Herr Dr. Thiel, was regt Sie in Pirna am meisten auf?
Dass diese wunderschöne Stadt in manchen Bereichen die Schwerpunkte nicht im Sinne unserer Kinder setzt: Im Mittelpunkt der Stadtpolitik muss stehen, Pirna langfristig und nachhaltig so lebenswert wie möglich zu gestalten. Da wird aber leider viel zu wenig nachgedacht, oder gar bewusst anders gehandelt.
Eine ziemlich pauschale Kritik. Geben Sie mal ein Beispiel.
Nehmen Sie die Südumfahrung. Da wird für sicher über 100 Millionen Euro eine Umgehungsstraße gebaut, und man bekommt es nicht einmal hin, bei dem dafür neu entstehenden Kreisverkehr an der Zehistaer Straße den bestehenden kombinierten Rad- und Fußweg zu integrieren. Was ist denn das für eine Relation? Jetzt müssen die Schulkinder, die die Zehistaer Straße mit dem Fahrrad nutzen, im Kreisverkehr stadtauswärts auf die Fahrbahn wechseln. Stadteinwärts sollen sie ab Zehista die Straße benutzen. Für sie verschlechtert sich also die Situation im Vergleich zu vorher erheblich. Nur in Pirna ist so eine überholte Verkehrspolitik möglich.
Pirna sollte also anders an Investitionen in Straßen herangehen?
Nicht nur beim Thema Straßen. Bei jeder Investition sollte der Nutzen für die Stadtgemeinschaft bedacht werden, nicht nur der Nutzen für den Investor. Wir müssen die Interessen der Schwächeren vertreten. Aber das funktioniert leider in unserer Gesellschaft generell nicht mehr.
Spricht da der Mann, der nach der Wende im Neuen Forum in Pirna aktiv war und jetzt desillusioniert ist?
Stadtbild, Umweltschutz und Gerechtigkeit waren Anfang der 90er-Jahre große Themen. Vieles ist seither in Vergessenheit geraten. Diese Gedanken wieder verstärkt in die stadtpolitische Diskussion zu bringen, war eine Motivation für mich, noch einmal für den Stadtrat zu kandidieren.
Sie saßen bereits von 1999 bis 2003 im Stadtrat, damals für die Freien Wähler.
Richtig, ich war über die Agenda-Bewegung bei den Freien Wählern gelandet, weil mir eine nachhaltige Stadtentwicklung am Herzen lag. Ich bin christlich sozialisiert. Das Thema Bewahrung der Schöpfung; mein Wunsch, unseren Kindern und Enkeln eine lebenswerte Welt zu hinterlassen, finde ich jetzt am ehesten bei Bündnis90/Grüne wieder. Deshalb kandidiere ich auf dieser Liste, ohne selbst Mitglied der Partei zu sein.
Dass 16 Kandidaten auf der Liste von Bündnis 90/Grüne für den Stadtrat stehen, ist für Pirna schon eine kleine Sensation. So viele waren es nie bei vergangenen Wahlen.
Das zeigt, dass vor allem junge Leute ein Umdenken in unserer Gesellschaft einfordern. Der neu gegründete Stadtverband ist sehr aktiv, da geht allerhand los.
Zum Beispiel Unterstützung für eine Menschekette am 1. Mai gegen den Industriepark Oberelbe. Die Grünen sind die einzige Partei, die sich im Stadtrats-Wahlkampf klar gegen den IPO positioniert hat. Warum?
Es gibt viele Gründe, die gegen ein Industriegebiet an dieser Stelle sprechen. Angefangen zum Beispiel bei der Flächenversiegelung. 140 Hektar Acker- und Grünland aufzugeben und mit einem Gewerbegebiet zu bebauen, widerspricht ganz klar den bundes- und landesweiten Zielen, weniger Boden zu versiegeln. Zweitens ist bekannt, dass Pirna aufgrund seiner Tallage ein problematisches Klima hat, Luftschadstoffe stauen sich hier am Ende der Elbtalweitung. Auch aus meiner Erfahrung als Arzt heraus darf Pirna sich mit dem Industriepark nicht eine wichtige Frischluftschneise abschneiden. Schon der Autobahnzubringer und die Südumfahrung wirken hier negativ. Wir können uns doch nicht selber die Luft nehmen.
Was halten Sie von der Idee, IPO zum ökologischen Vorzeigeprojekt, zum „grünen“ Industriegebiet zu machen?
