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Weil sie die Heimat kulinarisch vermissen: Russisch-ukrainische Familie öffnet Feinkostladen

Olga Moiseeva, ihr Ehemann und ihre drei Kinder flüchteten 2019 aus der Ostukraine nach Deutschland. Mittlerweile sind sie dabei, in Görlitz ihre beruflichen Aufgaben zu finden – und haben große Pläne. Eine bewegende Geschichte über Liebe, Freundschaft, Familie, Krieg und Integration.

Lesedauer: 5 Minuten

Marc Hörcher

Görlitz. So etwas gab es bislang in Görlitz noch nicht: An der Hospitalstraße 10 in der Innenstadt hat ein neues Geschäft eröffnet. „Fischka“ nennt es sich, die Inhaberin bietet ukrainische Feinkost an. Dazu gehören getrocknete Fische und Fisch-Tiefkühlware, jedoch kein frischer Fisch, das wäre zu aufwendig, sagt die Laden-Chefin. Eine große Theke mit Spezialitäten aus Meer, Fluss und Zuchtteich steht präsent im Eingangsraum des Ladens.

Dahinter wacht freundlich lächelnd Olga Moiseeva, grüßt ihre Kunden, die meist in ukrainischer, russischer oder kasachischer Sprache mit ihr sprechen. Sie ist 43 Jahre jung, ihr Ehemann ist Ukrainer, sie selbst gebürtige Russin. Deutschkenntnisse hat Olga Moiseeva auf B1-Niveau. Manchmal reicht das aus, um sich auf Deutsch mit ihr zu verständigen, manchmal muss die Übersetzungs-App auf dem Handy als Telefonjoker gezogen werden.

Berufswunsch der Tochter ist Übersetzerin

Oft hilft ihre Tochter beim Dolmetschen. Liegt nahe, die 20-jährige Kseniia Moiseeva möchte später mal Übersetzerin werden, erzählt sie. Momentan lernt sie in Halle, macht G-Kurse für Literatur, Geschichte, Deutsch und Englisch, mit dem Ziel ein Studium an der Universität zu beginnen. „Aber jetzt sind dort Sommerferien, da helfe ich aus“, sagt sie, kassiert flugs die Ware eines Kunden und ist im nächsten Moment wieder dabei, beim Interview zu unterstützen.

Olga Moiseeva und ihre fünfköpfige Familie − die beiden Eheleute und ihre drei Kinder − lebten von 2014 bis 2019 in der Oblast Luhansk, ehemals ostukrainisches Gebiet. In ihrer Heimat arbeitete die Mutter viele Jahre lang als Hotelmanagerin. „Das war mein Traumjob“, schwärmt sie. Die Familie war glücklich. Russen wie Ukrainer gehörten mit zur Verwandtschaft und zum Freundeskreis.

Dann kam der Krieg. Seither werden Teile der Region Oblast Luhansk als „Volksrepublik Lugansk“ von russischen Militärs kontrolliert, später folgte die völkerrechtswidrige Annexion der gesamten Oblast einschließlich der weiter ukrainisch kontrollierten Gebiete durch den russischen Diktator Wladimir Putin. Die Familie blieb zunächst dort leben. Immer in Angst, stets Repressionen fürchtend, denn „wir gehörten nicht mit zu den Angepassten“, so formuliert die Mutter es.

Behördengänge waren vergleichsweise einfach

Irgendwann habe die Unsicherheit überwogen, die Familie flüchtete, kam nach Deutschland, alles ging plötzlich ganz schnell. So standen sie vor sechs Jahren da, in Frieden und Sicherheit − aber auch ohne Freunde, ohne Verwandtschaft und völlig ohne Kenntnisse der fremden Sprache. All das hat die Familie mittlerweile gefunden. Das Erlernen der Sprache beschreibt die 43-Jährige heute als eine der schwierigsten Dinge beim Ankommen. Die Behördengänge seien vergleichsweise einfach gewesen, das Finden von Freunden und Gleichgesinnten klappte über die Deutschkurse, die meisten, die sie empfingen, seien nett und entgegenkommend gewesen.

Aktiven Rassismus habe ich in Deutschland bislang nur einmal erlebt. Man hat mir gesagt, dass ich ohne Sprachkenntnisse kein Konto bei einer Bank eröffnen könne – auch nicht, wenn ich mit einem Übersetzer wiederkomme. Da bin ich einfach gegangen – zu einer anderen Bank. – Kseniia Moiseeva; Tochter der Inhaberin und Aushilfe im Fischka

Aktiven Rassismus habe sie in Görlitz nicht erlebt, erzählt Olga Moiseeva. Ihre Tochter überlegt kurz bei dieser Frage. „Doch, einmal“, sagt sie dann. „Ganz am Anfang, als ich noch kaum Deutsch konnte, ein Konto bei einer Bank eröffnen wollte. Da wurde mir am Schalter gesagt, sie eröffnen kein Konto für jemanden, der die Sprache nicht spricht.“ Und was, wenn sie später mit einem Übersetzer wiederkomme, habe die junge Frau gefragt. Nein, auch dann nicht, sei die Antwort gewesen. „Da bin ich gegangen − und habe das Konto bei einer anderen Bank eröffnet“, sagt Kseniia Moiseeva.

