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Wie die längste Einkaufsstraße Sachsens um ihr Überleben kämpft

Einst war Riesa stolz auf die längste Einkaufsstraße Sachsens, doch inzwischen ist der halb leere Boulevard zum Problem geworden. Jetzt helfen nur noch kluge Ideen, Optimismus – und eine schmerzhafte Einsicht.

Lesedauer: 6 Minuten

Man sieht eine Einkaufsstraße.
Ein Mittwochvormittag auf Riesas Einkaufsmeile: Die Hauptstraße hat schon bessere Zeiten erlebt und wird ihr Gesicht verändern müssen. © Ronald Bonß

Von Henry Berndt

Gardine mit Blumenmuster, Lamellenvorhang, klassischer Rollladen, Aufkleber: Es gibt viele Möglichkeiten, die Leere zu kaschieren. Auf der Riesaer Hauptstraße sind für jede Variante Beispiele zu finden. In den vergangenen Jahren schrieb ein Unbekannter auch immer mal wieder das Wort „LEER“ mit weißer Farbe an Schaufenster. Kritik oder nüchterne Feststellung? Unübersehbar ist: Der über anderthalb Kilometer lange Boulevard droht auszusterben. Das können auch die hübschen weiß-grünen Wimpelketten zwischen den Wänden nicht übertünchen.

Zwischen Tourist-Information und Rathausplatz steht inzwischen jedes zweite Geschäft leer, darunter auch das mit der großen Brille über dem Schaufenster. Seit 1894 betrieb der Optiker Carl Richard Nathan in der Hausnummer 33 seinen Laden. Sohn und auch Enkel führten das Unternehmen mehr als ein Jahrhundert lang erfolgreich weiter, doch vor etwa zehn Jahren war Schluss – zum Entsetzen der verbliebenen Stammkunden. Das kleine Haus müsste dringend saniert werden, aber auch nach einer Zwangsversteigerung Anfang des Jahres tut sich nichts. Ein typischer Fall von: kann und will niemand bezahlen.

Nach über 100 Jahren kam auch für Optiker Nathan das Aus.© Ronald Bonß

Historisch gewachsen, besitzt Riesa kein Zentrum mit zentralem Marktplatz. Stattdessen zieht sich der Boulevard parallel zur Elbe durch die Innenstadt. Vor der Wende fuhren auf der damaligen Ernst-Thälmann-Straße noch Autos. Die Umgestaltung zur Fußgängerzone begann 1991. Damals war die Entscheidung noch mit der Idee verbunden, den Schaufensterbummlern das optimale Einkaufserlebnis zu ermöglichen.

An die goldenen Zeiten Anfang der 1990er kann sich Annett Margenberg noch gut erinnern. Die50-Jährige kommt aus einer Kürschnerfamilie und betreibt den Lederwarenladen auf der Hauptstraße in siebter Generation. „Bis zur Wende führten wir nur Pelze, dann kamen die Lederjacken und Taschen dazu.“ Bei Margenbergs standen die Kunden Schlange.

„Wie überall gab es einen gewaltigen Nachholbedarf“, sagt sie. Doch die Zeiten hätten sich geändert. Zwar seien die Umsätze halbwegs stabil, doch die rasant steigenden Kosten raubten die Gewinne. Schon jetzt steht fest, dass Annett Margenberg diejenige sein wird, die den Laden eines Tages ein letztes Mal hinter sich abschließen wird.

In siebter Generation betreibt Annett Margenberg ihren Lederwarenladen. Sie wird die Letzte sein.© Ronald Bonß

Noch 2009 kündigte die Riesaer Stadtverwaltung an, künftig offensiv mit dem Slogan „längste Einkaufsmeile Sachsens“ werben zu wollen. 14 Jahre und Dutzende Geschäftsaufgaben später ist davon keine Rede mehr. Längst ist der Boulevard vom Aushängeschild zur Belastung geworden.

Für die Stadt und für jeden der verbliebenen Händler, deren Standort jede neue Lücke unattraktiver macht. Mit Slogans wie „Wir nähen einfach alles“ und „Sommerurlaub für die Haut“ werben sie um Aufmerksamkeit. Wer im Dönerladen den „Gigadöner“ im halben Fladenbrot innerhalb von 20 Minuten unter Aufsicht allein vertilgt, bekommt sein Geld zurück.

Trotz dieser verlockenden Angebote bleibt die Straße an diesem Mittwochvormittag fast leer. Wie so oft warten viele Händler auf den einen Kunden, für den sie sich die Beine in den Bauch stehen. Wer die Faxen dicke hat, der geht einfach, so wie jüngst drei Bekleidungsgeschäfte auf einen Schlag. Selbst größere Ketten wie Tchibo und Ernsting’s Family konnten nicht gehalten werden.