Wer sollte das denn gegenüber den Investoren durchsetzen? Klar kann man Bäume an den Straßen im IPO pflanzen und am Rand eine Streuobstwiese anlegen. Aber durch die schwierige Hanglage des Gebiets würde die Erschließung eh schon extrem teuer, demzufolge auch die Grundstücke. Und dann will man interessierten Firmen auch noch Öko-Auflagen machen, die sie noch einmal viel Geld kosten? Das ist Augenwischerei. Das macht kein Investor mit. Generell sehe ich die große Gefahr, dass eher Kapitalgesellschaften hier zum Zuge kommen, die kurzfristige Unternehmensziele verfolgen.
Die IPO-Macher argumentieren aber mit solchen Öko-Auflagen.
Wer sind denn die IPO-Macher? Herr Flörke von der Pirnaer Stadtentwicklungsgesellschaft, der am Mädelgraben auf dem Sonnenstein ein Wohnbaugebiet erschlossen hat ohne Fußwege und mit nicht einem Quadratmeter öffentlicher Grünfläche entlang der Erschließungsstraße? Da hat man auch in Pirna in den 90er-Jahren stadtplanerisch schon mal weiter gedacht. Schauen Sie sich das damals erschlossene Wohngebiet in Zehista an, da gibt es Fußwege, Bäume und Grüninseln. Oder der zweite IPO-Macher, Herr Opitz als IPO-Verbandschef? Als Bürgermeister hat er Heidenau in den vergangenen Jahren zur baumlosesten Stadt gemacht, die ich kenne, indem bei Bauvorhaben ganze Straßenzüge komplett vom Grün befreit wurden. Sie verstehen meine Skepsis.
Nicht von der Hand zu weisen dürfte doch aber auch für die Grünen sein, dass der Industriepark Arbeitsplätze schafft.
Wenn sich Industriebetriebe dort ansiedeln, werden sie vor allem Arbeitskräfte aus den Handwerksbetrieben in der Region abziehen, fürchte ich. Und egal wen Sie fragen, praktisch alle Branchen, auch Banken und Behörden, treibt die Sorge des rasant zunehmenden Arbeitskräftemangels um. An der Demografie ist nicht zu rütteln. Unter anderem ist es das Handwerk, das unsere Lebensgrundlagen schafft und instand hält. Die noch vorhandenen Arbeitskräfte brauchen wir dort, nicht neue Arbeitsplätze in unfair hoch mit unseren Steuern subventionierten Großbetrieben. Unsere kleinteilige Wirtschaft im Landkreis ist zudem die beste Krisenvorsorge.
Also gar nichts gut an der IPO-Idee?
Ich bin überhaupt nicht gegen Wirtschaftsansiedlungen. Man kann sicher auch das in Dohna vorhandene Gewerbegebiet an der Autobahn erweitern, vor allem für Firmen aus der Region, die mehr Platz brauchen. Aber das jetzige IPO-Vorhaben hat eine Größenordnung, bei der die reale Gefahr besteht, dass es uns allen schadet. Wir haben am 1. Mai 600 Menschen motiviert, sich an der Menschenkette gegen den IPO zu beteiligen. Das ist für ein politisches Thema erstaunlich viel. Für mich heißt das, dass der Rückhalt in der Bevölkerung für den Industriepark nicht so groß ist.
Aber wer sollte so ein Projekt stemmen, wenn nicht die Kommunen?
Die Größenordnung dieser nicht zu den Pflichtaufgaben der Kommunen zählenden Sache ist entscheidend. Mit 42 Millionen Euro muss allein Pirna für den IPO in Vorkasse gehen. Und ich kann kein Risiko-Management seitens der Stadt oder des Zweckverbandes erkennen. Wenn etwas schief geht, reißt der IPO Pirna ins finanzielle Verderben. Und dann wird es den freiwilligen Aufgaben an den Kragen gehen, der Kultur, den Sozialprojekten und der Vereinsförderung. Das sind die Dinge, die für den gesellschaftlichen Zusammenhalt in der Stadt sorgen. Schon jetzt klafft die Schere zwischen Arm und Reich in Pirna weit auseinander. Weiter als oberflächlich sichtbar ist. Und diese Situation verschärft sich. Bei meinen Hausbesuchen lerne ich auch eine Seite der Stadt kennen, die man öffentlich so noch nicht wahrnimmt. Da steckt viel Zündstoff drin.
Deshalb steht im Wahlprogramm der Pirnaer Grünen unter anderem, alles Handeln der Stadt am Gemeinwohl auszurichten.