Wenn man Olga Moiseeva heute fragt, mit welchen Gefühlen sie auf den Kampf der beiden Brüdervölker blickt, aus Ihrer Sicht, als jemand, der in beiden Nationen in gewisser Weise zu Hause ist, seufzt sie, überlegt dann etwas, tippt auf dem Mobiltelefon in der Übersetzungs-Funktion herum. Sensibles Thema, sagt sie, sie wolle gut antworten. Man merkt ihr an, sie möchte jedes Wort genau formulieren, abwägen − und gleichzeitig deutlich sein. Empörung und Scham seien die vorherrschenden Gefühle. „Es ist furchtbar, daran zu denken, dass wir vielleicht etwas hätten ändern können“, erklärt sie. „Wir hätten etwas verändern können − und haben es nicht. Das ist das Schlimmste.“

Politische Entwicklungen machen die Mutter nachdenklich

Sie denke viel über die politische Situation in Europa nach in diesen Zeiten, ergänzt sie. „Im Moment passieren auf der ganzen Welt Dinge, die nicht passieren sollten. Ich kann immer noch nicht begreifen, wie das passieren konnte.“ Auch die Frage, welche politische Richtung Deutschland einschlägt, bewege sie. „In manchen Punkten stimme ich zu, in anderen würde ich anders handeln. Aber was kann ich raten, wenn wir in meinem Land einen totalitären Staat erlebt haben?“

Die Moiseevas sind froh, dass sie mittlerweile so gut angekommen sind in der Neißestadt. Nur ihre Sprachkenntnisse möchte sie ganz dringend noch weiter verbessern, sagt die Mutter, ihr Mann macht ebenfalls einen Sprachkurs. Der habe auch die Idee gehabt für die Eröffnung von „Fischka“. Dort gibt es die Spezialitäten aus ihrer Heimat, die von Landsleuten sehr vermisst und gerne gekauft werden − und von Deutschen mal neugierig, mal eher skeptisch beäugt werden.

So eine lange Zeit keine Arbeit zu haben, das war für uns das Schlimmste. Aber wir sind froh, dass es in dieser Zeit Möglichkeiten der Unterstützung gab. – Olga Moiseeva, Inhaberin Fischka

Ausdrücklich möchten sie auch Görlitzer dazu ermuntern, dort einzukaufen und so die kulinarische Kultur ihrer Heimat kennenzulernen. Geöffnet hat das „Fischka“ täglich von 10 bis 19 Uhr, außer sonntags. Wenn es nach ihnen gegangen wäre und es hierzulande erlaubt wäre, hätten sie gerne auch am Sonntag geöffnet, sagt Olga Moiseeva. Überhaupt: „So eine lange Zeit keine Arbeit zu haben, das war für uns das Schlimmste. Aber wir sind froh, dass es in dieser Zeit Möglichkeiten der Unterstützung gab.“ Auch ohne die Verwandtschaft in der Heimat hätten sie es nicht geschafft, die Eltern des Mannes hätten die Eröffnung des Feinkostladens in Deutschland finanziell mit ermöglicht.

In den Räumen des ukrainischen Feinkostladens Fischka an der Hospitalstraße 10 war früher ein Floristen-Atelier untergebracht, später ein anderes ausländisches Lebensmittel-Geschäft. Zuletzt standen die Räume länger leer.
In den Räumen des ukrainischen Feinkostladens Fischka an der Hospitalstraße 10 war früher ein Floristen-Atelier untergebracht, später ein anderes ausländisches Lebensmittel-Geschäft. Zuletzt standen die Räume länger leer.
Quelle: Martin Schneider

Olga Moiseeva steht weiter hinter der Fischtheke und erklärt Kunden, welche Waren es gibt. Mit ihrem Geschäft haben sie noch viel vor, erzählt sie: Das Sortiment erweitern, mehr Produkte hinzunehmen, vor allem mehr Fisch, aber auch noch mehr abgepackte ukrainische Süßigkeiten, Fruchtsäfte oder Bier, welches man in Görlitz sonst nirgends oder schwer bekomme. Dann soll die Inneneinrichtung erweitert werden, etwas mehr Deko hier, eine zweite Kühltheke dort. Bei dem einen Laden solle es nicht bleiben, später sollen noch Filialen in Cottbus und Dresden folgen.

Die Mutter hat als Inhaberin über all dem die Obhut. Alle weiteren Familienmitglieder helfen aus oder mit: Kseniia Moiseeva verkauft und übersetzt ins Deutsche, der 16-jährige Sohn Timofei unterstützt beim Tragen besonders schwerer Waren und bringt den Müll raus. Der Mann kümmert sich um die Lieferanten und um das Sortiment, sucht geeignete Produkte raus. „Sogar meine kleine Schwester Kira hilft manchmal mit“, sagt Kseniia Moiseeva und lacht. Die dreieinhalbjährige klebt fleißig die kleinen Preisschilder an die Regale.

SZ

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