Von Michael Rothe
Döbeln. Fragt man Döbelns Oberbürgermeister nach seinem Lieblingsobst, dann antwortet er: „Natürlich die Erdbeere“ – und grinst. Was laut jährlichem Pro-Kopf-Verbrauch in Deutschland nur auf Platz 5 rangiert, hat für Sven Liebhauser (CDU) weit mehr Gewicht. Das rote Früchtchen steht für das nahe gelegene Karls Erlebnisdorf und beschert der Stadt in Mittelsachsen viel Aufmerksamkeit. Der vor einem Jahr eröffnete Freizeitpark zählt bereits gut eine Million Besucher. Im Juni soll ein neues 200-Betten-Hotel öffnen und für weiteren Ansturm sorgen. Auch auf die Große Kreisstadt?
Noch spürt Döbelns City wenig von der Attraktion vor den Toren der Stadt – und der OB allenfalls einen süßen Vorgeschmack. Derweil besinnen sich die Entscheider vor Ort auf eigene Ideen, um die Innenstadt zu beleben – und das preisgekrönt. Bei Sachsens jährlichem Wettbewerb „Ab in die Mitte!“ hat die Kommune wiederholt abgeräumt, zuletzt sogar den Hauptpreis. Für die „Stiefelparade für einen Paradestiefel – ein Riese wird 100“ gab es 60.000 Euro. An zehn markanten Punkten werden demnächst 2,50 Meter hohe Stiefel aus Faserverbundstoffen aufgestellt: so ein Lesestiefel vor der Bibliothek, ein Blumenstiefel vor dem Rathaus, ein Energiestiefel vor den Stadtwerken – gestaltet von Künstlern und Kindern.
Das 3,70 Meter hohe Original ist das Wahrzeichen der Muldestadt. 1925, zum 600-jährigen Jubiläum der Schuhmacherinnung, hatten sieben Meister den gigantischen Schuh gefertigt, der heute im Sitzungssaal des Rathauses steht. „Wir brauchen lebendige Innenstädte als gesellschaftliche Treffpunkte und Orte, die Identifikation und Heimatgefühl stiften“, sagt Staatssekretär Thomas Kralinski (SPD). Döbeln schaffe mit einem regionalen Alleinstellungsmerkmal neue Treffpunkte und Fotomotive.
Die Innenstadt ist komplett von der Mulde umschlossen
Dabei hat die über tausend Jahre alte Stadt andere Traditionen: bei Zigarren, Seifen, Mieder-, Silber- und Metallwaren. Döbeln war reich und aufstrebend, wie das Stadtmuseum im Rathausturm verrät. Allein in der Robert-Tümmler-Fabrik, zu DDR-Zeiten als Besteckhersteller DBM bekannt und nach der Wende von der Treuhand liquidiert, arbeiteten bis zu 2.000 Menschen.
„Die Stadt erlebte ihren Aufschwung Mitte des 19. Jahrhunderts durch die Bahnanbindung nach Dresden und Elsterwerda“, erklärt Stadtsprecher Thomas Mettcher. Noch immer profitiere sie von der guten Lage inmitten des Dreiecks Leipzig, Dresden, Chemnitz. In Stadt und Umland habe sich ein stabiler Mittelstand entwickelt mit gut 2.300 Gewerbeanmeldungen. Auch die Verkehrsanbindung könnte schlechter sein mit je zwei Autobahnen und Bahnlinien, „und an der dritten nach Dresden arbeiten wir wieder“, so Mettcher. Ansässige Institutionen wie Landratsamt und Sachsens Rechnungshof bestätigten den Stellenwert. Auch „weiche“ Standortfaktoren hat das Mittelzentrum zu bieten: 14 Schulen, ein Klinikum, 15 Hotels und Pensionen, 36 gastronomische Einrichtungen, Theater, Kino, Hallenbad, Dutzende Sport- und Freizeitvereine. „Das wissen Döbelner und Zugezogene zu schätzen“, sagt OB Liebhauser. Der 44-Jährige spricht von einer „seit Jahren stabilen Einwohnerzahl um 23.500“.
Döbeln hat eine Besonderheit: „Unsere Innenstadt ist komplett von der Freiberger Mulde umschlossen und mit 17 Hektar Sachsens größte bewohnte Insel“, so das Stadtoberhaupt. Auch eine Insel der Glückseligen? Geografisch eher nicht. Immer wieder gab es heftige Überflutungen. 2002 stand die Innenstadt teils 3,50 Meter unter Wasser. 37 Häuser wurden erst gar nicht wiederaufgebaut. Wegen der Katastrophe konnte der „Tag der Sachsen“ erst zwei Jahre später stattfinden. Derzeit laufen Schutzmaßnahmen im Wert von 100 Millionen Euro mit verbreitertem Flutbett und Verteilerwehr. Die Stadt will aus der Notwendigkeit eine Tugend und das Muldenufer attraktiver machen. Gestaltete Sitzbänke und Spielplätze sollen die Verweildauer am Fluss und in der Innenstadt erhöhen, sagt der dreifache Familienvater. Auf der Insel bekämen Häuslebauer bis 2030 einen Sanierungszuschuss. „Wir wollen, dass die Innenstadt zum Einkaufen, Wohnen und Erleben einlädt“, sagt Liebhauser. Die City sei die Basis, auf der die sechs gut ausgelasteten Gewerbegebiete außerhalb aufbauten.