Für mehr Optimismus sorgen soll seit zwei Jahren Anja Dietel, auf deren Visitenkarte „Innenstadtmanagerin“ zu lesen ist. Die 44-Jährige ist erste Ansprechpartnerin für alle Fragen von Gewerbetreibenden und Kunden. Zu erreichen ist sie in ihrem Kontaktbüro mitten auf dem Boulevard. Unter anderem hilft sie bei Geschäftsübergaben, spricht mit Immobilienbesitzern, gibt Workshops für ehrenamtliche Initiativen und unterstützt Veranstaltungen, die wieder mehr Menschen auf die Hauptstraße ziehen sollen: Automeile, Cocktailmeile, Ehrenamtsmeile, Laufmeile.

Innenstadtmanagerin Anja Dietel sieht in der Hauptstraße großes Potenzial. Nur nicht unbedingt zum Einkaufen.© Ronald Bonß

Zaubern kann allerdings auch Anja Dietel nicht. „Wir müssen ehrlich sein. Den blühenden Einzelhandel, den wir aus vergangenen Jahrzehnten kannten, wird es in dieser Form nicht mehr geben. Der kommt nicht wieder zurück.“ Wer drückt sich heute schon noch seine Nase an der Schaufensterscheibe platt und erspäht in der Auslage das eine Teil, das er unbedingt haben will? Amazon und Co. haben dieses Stück Lebenskultur längst verdrängt. Im Internet ist das neue Kleid nur einen Klick entfernt, wird innerhalb weniger Stunden nach Hause geliefert und ist meist sogar noch zehn Euro billiger.

Für die Innenstadt seien nun neue Ideen und Konzepte gefragt, sagt Anja Dietel, spricht von Galerien, Pop-up-Stores und viel Raum zum Wohnen. Dass inzwischen dort, wo einst Bäcker und Modegeschäfte ihre Kunden empfingen, Versicherungen und Anwaltskanzleien ihre Domizile haben, sei Teil der Transformation. Diese Entwicklung machten gerade alle kleineren Städte durch, sagt sie. Nicht nur in Sachsen. Nicht nur im Osten.

Im sächsischen Wirtschaftsministerium ist man sich der Herausforderung bewusst. Mit der Corona-Pandemie hätten sich die „Strukturverschiebungen zulasten des stationären Handels“ noch einmal dramatisch beschleunigt. „Durch die zunehmenden Leerstände verlieren Einkaufsstraßen und ganze Innenstädte an Attraktivität“, teilt das Ministerium mit. Dabei dienten lebendige Zentren nicht nur dem Konsum, sondern seien Treffpunkt und ein Stück Identität einer Stadt. Lösungen müssten allerdings vor Ort gefunden werden. Patentrezepte gebe es keine.

Vor dem Kino nahe dem Einkaufszentrum Elbgalerie spielt ein Straßenmusiker.© Ronald Bonß

Zu den bekannten Problemen kommt in Riesa die schiere Länge der Einkaufsmeile hinzu. Viele der Gebäude könnten von der Rückseite aus nicht beliefert werden und seien in Besitz von Senioren, die weder Kraft noch Geld hätten, in eine Sanierung zu investieren, sagt Anja Dietel.

Mit Riesas schrumpfender Einwohnerzahl sinkt zudem die Zahl der potenziellen Kunden. Seit Mitte der 90er hat die einstige Industriestadt ein Drittel ihrer Bürger verloren. Mit dem Heimatstolz ist es in Riesa heute nicht allzu weit her. Ein großer Teil der Einheimischen sieht seine eigene Stadt und deren Perspektiven äußerst kritisch, so wie diese ältere Frau, die schnellen Schrittes über den Boulevard tippelt.

„Früher war das hier die Klatschmeile“, sagt sie. „Da musste man nur einmal vor- und zurücklaufen, und wusste, was los war.“ Inzwischen komme sie nur noch mittwochs her, wenn auf dem Rathausplatz Markt ist. „Schauen Sie sich doch mal um. Das ist doch eine sterbende Rentnerstadt hier. Wo soll das denn noch hinführen?“

Innenstadtmanagerin Anja Dietel kann nicht verstehen, warum so viele Menschen Riesa schon abschreiben. „Die sehen nur die leeren Geschäfte, aber schätzen zu selten das, was sie hier haben.“ In Richtung des Einkaufszentrums Elbgalerie wird die Hauptstraße auffällig lebendiger. Hier gibt es ein Café, ein Sportgeschäft, einen Buchladen, sogar ein Kino, vor dem ein Musiker Akkordeon spielt.