Genau. Pirna muss in Energiewende und Klimaschutz, in Bildung und Soziales sowie in eine vernünftige Infrastruktur investieren, die allen die Teilhabe am Stadtleben ermöglicht und niemanden benachteiligt. Der IPO erfüllt diese Kriterien nicht. Mir geht es sehr um die immer weniger gegebene Gerechtigkeit in der Gesellschaft, zwischen den Generationen und auch global.
Was heißt „vernünftige Infrastruktur“? Zum Beispiel mehr Radwege, weniger Parkplätze?
Das wäre Polemik. Es macht überhaupt keinen Sinn, ein Verkehrsmittel gegen andere auszuspielen. Was eine Kommune tun kann, ist Mobilitätsangebote machen. Ja, Pirna braucht mehr und vor allem sicherere Radwege, eine Vernetzung innerhalb der Stadt und mit den Nachbarkommunen. Dann würden viel mehr Menschen aufs Fahrrad umsteigen. Und Autofahrer würden automatisch weniger im Stau stehen, weil weniger Autos unterwegs sind. In Fahrradstädten ist die Lebensqualität nun mal nachweislich höher als in Autostädten. Selbst der Sonnenstein kann ins Radkonzept der Stadt eingebunden werden, der Berg ist dank der E-Bikes heute keine Hürde mehr.
Wenn alle Rad fahren, gäbe es in der Innenstadt auch keine Parkplatzsorgen mehr …
So einfach ist es ja nicht. Pirna braucht ein ausreichendes Angebot an Parkplätzen in der Innenstadt, das ist wichtig für den Handel und auch für die Bewohner der Altstadt, die ihr Auto in der Regel nicht vorm Haus oder im Hof abstellen können. Ob und wo zusätzliche Parkplätze nötig sind, sollte aber noch einmal ganz genau untersucht werden. Ich denke, dass in Bezug auf die Innenstadt schon ein ausgeklügeltes Parkleit- und Parkplatz-Management-System die Situation wesentlich entschärfen könnte. Und für Tage, an denen besonders viele Besucher in die Stadt kommen, wie beim Stadtfest, muss es Konzepte mit Ausweichparkflächen geben. Was aus meiner Sicht unbedingt notwendig ist, ist ein großes Pendler-Parkhaus in Bahnhofsnähe. Hier muss die Stadt ihre Bemühungen wieder intensivieren.
In ihrem Wahlprogramm haben die Grünen auch festgeschrieben, den Baumschutz in Pirna zu verstärken. Ist die Stadt nicht grün genug?
Da komme ich wieder zu einer meiner Überlegungen bezüglich des IPO zurück. Pirnas Tallage fordert viele Grünflächen, um die Luftqualität zu sichern. In den vergangenen Jahren sind viele Bäume auf Brachflächen, entlang von Straßen, zwischen Häusern, leider auch auf Privatland verschwunden, ohne dass ortsnah Ausgleichspflanzungen erfolgt sind. Bauvorhaben wurden genehmigt, ohne eine ausreichende Begrünung der Grundstücke zur Bedingung zu machen. Stattdessen verschwindet jeder Quadratmeter unter Beton und Asphalt. Schauen Sie sich den neuen Aldi-Markt in Copitz an. Das war mal ein Garten mit Streuobstwiese. Hier hätte der Bauherr die Auflage bekommen müssen, für eine Begrünung zum Beispiel mit großen Bäumen auf dem Parkplatz zu sorgen. Das wäre kein Problem gewesen, ist aber nicht passiert. Darauf möchten wir im Stadtrat achten. Auch darauf, dass Bäume generell besser geschützt werden. Klar muss mal ein kranker oder störender Baum weg, aber dann muss ortsnah und der biologischen Leistungsfähigkeit entsprechend nachgepflanzt werden. Der Wert des Grüns ist unschätzbar für das Stadtklima. Auch das ist Lebensqualität.
Leben Sie gern in Pirna?
Ich liebe Pirna, und ich bin davon überzeugt, dass es sich lohnt, für Pirna zu kämpfen. Jedes Mal, wenn ich auf dem Autobahnzubringer auf die Stadt zufahre, denke ich: Ist das schön hier. Das ist unser Lebensgefühl. Nicht ohne Grund war im Regionalplan dort oben nie ein Gewerbegebiet vorgesehen. Jetzt komme ich schon wieder aufs Thema IPO, ich kann das drehen und wenden, wie ich will, da ist nichts Zukunftsfähiges dran.
Interview: Christian Eißner
Foto: © Dirk Zschiedrich