Wer durch die mit Kopfstein gepflasterten Gassen mit dem Gleis der wiederbelebten Pferdebahn spaziert, spürt kaum Verfall und wenig Leerstand. Das ist nicht die Regel in Sachsens Mittelstädten. „Wir machen es nicht besser, aber auf besondere Art und Weise“, sagt der Oberbürgermeister. Die Plattform Kommunal.de führe Döbeln unter gut 580 Städten regelmäßig unter den besten, etwa 2021 als „Deutschlands Aufsteiger-Stadt“ Nummer zwei nach Ilmenau in Thüringen. „Dass wir gewürdigt werden, ist für uns Bestätigung mit der Strategie nicht ganz falsch zu liegen“, freut sich der gelernte Bankkaufmann. Der EU-Fonds für Regionalentwicklung und Förderprogramme wie „Stadtumbau Ost“ hätten die barrierefreie Gestaltung von Ober- und Niedermarkt ermöglicht – inklusive öffentlicher Toilette. Der Frischemarkt drei Mal pro Woche, Freiluft-Konzerte, Weihnachtsmarkt und andere Veranstaltungen zögen viele Menschen an. Dank Privatisierung seien in der Innenstadt fast alle Häuser saniert. Die Stadträte hatten den Mut zum Verkauf gehabt.
Ihr Konzept: unten Handel, oben Wohnen zu bezahlbaren Mieten. Voriges Jahr habe die TAG Wohnen & Service GmbH für fünf Millionen Euro einen großen Wohnkomplex altersgerecht saniert. Wichtig sei, dass die City auch abends keine Geisterstadt ist. Zur Belebung wurde ein Innenstadt-Koordinator eingestellt. Der heißt Christoph Klix und residiert unweit vom Rathaus. Der gläserne Eingang mit stilisierter Stadtsilhouette erlaubt großformatige Einblicke.
Die Nähe zu Karls Erlebnishof noch besser nutzen
Aber der 30-Jährige will auch gesehen werden. Im Teilzeitjob, bezahlt aus dem Bundesprogramm „Lebendige Zentren“, widmet er sich vor allem Angeboten für die Jugend. Ideen entstünden bei Händler-, Vereins- und Kulturstammtischen, sagt er. „Wir haben viele Spielplätze für Kleine, aber für Teenies noch viel Nachholbedarf“, so der Netzwerker. Er denkt an ein flippigeres Shoppingangebot und offizielle Graffiti-Wände zum Austoben.
Macher sitzen auch im Stadtwerbering, einem Zusammenschluss von 60 Gewerbetreibenden, darunter unbequeme wie seine Chefin Grit Neumann. „Wir haben eine tolle Innenstadt mit breitem Einzelhandel – von Spielwaren über Kaffee und Tee, Mode bis zum Kosmetikinstitut“, sagt sie. Dennoch ist die Friseurmeisterin, die in ihrem City Haarstudio auch Wein verkauft, unzufrieden. Sie moniert, dass Sachsens Ladenschlussgesetz verkaufsoffene Sonntage nur zu Events zulässt, denn es falle immer schwerer, solche Feste zu organisieren. Die 55-Jährige fordert weniger Bürokratie, Realitätssinn für neue Einkaufsgewohnheiten und von der Stadt Gehör fürs Ehrenamt. Sie hinterfragt, warum die Riesenchance durch Karls Erlebnisdorf nicht besser genutzt werde. „Wenn nur zehn Prozent der Besucher in die Stadt kämen, wäre das ein Gewinn“, ist sie überzeugt. Zwar gebe es eine Buslinie zwischen Hauptbahnhof und Freizeitpark, doch führe die nicht durch die Innenstadt – „ein Schildbürgerstreich“. Neumann fürchtet, dass Karls Hotelgäste eher zum Völkerschlachtdenkmal oder zur Frauenkirche fahren als ins fünf Kilometer entfernte Döbeln.
„Wir haben einen Plan für die nächsten 15 Jahre“, sagt Liebhauser. Der nenne sich INSEK, integriertes Stadtentwicklungskonzept. Darin stecken etwa Überlegungen, das Parken in der Adventszeit kostenlos zu machen. Schon jetzt sei die erste halbe Stunde gratis. Bei Investitionen sei die Stadt abhängig von Zuweisungen von Freistaat und Bund, dennoch gebe es Gestaltungsräume, so der OB. Bei ihm sei „das Glas immer halb voll“. Werden fliegende Schokoladentafel, Bockwurstschleuder und Senfrutsche – so die Attraktionen im Namen der Erdbeere – die erhofften Besucher in die Stadt spülen? Es bleibt eine Wette auf die Zukunft.
