In Delitzsch entsteht ein Großforschungszentrum, das eine ganze Branche dort am Leben halten kann. Mit neuen, nachwachsenden, bioabbaubaren Rohstoffen.
Von Stephan Schön, Nora Miethke und Sven Heitkamp
Delitzsch. Schlote. Schornsteine, die seit 2001 nicht mehr rauchen. Die einstige Zuckerfabrik von Delitzsch ist seit gut 20 Jahren Vergangenheit. Eine Industriebrache. Hier wurde in der Vorzeit ein Haufen Geld verdient mit Zuckerrüben. Dann stillgelegt, eine Industriebrache hinter einem längst defekten Zaun. Pflanzen ranken sich daran empor, als möchten sie verstecken, was sich dahinter verbirgt. Auch Sondermüll. Das Gelände hat einen zweifelhaften Ruf. Und genau dieses Gelände soll Delitzschs wirtschaftliche Attraktion werden. Hier und in den Chemiefabriken von Leuna entsteht eines der modernsten Großforschungszentren Deutschlands für eine neue, noch unbekannte Chemie der Zukunft. Das CTC, das Center for the Transformation of Chemistry, wird aufgebaut.
1,25 Milliarden Euro sind allein bis 2038 zugesagt aus den Kohlegeldern. Die Finanzierung ist dauerhaft, also auch darüber hinaus vereinbart. Diese Entscheidung für das CTC war nach mehreren Auswahlrunden und Gutachterkommissionen im vergangenen September gefallen. Zwei von 100 Vorschlägen sind durchgekommen. In der Lausitz, in Görlitz und bei Hoyerswerda entsteht das Deutsche Zentrum für Astrophysik (DZA). Im Leipziger Revier das CTC. Dort geht es um eine neue Chemie, eine, wie sie erst noch erfunden werden muss mit Stoffkreisläufen ohne Abfall und mit nachwachsenden Rohstoffen. Peter Seeberger hat sich genau das vorgenommen. Noch ist er Direktor am Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung in Potsdam. Seine Forschungen sind auf Weltniveau. Jetzt fängt Seeberger noch mal ganz von vorne an. Das wohl größte Projekt seiner Karriere hat begonnen. Das CTC soll in der alten Zuckerfabrik von Delitzsch entstehen. Hier und in den künftigen Labors in Leuna werden in gut zehn Jahren einmal an die 1.000 Menschen tätig sein. Spitzenforscher aus aller Welt.
Attraktives Forschungszentrum mitten in der Stadt
Das Thema ist weltweit neu, der Standort so kurz vor Leipzig mit dem Seenland attraktiv, die Preise für ein Eigenheim noch erschwinglich. „Wir werden dieses Gelände mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln umwandeln in ein attraktives Forschungszentrum mitten in der Stadt“, sagt Peter Seeberger im Gespräch mit der SZ. Weg von alt, schädlich, belastet oder gar giftig und hin zu nützlich, sauber und wertvoll. Das ist die neue Chemie. Und Delitzsch wird zum Garching Sachsens. Garching, vor 50 Jahren noch Acker vor München, ist jetzt eines der europäischen Forschungszentren für Kernphysik.
Es gibt große Chemie-Forschungszentren weltweit, in den USA, China, Japan, aber nicht thematisch so weit übergreifend. Was das CTC einzigartig macht, ist ein Zusammenschluss von Chemie, Ingenieurwissenschaften und Datenwissenschaften. Was für die Standortentscheidung durch die Auswahlkommissionen letztlich mit ausschlaggebend war: Die chemischen Firmen sind hier um Leipzig noch da, direkt vor Ort. Die chemische Industrie war aber auch hier schon kurz vor dem Absprung. Der Krieg in der Ukraine und die nun fehlenden Rohstoffe haben einmal mehr und drastisch wie nie zuvor die Probleme der Branche offengelegt. So wie bisher kann es nicht weitergehen. Aber wie dann? Chemie wird gebraucht, sie steckt in 97 Prozent aller Produkte.
„1,2 Milliarden Euro, das ist viel Geld. Aber eigentlich möchte ich das vervielfachen durch andere Projektgelder und Firmengründungen.“ Seeberger nennt fünf Bereiche, die er mit dem CTC aufbauen will. Einer ist utopischer als der andere. Erdgas und Erdöl müssen ersetzt werden. Andere Ausgangsstoffe werden nötig, nachwachsende wie Holz. Nur Holz allein wird dafür nicht reichen. Aus klimaschädigendem CO2 soll Kohlenstoff als unverzichtbarer Rohstoff gewonnen werden. „Ihn aus der Luft zu gewinnen, wird sehr schwierig. Wir müssen uns halt Gedanken darüber machen, keinen mehr freizusetzen.“ Die Chemie, so sagt Seeberger, sie brauche eine neue Akzeptanz in der Gesellschaft. Das gelingt aber nur über Produkte, die toll sind, weil sie grün produziert, recycelbar und bezahlbar sind. Neben Chemikern, IT-Spezialisten und Maschinenbau-Ingenieuren werden daher auch Soziologen im Forscherteam sein. Soziologie, Wirtschaftswissenschaften bis hin zum Städtebau finden sich im CTC wieder.
