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„Desaster für Mitteldeutschland“: Die Folgen der Dow-Schließung für die Region Leipzig-Halle

„Desaster für Mitteldeutschland“: Die Folgen der Dow-Schließung für die Region Leipzig-Halle

Lesedauer: 5 Minuten

Andreas Dunte und Florian Reinke

Leipzig. Es ist ein schwarzer Tag für hunderte Beschäftigte und die gesamte Region. Der US-Konzern Dow Chemical schließt zwei bedeutende Anlagen in Mitteldeutschland. Dieser Einschnitt wird tiefgreifende Folgen haben – für die Belegschaft und für weitere Unternehmen in der Region Leipzig-Halle.

Was plant der Chemiekonzern Dow Chemical konkret?

Dow Chemical wird zwei seiner Anlagen in Mitteldeutschland schließen. Im vierten Quartal 2027 wird der Betrieb demnach dauerhaft eingestellt. Betroffen sind der Cracker in Böhlen sowie die Chlor-Alkali- und Vinyl-Anlagen in Schkopau – und damit rund 550 Beschäftigte in Sachsen und Sachsen-Anhalt.

Welche Bedeutung haben diese Anlagen für die Standorte?

Der Cracker gilt als das Herzstück der Produktion an den Chemiestandorten. Aus Rohbenzin werden hier chemische Grundstoffe gewonnen, die in Böhlen zu Materialien für Hygieneartikel und Bauprodukte weiterverarbeitet werden. In Schkopau und Leuna werden diese Grundstoffe in hochwertige Kunststoffe umgewandelt.

Die Chlor-Alkali-Anlagen in Schkopau produzieren durch die Elektrolyse von Salzwasser Chlor, Wasserstoff und Natronlauge. Und die Vinyl-Anlagen nutzen Chlor und andere Stoffe, um Vinylchlorid herzustellen, das als Ausgangsstoff für PVC dient – einem vielseitigen Kunststoff. Dow produziert an mehreren Standorten in der Region unter anderem Klebstoff für die Autoindustrie, Kunststoffe für PET-Getränkeflaschen sowie Pulver für Fliesenkleber und Mörtel.

Was sind die Gründe für den drastischen Schritt von Dow Chemical?

Dow hatte bereits vor Monaten angekündigt, seine europäischen Standorte zu überprüfen. Im Raum stand, Anlagen zu schließen oder temporär stillzulegen. Neben den mitteldeutschen Anlagen will Dow nun auch eine Chemie-Anlage im britischen Barry dichtmachen. Ziel ist es laut Dow, Produktionskapazitäten anzupassen, Handelsrisiken zu verringern und teurere, energieintensive Anlagen aus dem Portfolio zu nehmen. „Unsere Branche sieht sich in Europa nach wie vor mit schwierigen Marktdynamiken und einem anhaltend herausfordernden Kosten- und Nachfrageumfeld konfrontiert“, erklärte Dow-Konzernchef Jim Fitterling.

Die Produktionsstätte des US-amerikanischen Konzerns Dow in Böhlen (Sachsen): Dort werden unter anderem aus Rohbenzin Grundstoffe für die Kunststoffherstellung gewonnen.
Die Produktionsstätte des US-amerikanischen Konzerns Dow in Böhlen (Sachsen): Dort werden unter anderem aus Rohbenzin Grundstoffe für die Kunststoffherstellung gewonnen.
Quelle: Sebastian Willnow

Warum ist Mitteldeutschland besonders betroffen?

Die Anlagen produzieren Grundstoffe und stehen im direkten Wettbewerb zu anderen Standorten, auch außerhalb Europas. Dow kritisiert vor allem die hohen Energie- und Rohstoffkosten in Deutschland, die hohen Kosten für die Kohlendioxid-Vermeidung und die EU-Regularien. Zudem leiden viele andere Branchen, die von Dow mit Kunststoffen beliefert werden. Und kritisiert Dow die hohen Kosten für die geforderte Modernisierung der Anlagen.

Warum spielt die Binnenlage eine Rolle in der Entscheidung der Dow-Chefs?

