Läuft man mit Joachim Rudolph durch die Görlitzer Altstadt, kommt man nicht weit. „Ach, hallo!“, ruft er einer Frau zu.. Er kennt sie von der Altstadtstiftung, wo er über Jahre gemeinsam mit den anderen Mitgliedern entschied, in welche Vorhaben die Altstadtmillion fließen soll. „Meine Frau läuft auch nicht gerne mit mir durch Görlitz“, scherzt Rudolph. Man muss sich darauf einstellen, öfter mal stehen zu bleiben, wenn er Bekannte trifft.
Und Rudolph kennt sehr viele Menschen. Von seiner früheren Arbeit im Sankt Wenzeslaus-Stift in Jauernick-Buschbach, das er 14 Jahre leitete. Vorher, bereits zu DDR-Zeiten, war er 22 Jahre Leiter der beiden evangelischen Altenheime in Görlitz, Bethanien und Wichernhaus. Man kennt ihn vom Aktionskreis für Görlitz, von den Maltesern, von der deutsch-polnischen Zusammenarbeit, von der Rumänienhilfe oder auch Sozialprojekten für die Wenzeslaus-Gemeinde im tschechischen Schluckenau. Er ist auch Kuratoriumsmitglied in der Evangelischen Kulturstiftung und führt oft Besucher durch die Anlage des Heiligen Grabes.
Aber heute wird man Joachim Rudolph nicht in Görlitz treffen. Er ist in Berlin im Schloss Bellevue. Vom Bundespräsidenten erhält er das Bundesverdienstkreuz. „Ich hatte manchmal schon Post vom Bundespräsidialamt im Briefkasten“, erzählt Rudolph. Er war bereits zu verschiedenen Anlässen eingeladen, und zum Tag der Deutschen Einheit vor 13 Jahren sprach er in Brüssel vor den Deutschen des Obersten Hauptquartiers der Alliierten. Auch damit ist Joachim Rudolph vielen ein Begriff: seinem politischen Engagement seit der Wendezeit. Er gehörte zum Neuen Forum Görlitz. Kurz vor der politischen Wende bildeten sich in vielen ostdeutschen Städten Neue Foren. In Görlitz gehörte zum Beispiel das Pfarrerehepaar Naumann, der spätere Kulturamtsleiter Stefan Waldau, der Theologe Roland Antkowiak, Ärzte wie Peter Stosiek, Roland Goertchen, Axel Nischwitz dazu. In Arbeitsgruppen diskutierten sie Probleme, die es vor Ort gab. Man traf sich im Pfarrhaus des Ehepaares Naumann, in einem Raum über der Pathologie im Görlitzer Klinikum, und in Bethanien. „Ein Altersheim war unverdächtig. Es gingen ja immer Besucher ein und aus“, erzählt Joachim Rudolph. „Wir suchten nach Lösungen für mehr Demokratie, für mehr Freiheit und stellten ganz praktische Forderungen auf nach besseren Wohnbedingungen, mehr Lebensmitteln in den Regalen, gerechteren Löhnen.“ Der bauliche Verfall sei ein Thema gewesen, auch die Grenzsituation, die fehlenden Reisemöglichkeiten. „Es ging damals noch nicht sofort um die deutsche Einheit. Wir wollten zuerst Problemlösungen und Reformmöglichkeiten.“ In der Görlitzer Frauenkirche fanden im Oktober 1989 die Friedensgebete statt. Und im Wichernhaus gründete sich am 26. Oktober das Neue Forum offiziell. Ein nächster Schritt waren die runden Tische.
Nach der politischen Wende kandidierte Rudolph bei der ersten OB-Wahl. „Wir wollten politische Verantwortung übernehmen“, sagt er und meint die Mitglieder des Neuen Forums. Die Wahl verlor er damals gegen den CDU-Kandidaten Matthias Lechner, Rudolph war allerdings zehn Jahre lang für die Bündnisgrünen im Stadtrat.
