Von Michael Rothe
Es ist ein Damenbein, das den Reporter auf die Fährte lockt. Das Schwarz-Weiß-Foto zeigt das abgetrennt wirkende Körperteil mit dunklem Strumpf, darüber ein Strumpfband mit Blüte. Der Dresdner Konditormeister Gerhard Röder erinnert sich gut an diesen Fall Ende der 1960er-Jahre – und an den Täter: Gerhard Metasch, ein Berufskollege des heutigen Rentners.
Das Bein habe damals für Aufsehen gesorgt, sagt er. Dokumentiert ist der Vorgang am 11. März 1969: nicht bei der Kripo, sondern im Patentamt Berlin und für die Nachwelt digitalisiert von Paton, dem Landespatentzentrum von Thüringen in Ilmenau. Kein Verbrechen, aber eine süße Sünde.
Das zwei Finger dicke und 100 Gramm leichte Marzipanteil mit teilweisem Schokoüberzug gehört zu rund 20.000 industriellen Formen, die von 1952 bis 1990 in Ostdeutschland als Geschmacksmuster angemeldet wurden. Dabei meint der Begriff nicht nur Essbares, sondern auch Fahrzeuge, Möbel, Maschinen, Ziergegenstände und vieles mehr. Ein Großteil der Urheber kam aus Sachsen, allein gut 1.337 Einträge haben einen Dresden-Bezug. 946 Anmelder sind aus Leipzig und 1.157 aus Karl-Marx-Stadt, das heute wieder Chemnitz heißt.
Die DDR war ein rohstoffarmes Land. Ihr wichtigstes Gut: Grips. Christoph Hoock, Leiter des an der Technischen Universität (TU) angesiedelten Paton, seine Mitarbeiterin Sabine Milde und eine Handvoll Helfer haben diesen Schatz – einen Formenschatz – gehoben, digitalisiert und so elektronisch recherchierbar gemacht. Ihre drei Jahre Forschungs- und Fleißarbeit im Leibnizbau der TU wurden von der Deutschen Forschungsgemeinschaft mit 320.000 Euro gefördert.
DDR-Designerbe größer als MZ, Erika und Sternrekorder
Die legendären Küchengeräte RG 25 und 28 sowie die Mopeds aus Suhl sind gelernten DDR-Bürgern ein Begriff. Auch die Erika-Schreibmaschine vom Kombinat Robotron mit Sitz in Dresden und das robuste Mitropa-Geschirr mit Ursprung in den Porzellanwerken Colditz. Doch das Design-Erbe Ost ist viel größer – lag bislang aber nur in zwei Beständen auf Papier vor: 14.727 Einträge im Warenzeichen- und Musterblatt der DDR und auf Tausenden Karteikarten der Berliner Zweigstelle des Deutschen Patent- und Markenamtes (DPMA).Suche nach der Nadel im Heuhaufen.
„Ein Design wird als eingetragenes Design geschützt, wenn es neu ist und Eigenart hat.“ So steht es im Designgesetz. Demnach sind industrielle Muster des untergegangenen Arbeiter- und Bauernstaats zwar zu berücksichtigen, sie waren aber – anders als bereits digitalisierte Patente und Marken – nicht im DPMA-Register und von ihm gespeisten Datenbanken enthalten.
„Das ist wohl 30 Jahre vergessen worden“, sagt Sabine Milde lakonisch. Zur Prüfung einer Neuheit oder eigenen Form habe viel Papier an mehreren Orten durchforstet werden müssen – ohne heute gängige Onlinesuchsysteme nach Titel, Namen der Betriebe, Urheber. Recherchen glichen einer Suche nach der Nadel im Heuhafen.
„Ein Patent beschreibt neue Techniken, steckt in der Regel im Objekt drin und ist von außen nicht sichtbar. Beim Design ist es umgekehrt“, beschreibt Christoph Hoock den Unterschied. Und Geschmacksmuster habe man sich damals wie heute schützen lassen können, so der promovierte Paton-Chef. Ihre Aufbereitung war nach Aussage der Protagonisten „eine Herausforderung“ – eher eine Untertreibung. Es gab Kartonkarten mit aufgeklebten Ausschnitten, Stoff- und Teppichmustern und Babylätzchen. Hefte waren vergilbt, Karteikarten hatten Wasserflecke, eine verblasste Schrift. Rechtschreibfehler und unsauberer Druck kamen erschwerend hinzu. Und die Zusammenführung der Bestände war nur in der Schnittmenge von 1964 bis 1984 möglich. Immerhin konnten die Einträge so um 13.000 Bilder und Textilien angereichert werden. Für ein öffentlich zugängliches Online-Suchsystem wurden bibliografische Daten aus den Warenzeichen- und Musterblättern mit Bilddaten aus den Karteikarten verknüpft und verlinkt.