Während andere Dow-Standorte eine direkte Hafenanbindung haben, ist Böhlen nur über eine Pipeline mit dem Rostocker Hafen verbunden, was zu höheren Transportkosten führt. Da Dow seine Anlage wie viele andere Chemiekonzerne ebenfalls dekarbonisieren muss, konzentriert man sich auf die Standorte nahe von Häfen. Der Branchenexperte Vladislav Kulikov von der Strategieberatung Strategy& von PwC weist auf diesen geografischen Nachteil hin. „Böhlen war als Standort schon immer benachteiligt. Der Standort hat keinen Meer-Zugang, anders als beispielsweise Antwerpen“, betont er. Hinzu kommen die hohen Energiekosten und das schwierige Marktumfeld.

Was bedeutet die Entscheidung für die Beschäftigten in Sachsen und Sachsen-Anhalt?

Das Management hat die Betriebsräte an den Standorten am Montag informiert. Ziel sei es, „die Auswirkungen auf die Mitarbeiter zu minimieren und sozialverträgliche Lösungen anzubieten“, so eine Dow-Sprecherin. Rund 550 Beschäftigte sind betroffen. Bei Dow in Böhlen, sagt Betriebsratschef Andreas Zielke, sei die Stimmung im Keller. „Jetzt hoffen wir auf ein Weiterbestehen des Standortes und darauf, dass uns die Politik nicht hängen lässt“, so Zielke. Aktuell arbeitet man an alternativen Konzepten. Sachsen Wirtschaftsminister Dirk Panter (SPD) forderte den Konzern auf, „weiterhin für die soziale Absicherung der betroffenen Mitarbeiter zu sorgen“. Und weiter: „Wir sind zuversichtlich, dass Dow die betroffenen Kollegen gezielt unterstützt mit guter Perspektive.“

Was sind die Folgen für die Region Leipzig-Halle?

Für Kristian Kirpal, Präsident der Industrie- und Handelskammer zu Leipzig (IHK), steht fest: „Die verkündete Schließung ist ein industriepolitisches Desaster für den Chemiestandort Mitteldeutschland, und zwar eines mit Ansage.“ Dass die hohen Energiekosten den Standort gefährdeten, sei schon lange zu befürchten gewesen. „Mit dem Cracker in Böhlen verlieren wir nicht einfach irgendeine Anlage, sondern das Herzstück des gesamten chemischen Stoffverbundes. Damit steht die gesamte nachgelagerte Produktion auf dem Spiel“, betont er.

„Die Entscheidung von Dow ist ein schwerer Einschnitt für Mitteldeutschland und vor allem für die betroffenen Beschäftigten“, sagt auch Jörn-Heinrich Tobaben, Geschäftsführer der Europäischen Metropolregion Mitteldeutschland. Denn fest steht: Das Chemiedreieck ist für die Branche von großer Bedeutung und gilt als strukturbestimmend. Das sieht auch der Chef der Industriegewerkschaft BCE, Michael Vassiliadis, so: „Heute ist ein tiefschwarzer Tag für das Chemiecluster Mitteldeutschland.“ Die Auswirkungen seien verheerend. Im mitteldeutschen Chemiedreieck sei Dow mit seinen Standorten ein zentraler Akteur, von den beiden Anlagen in Schkopau und Böhlen würden in der Wertschöpfungskette zahlreiche andere Anlagen und Unternehmen abhängen.

Wie wirkt sich die Schließung auf andere Firmen aus?

Die Auswirkungen werden erheblich sein, erklärt Martin Naundorf, Leiter Vertrieb und Standortentwicklung beim Chemieparkbetreiber Infraleuna. Er prognostiziert, dass alle Partner, die die Dow-Standorte beliefern oder Produkte von dort beziehen, Kostenvorteile verlieren werden. Die Dow-Entscheidung bezeichnet er als eine Folge der deutschen Industriepolitik. „Die fehlende internationale Wettbewerbsfähigkeit, verursacht durch energiepolitische Sonderwege mit enormen Kosten, findet in der Entscheidung ein pragmatisches und gleichzeitig ernüchterndes Fazit.“

Auch Nora Schmidt-Kesseler, Hauptgeschäftsführerin des Verbandes der Chemischen Industrie (VCI) Nordost, rechnet mit katastrophalen Auswirkungen. „Stoppt das Cracker-Herz, geraten alle anderen angeschlossenen Unternehmen in Gefahr“, warnte sie. „An jedem Chemiearbeitsplatz hängen drei weitere.“ Die Schließung der Anlagen werde ganze Produktionsketten infrage stellen.

