Von Irmela Hennig
Olbersdorf. Mario Hilger ist durchgestartet, als alle anderen aufgaben. Nur wenige Jahre nach Wende und Wiedervereinigung machten die acht Kokoswebereien auf dem Boden der ehemaligen DDR dicht. Der Volkseigene Betrieb (VEB) Kokosweberei Radeberg zum Beispiel, der VEB Zwickau mit mehreren Standorten. Kurz nur überlebten einige den Neustart in der Marktwirtschaft als GmbH. Doch 1994 war überall Schluss. Im selben Jahr stellte Mario Hilger fest: „Es ist nicht toll, aber es geht so.“ Damit sei man damals schon zufrieden gewesen, erinnert sich der Oberlausitzer. Vier Jahre zuvor hatte sich der Meister für Textiltechnik selbstständig gemacht. Hatte eine Manufaktur gegründet. Die Kokosweberei Hilger in Olbersdorf bei Zittau.
Er hatte die Zentrale des bisherigen VEB Zittauer Kokosweberei von der Treuhand gekauft. Eine ehemalige Wassermühle von 1848. Im dem Gebäude war lange nicht nur die Verwaltung des VEBs untergebracht. Hier hatten auch 60 Mitarbeiter Kokosmatten hergestellt. Mario Hilger, der damals im Großschönauer Textilbetrieb Frottana beschäftigt war, ein Unternehmen, das es bis heute gibt, wollte noch mal was anderes machen. „Ich trau mir das zu“, dachte er und legte los.
Heute umfasst sein Team, samt Chef, fünf Personen. Außerdem lässt Hilger in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen fertigen. Dass es inzwischen längst mehr als nur „so geht“, sei seinerzeit alles andere als sicher gewesen. Nach der Gründung gab sich Mario Hilger zunächst vier Jahre. Dann wollte er Bilanz ziehen.
Die fiel, wie erwähnt, durchwachsen aus. Der Oberlausitzer setzte vier weitere Jahre dran – bis 1998. In der Zeit sei der Durchbruch gelungen. „Nach acht Jahren Einheit wollten die Menschen wieder etwas Besonderes.“ Das hatte Hilger mit seinen handgemachten Produkten zu bieten. Losgegangen sei es mit Matten für die Fußräume von Oldtimern. Taschen für den Weinhandel kamen dazu. Und viel Individuelles. So können sie hier Wunschmuster in Matten einweben. Und aufwendige Farbapplikationen werden mittels selbst gefertigter Schablonen aufgebracht. Mit ökologischer Farbe, die Regen, Frost und viele Fußtritte aushält. Die Motivlage reicht von Herz bis Oberlausitzer Umgebindehaus, von Pferd mit Möhre bis Dresdner Stadtsilhouette.
Sammler als Kunden gewonnen
35 Tonnen Kokosfasern verarbeitet der Betrieb im Jahr. Das Material komme vor allem aus Indien, in geringem Maß aus Sri Lanka. Der Einkauf laufe in Kooperation mit der einzigen anderen Kokosweberei, die es in Deutschland noch gibt. Dort lasse man auch große Läufer für Kirchen, Schlösser und Museen fertigen. Neben Kokos verarbeitet die Weberei in geringem Maß Hanf und Sisal. Letzteres für ein Produkt, das Mario Hilger so anfangs gar nicht auf dem Schirm hatte: Mini-Matten für Porzellanpuppen und -teddybären. Da gebe es Sammler, die ihre Kleinode darauf präsentieren möchten. „Ich dachte, das wird eine bestimmte Anzahl. Irgendwann hat jeder die Matten für seine Figuren. Dann ist Schluss“, erinnert sich Mario Hilger. Aber es kam anders. Puppen wurden samt Matte verkauft oder getauscht, neue angeschafft. Es gab wieder Bedarf.
Ein Novembermorgen, eine Nachbarin kommt vorbei: „Ich will nur schnell eine Fußmatte kaufen“, sagt sie. Erledigt, wozu sie gekommen ist und ist wieder weg. Auch solche Kunden gibt es. Es gehe von bis. Von Jung bis Alt, vom Oberlausitzer bis zum Gast aus Hamburg oder dem Ausland. Von Durchschnittsverdiener bis gut betucht, von Landwirt bis Adligem.
Zu Mario Hilgers Überraschung ist seine Manufaktur mittlerweile auch zum Besuchermagnet geworden. „Wir machen hier Fuß- und Türmatten aus Kokosfasern. Dass jemand sich das anschauen will, haben wir so nicht erwartet“, gibt der Unternehmer zu. Aus der Familie heraus sei vor Jahren die Anregung gekommen: Das, was ihr macht, müsst ihr zeigen. „Aber wir waren sicher, das will niemand sehen“, so Hilger. Und ein bisschen staunt er noch immer über alle die Paare und Familien, die Vereine und Busreisegruppen, die sich das ganze Jahr über in die kleine Firma aufmachen. Die durch Arbeitsbereiche stromern, dem Team über die Schulter gucken. Zittauer Reiseleiter schicken Urlauber vorbei. Aber vor allem funktioniere die Werbung von Mund zu Mund. Um dem Zuspruch Herr zu werden, haben die Hilgers zweimal umgebaut.
Mit dem Team hat Mario Hilger, 63 Jahre alt, im Erdgeschoss seines Betriebs eine Mischung aus Museum und Schauwerkstatt eingerichtet. Neben dem, womit sie hier werkeln, sind weitere Utensilien aus der Branche zu entdecken, wie alte Webschützen. Daneben stehen Möbel der Großeltern. In einem Raum gibt es sogar eine Küche samt Geschirr aus Großmutters Zeiten. All das zieht offensichtlich.
Vielleicht hat der Reiz auch mit der alten Technik zu tun. Die ist nicht nur zum Gucken da. Mit der Kokoszopfmaschine von 1940 arbeiten die Oberlausitzer noch immer. Gleiches gilt für die Handwebmaschinen mit den Metallstäben. Um die wird der Kokosfaden, simpel gesagt, herumgelegt. „Ein altes Webverfahren ist das“, erzählt Mario Hilger, der in seiner Freizeit gern mit Ehefrau Iris klettern geht.
Um einen Nachfolger für den Betrieb macht er sich übrigens keine Sorgen, auch wenn er keine Kinder hat. Es gebe viele Raumausstatter, die – ja – „auf der Matte stehen“, um dann zu übernehmen.