Die Veränderungen der chemischen Ausgangsstoffe haben Auswirkungen weit über die eigentliche Branche hinaus. Wenn beispielsweise nachwachsende Rohstoffe in die chemischen Anlagen gelangen sollen, müssen diese Rohstoffe irgendwie zur Industrie kommen. Die neue Chemie braucht eine neue Logistik. In zwei Jahren soll das Großforschungszentrum eigentlich als eigenständige Forschungseinrichtung gegründet werden. Bis dahin wird es von Seebergers Max-Planck-Institut verwaltet.
Frühere Gründung gefordert
Zwei Jahre, viel zu lang ist das für das Gründungsteam. „Geschwindigkeit, Geschwindigkeit und nochmals Geschwindigkeit“, fordert Seeberger. Die Gründung müsse früher passieren. Anfang 2024 schon. „Innerhalb von einem Jahr wollen wir uns eine eigene Rechtsform schaffen“, also das Zentrum ein Jahr eher gründen als eigentlich vorgesehen. „Jetzt geht es los in Delitzsch.“ Das erste Geld ist da: „Wir bauen derzeit eine Geschäftsstelle auf, und die ersten Ausschreibungen für Mitarbeiter sind draußen.“ Mit der Anpassung des Flächennutzungsplanes für das Areal habe der Stadtrat bereits im November die erste wichtige Grundlage für die Ansiedlung geschaffen, sagt Delitzschs parteiloser Oberbürgermeister Manfred Wilde. Nun gehe es um die Klärung weiterer Grundstücks- und Baurechtsfragen. Im Landratsamt ziehen soeben die ersten Mitarbeiter vom CTC ein. Einige Räume wurden dort vorübergehend angemietet. „Momentan schauen wir uns nach temporären Laborflächen um“, sagt Seeberger. Die Forschung, so berichtet er, soll bereits im dritten Quartal beginnen. Dafür werden dann Bürocontainer vorübergehend aufgestellt.
So richtig auf Hochtouren laufen wird das neue Forschungszentrum in 15 Jahren vielleicht. Es ist genau wie das Deutsche Zentrum für Astrophysik in der Lausitz ein Großprojekt für die nächste Generation. 1.000 Leute bis 2038, ein schwieriges Kapitel für den geplanten Aufbau des CTC angesichts gefragter Fachleute weltweit. Peter Seeberger ist dennoch optimistisch. Leipzig ist nur ein paar Minuten entfernt mit der S-Bahn, es gibt urbane Lebensräume hier oder ein Haus zu erschwinglichen Preisen in der ländlichen Region. „Wir holen uns die Leute global und aus ganz Deutschland.“ Und die Facharbeiter werden hier ausgebildet, mehr als im CTC selbst gebraucht werden. Unter anderem für die Start-ups, die sich hier gründen, und die Services.
Hoffnung auf viele neue Jobs
Für Delitzschs Oberbürgermeister Manfred Wilde verbinden sich mit der Ansiedlung hoffnungsvolle Aussichten auf mehrere Hundert hochkarätige Jobs – mindestens. „Die Stadt wird damit zum Wissenschaftsstandort, die ganze Region wird aufgewertet und von dieser Einrichtung profitieren.“ Die Entwicklung auf dem Energiemarkt und die Prognosen zur Verfügbarkeit fossiler Brennstoffe zeigten, wie relevant die Themen des CTC seien. „Als Mensch, der in einer Bergbauregion aufgewachsen ist, weiß ich, was es bedeutet, wenn eine ganze Industrie wegbricht“, sagt Wilde. „Das darf der Chemieindustrie in Deutschland nicht passieren.“
Das CTC passe perfekt zur Dekarbonisierung der regionalen Wirtschaft mit den Themen Grüner Wasserstoff, Bioökonomie und Kreislaufwirtschaft. Und einen großen Vorteil hat das Leipziger Forschungszentrum verglichen mit dem für Astrophysik DZA in der Lausitz. Davon ist zumindest Joachim Ragnitz, Vize-Chef der Dresdner Niederlassung des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung, überzeugt „Beim CTC ist wegen der anwendungsorientierten Ausrichtung zu erwarten, dass sich vielfältige Kooperationsmöglichkeiten mit den im mitteldeutschen Revier ansässigen Chemieunternehmen in Leuna und Bitterfeld-Wolfen ergeben werden.“ All dem stimmt auch die Industrie- und Handelskammer Leipzig zu. „Das CTC ist eine der wenigen mit Kohleausstiegsgeldern finanzierten Maßnahmen, die großes Potenzial verspricht, zusätzliche Wertschöpfung und Beschäftigung in die Region zu bringen“, heißt es dazu bei der Wirtschaftskammer. Und für Delitzsch bedeutet das: Die alte Zuckerfabrik dort soll wieder richtig Geld verdienen. Nur anders als früher halt.