Andere Chemiestandorte in Sachsen sind von den Einsparungen bei Dow Chemical nicht betroffen. Allerdings leiden auch sie zum Teil unter den hohen Energiekosten. Das mit 1500 Beschäftigten größte sächsische Chemieunternehmen Wacker in Nünchritz (Landkreis Meißen) musste zuletzt rund zehn Prozent seiner Belegschaft in Kurzarbeit schicken.

Wie reagiert die Politik in Sachsen und Sachsen-Anhalt?

In Sachsen-Anhalt und Sachsen kämpft die Politik schon seit Längerem um den Erhalt der Chemiestandorte – doch der Fall Dow zeigt, dass die Möglichkeiten begrenzt sind. „Wir nehmen die Entscheidung von Dow, den Cracker in Böhlen über 2027 hinaus nicht weiterzubetreiben, mit großem Bedauern zur Kenntnis“, sagte Sachsens Wirtschaftsminister Panter. Die Staatsregierung stehe seit Wochen in intensivem Austausch mit den Geschäftsführungen und Vertretern der Beschäftigten. „In den Gesprächen erarbeiten wir gemeinsam Ideen und Ansätze, um den Chemiestandort Böhlen-Lippendorf mit neuen Investitionen und neuen Produkten zu erhalten.“

Nachdem man vor einigen Monaten von Dow über die Situation informiert worden war, wurde mit dem Unternehmen eine Arbeitsgruppe ins Leben gerufen, sagt Sachsen-Anhalts Wirtschaftsminister Sven Schulze (CDU). „Ziel dieser Zusammenarbeit ist es, größere Teile der Chemiestandorte zu sichern und damit Arbeitsplätze in der Region zu erhalten. Daran arbeiten wir weiter“, betonte Schulze.

„Großes Bedauern“: Sachsens Wirtschaftsminister Dirk Panter. Er forderte den Dow-Konzern auf, „weiterhin für die soziale Absicherung der betroffenen Mitarbeiter zu sorgen“.
„Großes Bedauern“: Sachsens Wirtschaftsminister Dirk Panter. Er forderte den Dow-Konzern auf, „weiterhin für die soziale Absicherung der betroffenen Mitarbeiter zu sorgen“.
Quelle: Robert Michael/dpa

Die Situation in der Branche nehme man sehr ernst. So habe Sachsen-Anhalt eine Bundesratsinitiative gestartet. „Uns ist klar: Viele Arbeitsplätze hängen an der Chemie. Wir arbeiten mit allen uns zur Verfügung stehenden Möglichkeiten daran, dass diese erhalten bleiben.“

Wie geht es jetzt weiter?

Andere Anlagen in Schkopau, Leuna und Böhlen, in denen Dow unter anderem Kunststoff und Materialien für die Bauindustrie herstellt, sind von der aktuellen Entscheidung nicht betroffen.

PwC-Experte Vladislav Kulikov sieht trotz der Dow-Ankündigung eine Zukunft für den Standort. „Die Infrastruktur ist vorhanden, nun muss der Standort für die Zukunft aufgestellt werden – etwa in Richtung Kreislaufwirtschaft“, sagte er.

Diese Meinung teilt auch Jörn-Heinrich Tobaben. „Mitteldeutschland verfügt mit seinen Chemieparks und dem eng vernetzten Stoffstromverbund über eine starke industrielle Basis. Jetzt gilt es, gemeinsam neue Perspektiven zu schaffen – in der Kreislaufwirtschaft, der nachhaltigen Chemie und der Wasserstoffwirtschaft –, um den Standort zukunftsfähig weiterzuentwickeln.

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