Es gibt auch Überraschendes und Skurriles
Diese DDR-Hinterlassenschaft – darunter Überraschendes und Skurriles – kann nun für Forschung und Design-Recherchen genutzt werden, aber auch von interessierten Bürgern. Die Palette der Einträge reicht von einer „Spitzenraschelgardine“ des VEB Plauener Spitze über Abfallbehälter für Reichsbahnwagen vom Waggonbau Bautzen und Senfbecher von dort bis zur bungalowartigen Eigenheimserie mit den Namen Lilienstein, Pirna, Hohnstein, Pulsnitz aus dem Betonleichtbaukombinat Dresden.
Ausgefallen kommt ein „Heißes Höschen“ der Willy Frömmel KG. Radeberg daher und ein Flaschenöffner vom Robotron-Buchungsmaschinenwerk Karl-Marx-Stadt. „Rechner wissen, wer bezahlt“, steht auf dem stilisierten Männchen – und das deutet schelmisch zur Seite. Da gibt es den Spezialsportschuh für Ringer aus den Vereinigten Schuhfabriken Meißen und Krawattenschleifen von der Helmut Haucke KG Großröhrsdorf – aber auch Keramik, Porzellan und Schuhe von dort. Besteck aus Riesa und Hydrotöpfe aus Kamenz sind ebenso vertreten wie Möbelgriffe und Beschläge aus Döbeln, die Tubuskamera Beirette aus Freital, Fallminenstift, Faser- und Kugelschreiber sowie Mähdrescher aus Singwitz.
Bis zur Fertigung vergingen oft Jahre, manches kam auch nie auf den Markt, wie der „Doppelstockwagen mit Wendezugsteuerabteil“ vom Waggonbau Görlitz von 1989. „Mit der Anmeldung hat man sich aber die Chance auf das Monopolrecht gesichert“, sagt Sabine Milde. Und die Betriebe hätten solche Muster mit bis zu 50.000 DDR-Mark vergütet bekommen.
Jochen Ziska aus Bennewitz an 137 Projekten beteiligt
Bei den Urhebern gibt es viele Wiederholungstäter. Allen voran: Jochen Ziska. Der Formgestalter aus Bennewitz war an 137 Projekten beteiligt – von der Heckenschere bis zum Behindertenfahrzeug. Sein bekanntestes Stück: der Sternrekorder, auch „Holzstern“ genannt. Karl Clauss Dietel aus Chemnitz taucht in 55 Anmeldungen auf. Er wird z. B. bei den Simson-Mopeds „Star“ und „S 50“ sowie bei Erika-Schreibmaschinen genannt. Die letzte Anmeldung datiert vom 14. Mai 1990.Auch wenn die Schutzdauer der Muster längst abgelaufen sei und keine Verletzungsgefahr durch Dritte bestehe, so gehörten sie weiter zum „Formenschatz“ und spielten zur Beurteilung zukünftiger Muster eine wichtige Rolle, sagt Patentberaterin Milde. Sie könnten auch bei Design-Nichtigkeitsverfahren einbezogen werden.
Für die Arbeit von Hoock & Co gibt es Lob von höchster Stelle. Veronica Biermann, Professorin für Design und Architekturgeschichte, nennt sie eine „beeindruckende Forschungsleistung“ – und für die Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle „ein Riesengeschenk“. Die Ex-Hochschule für industrielle Formgestaltung sei aufs Engste mit der industrie- und alltagskulturellen Design- und Wirtschaftsgeschichte der DDR verbunden, sagt die Prorektorin.
Das Paton öffne „ein digitales Fenster, durch das wir forschend nicht nur in eine reich dokumentierte Vergangenheit blicken, sondern die erbrachten Leistungen auch wieder in die Gegenwart zurückholen können“, würdigt Kunsthistorikerin Biermann: Zur Überprüfung und Gewichtung der eigenen historischen Bedeutung – etwa im Vergleich zur Hochschule für Gestaltung Ulm in der BRD sowie zur Überprüfung und Gewichtung unterschiedlicher Gestaltungskompetenzen der einst dort Lehrenden und Studierenden – „ob in der DDR nicht schon längst gedacht und gemacht wurde, was heute als ,neu‘ gilt“.
Das Projekt und seine Macher
- Der Bestand der Designs aus der DDR-Zeit sollte für Forschung, interessierte Öffentlichkeit und effektive Recherchen erschlossen werden.
- Papierbestände im Paton wurden mit zugehörigen Karteikarten im Deutschen Patent- und Markenamt verknüpft und elektronisch aufbereitet.
- Hefte, Karteikarten, Fotos und Stoffmuster wurden optisch abgetastet und digitalisiert.
- Paton befasst sich seit 1996 mit rechnergestützten Fach- und Patentinfos in Lehre, Forschung und Praxis.
- In Sachsen gibt es die Zentren an den TU Dresden, Chemnitz und bei der AGIL GmbH Leipzig. (SZ/mr)