechselt und wiedergekommen, als der sagte: „Wir brauchen Euch doch“.

Tim Liepelt ist Schienenfahrzeug-Elektriker und repariert in der Dresdner Werkstatt Loks mit 7.000 PS. Unlängst trat er in die Lokführergewerkschaft GDL ein.© kairospress

Der 21-Jährige selbst ist nach seiner Lehre erst ein Jahr im Job. Zeit genug, um zu sehen, was schief läuft. „Wir spüren die jahrzehntelange Sparpolitik, die Fahrzeuge sind am Ende“, sagt er. Wegen Materialmangels würden schrottreife Loks zerlegt, um mit den Teilen anderen ein Restleben zu geben. „Auch uns wollte man weißmachen, wir brauchten keine Arbeitskluft mehr“, so der junge Mann, der Loks mit 7.000 PS repariert. Er verdient 2.569 Euro brutto im Monat. Davon bleiben dem Alleinstehenden 1.830 Euro. Er kann nur noch eine Lohngruppe klettern und hätte dann 200 Euro mehr. Der 24-Stunden-Schichtplan billigt ihm sieben freie Tage im Monat zu, Wochenenden sind mit 11:45 Stunden Arbeitszeit belegt.

Liepelt verweist auf den Stress der fast 70 Werkstattleute in Dresden: „Wir stehen ständig mit einem Bein im Knast, falls etwas passiert“, sagt er. 2023 seien neun Kollegen gegangen, auch zu besser zahlenden Firmen wie den Elbe Flugzeugwerken und BMW in Leipzig – wo es zudem in absehbarer Zeit eine 35-Stunden-Woche geben soll.

Die will Liepelt perspektivisch auch bei der DB haben, und ist deshalb in die GDL eingetreten. Überhaupt wolle er mit der verbreiteten Mär aufräumen, es gehe nur um Lokführer. „Die GDL hat Mitglieder in allen Sparten des unmittelbaren Bahnbetriebs“, sagt er. Es sei nicht nachvollziehbar, warum der Vorstand seiner Gewerkschaft in nur 19 der 300 Bahnbetriebe eine Mehrheit gegenüber der EVG zugesteht – und so laut Tarifeinheitsgesetz dort die Anwendung ihrer Verträge. Er und seine Mitstreiter denken, dass das Kräfteverhältnis tatsächlich anders ist, nicht nur bei den Lokführern.

„Die EVG hat bei Zugbegleitern keine Mehrheit mehr“, ist sich Zugchefin Opitz sicher. Die endgültige Klärung kann jedoch Jahre Jahre dauern, eine 2021 eingereichte GDL-Klage ist erst in der zweiten Instanz. Außerdem gibt es seit voriger Woche eine weitere juristische Baustelle: Der Konzern stellt neuerdings die Tariffähigkeit der GDL und ihre Abschlüsse infrage. Grund: deren bereits im Sommer gegründete Genossenschaft Fair Train, die Lokführer zu besseren Bedingungen an Bahnen wie die DB verleihen soll.

Klaus-Peter Schölzke ist Betriebsratschef von DB Regio Dresden. Außerdem sitzt der gelernte Lokführer als einer von zehn Arbeitnehmervertretern im paritätisch besetzten Aufsichtsrat der Deutschen Bahn AG.© kairospress

Die 35-Stundenwoche wird es nur scheibchenweise geben, da macht sich das Quartett keine Illusionen. „Aber es wäre ein Anfang“, sagt Heike Richter. Die GDL hat unlängst mit den Bahnkonzernen Netinera und Go-Ahead Ähnliches vereinbart – ohne finanzielle Einbußen für Beschäftigte. Im 1. Schritt wird dort eine halbe Stunde weniger gearbeitet. Weil sich die GDL verpflichtet hat, alle Wettbewerber gleich zu behandeln, ist ihr Pilotabschluss nun auch Vorgabe für die Deutsche Bahn.

Das wollen die vier Dresdner nun per Streik durchsetzen. Entschlossenheit statt Selbstzweifeln und schlechten Gewissens. „Wir streiken ja am Ende für die Bahn und damit es besser wird“, sagt der Mann aus der Werkstatt. „Und es muss sich schleunigst etwas ändern“, ergänzt die Schaffnerin. „Wer Personal sucht, muss seine Jobs attraktiv machen“, betont die Ausbilderin. „Denn viele Ausgelernte haben die DB bald wieder verlassen“, weiß der Lokführer.

Gut möglich, dass sich das bunte Quartett am Mittwoch schon wieder sieht. Dann ohne vorbei eilende Reisende und im Hintergrund durchs Bild fahrende Züge. Dafür aber mit GDL-Flaggen und Streikplakaten.


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