Anja Dietel glaubt, dass auf der Riesaer Hauptstraße in naher Zukunft mehr gewohnt als gehandelt werden wird. Auch im Erdgeschoss, wenngleich da zunächst einmal Geld für Umbaumaßnahmen her müsse. Wegen der großen Fensterscheiben könne im Winter kaum effektiv geheizt werden. „Trotzdem gibt es da ein unheimlich großes Potenzial. Wir sind hier in der Innenstadt in weiten Teilen barrierefrei und mitten im Leben.“

Manchmal kommen Riesaer in ihr Kontaktbüro und fordern, dass sie doch bitte ein neues Café ansiedeln soll. Diese Bürger muss sie zunächst enttäuschen. „Ich helfe aber gern, wenn die Initiativen aus der Gesellschaft kommen.“ Als Innenstadtmanagerin stehe ihr ein Budget von null Euro zur Verfügung – Fördergelder ausgenommen. Anja Dietel ist weder Amtsleiterin noch Mäzenin, aber sie bietet BWL-Expertise und ein wachsendes Netzwerk, von dem alle profitieren können. Seit Wochen verteilt sie Flyer mit der Aufschrift „Dabeisein, Mitreden, Mitgestalten“. Eine Umfrage zum Fördergebiet Innenstadt.

Aus Sicht des Handelsverbandes Sachsen muss Riesa mehr Tempo machen. Vor allem Ankerpunkte wie die Elbgalerie sollten schneller weiterentwickelt werden, sagt Hauptgeschäftsführer René Glaser.

Es muss viel zusammenpassen, um die Kehrtwende zu schaffen. Kreative Konzepte, finanzkräftige Unterstützer, vor allem aber auch willige Einwohner. „Das Überleben der Einkaufsstraßen liegt in den Händen der Kunden“, heißt es aus dem Wirtschaftsministerium.

Und es gibt sie auch in Riesa noch, mutige Neueinsteiger wie Peggy Rudolph. Vor wenigen Wochen übernahm sie einen Stoffladen auf der Hauptstraße und taufte ihn „Mamasign“ – nach einer Idee ihrer Kinder. Schon seit drei Jahren näht sie Tücher. Als die Vorbesitzerin des Geschäfts sie ansprach, musste sie nicht lange überlegen. Nun führt Peggy Rudolph ihr erstes eigenes Geschäft.

„Ich habe den Vorteil, dass Stoffe etwas sind, das die Leute anfassen wollen. Für den Onlinehandel bieten die sich nur bedingt an“, sagt die 41-Jährige, die zusätzlich weiterhin auf ihre Festanstellung bei einem Chemiekonzern setzt. Vorerst öffnet sie ihr Geschäft fünfmal in der Woche für drei, vier oder auch mal sieben Stunden.

Kritik oder nüchterne Feststellung? Immer wieder pinselt ein Unbekannter die Buchstaben „LEER“ an die verwaisten Schaufensterscheiben.© Ronald Bonß

Andere Anbieter haben ihre Öffnungszeiten noch weiter verkürzt oder arbeiten gar nur noch mit Terminvergaben. So plant das auch der Fotograf Stefan Jäckel, der spätestens Anfang kommenden Jahres im Erdgeschoss des früheren Modehauses Georg Haase ein Studio eröffnen möchte.

Bis dahin hat er noch viel zu tun. Vom Vermieter hat er freie Hand bekommen, die Räumlichkeiten nach seinen Ideen umzugestalten. „Es ist verständlich, dass sich in diesen Zeiten nicht jeder den Schritt in die Selbstständigkeit traut“, sagt der 33-Jährige, aber von allein werde die Hauptstraße nicht wieder lebendiger werden.
In einer etwas dunklen Drogerie riecht es süßlich nach Seife und Waschpulver. Die Scheiben auf den Auslagen sind blitzblank geputzt. Im Angebot sind Sil, Ata und Spee. Kunden gibt es hier allerdings schon lange nicht mehr. Nur Besucher. Der Laden ist Teil der Dauerausstellung im zweiten Stock des Riesaer Stadtmuseums.Wer weiß, vielleicht wird im Museum ja in einigen Jahren auch ein Geschäft ausgestellt, in dem man Schuhe anprobieren, bezahlen und mitnehmen kann. „Mama, was ist das?“, könnte der kleine Museumsbesucher dann fragen. Und Mama antwortet: „So haben wir früher eingekauft.“

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