Als er vor einigen Tagen den Umschlag mit dem Absender Bundespräsidialamt öffnete, war er doch perplex: 16 Menschen aus den 16 Bundesländern, die sich in besonderer Weise für politische Bildung einsetzen, erhalten am heutigen Mittwoch das Bundesverdienstkreuz, darunter Joachim Rudolph. Man glaubt ihm die Verwunderung auch Tage danach noch. Lachen und Kopfschütteln immer wieder. „Das ist doch verrückt.“ Rudolph stammt aus Görlitz und aus einer christlich geprägten Familie. Sie zog, als er zwei Jahre alt war, nach Leipzig. Ein bisschen Widerstand scheint in der Familie zu liegen. Wenn in Leipzig Messe war und viele Auswärtige anreisten, trafen sich bei Rudolphs oft christliche Kreise. Einmal wurde der Vater sogar verhaftet. Abitur durfte er nicht machen. „Dafür gab es das Norbertinum in Magdeburg, wo ich das Abitur nachholen konnte.“ Danach studierte er katholische Theologie.
1980 kam Rudolph zurück nach Görlitz, wurde Hausvater der Häuser Bethanien und Wichernhaus, zwei evangelische Altersheime. „Ein kleines Wunder der Ökumene“, scherzt er. Tatsächlich habe er als Katholik nie große Schwierigkeiten gehabt in den evangelischen Einrichtungen. Rudolph kümmerte sich damals nicht nur um die Bewohner der Häuser. Immer häufiger wurde er Ansprechpartner für Menschen, die einen Ausreiseantrag gestellt und einfach über ihre Sorgen sprechen wollten. Viele, die durch den Ausreiseantrag ihre Arbeit verloren hatten, stellte er übergangsweise bei sich ein. „Zu Spitzenzeiten hatte ich mehr Ausreiser als eigene Leute.“ Teils bewahrte er auch Umzugsgut und persönliche Dokumente auf. Das Thema Ausreise brachte aber auch einen inneren Widerstreit mit sich. „Ich hatte die Hoffnung nicht verloren, dass sich die Verhältnisse ändern würden“, erzählt Rudolph. „Und es waren so viele gute Leute, die da weggingen. Aber es war auch meine Pflicht und Überzeugung, ihnen zu helfen.“
2002 wechselte Joachim Rudolph zum Sankt Wenzeslaus-Stift in Jauernick-Buschbach. In diese Zeit fällt auch der private Umzug nach Markersdorf. In Bethanien galt das Hauselternprinzip. Joachim und seine Frau Gabriela Rudolph wohnten mit den Bewohnern im selben Haus – und über dem damals angeschlossenen Kindergarten. Nach 22 Jahren wollten sie etwas mehr Raum für sich. Drei Kinder haben die beiden großgezogen. Die Tochter ist inzwischen Kuratorin am Stadtmuseum Dresden, der ältere Sohn leitet ein Berliner Hotel, der jüngere ist in Hamburg Analyst bei einem Bahnprojekt.
Inzwischen ist Joachim Rudolph im Ruhestand – und trotzdem überall dabei. Was seine Frau zum Unruhestand sagt? „Ach, sie kennt mich so schon all die Jahre“, sagt er und lacht. „Meine Frau hat mir immer den Rücken freigehalten. Im Wenzeslaus-Stift haben wir ja auch zusammengearbeitet, dadurch war immer viel Verständnis da.“ Noch immer ist er einmal im Monat in Bethanien und im Wichernhaus zur Seelsorge. Rudolph hat einen bekannten Namensvetter: den Berliner Fluchthelfer Joachim Rudolph. Er grub Tunnel. Der Görlitzer Joachim Rudolph sieht sich selber eher als Brückenbauer. Ein viel genutztes Wort. Aber es ist auch tatsächlich etwas dran: Als Katholik arbeitete er in evangelischen Einrichtungen, bei deutsch-polnischen Projekten trifft man ihn häufig, beim Via-Sacra-Verein ist er Vorstandsmitglied, immer wieder ist er bei Hilfstransporten dabei.
Die Malteser sind ihm bis heute sehr wichtig. Sie lernte er beim ersten Görlitzer Hilfsgütertransport nach Rumänien im Winter 1989 kennen. „Wir waren eine kleine Gruppe und sind mit geborgten Fahrzeugen und den Hilfsgütern wie Lebensmittel, Kleidung und Schuhen losgefahren.“ In Budapest bekam die kleine Gruppe Unterstützung von den Maltesern, die die internationale Hilfe in Rumänien koordinierten. Ein Engagement, das Rudolph sehr beeindruckt habe: Mit einigen Freunden baute er den hiesigen Malteser-Hilfsdienst mit auf. Er ist bis heute Diözesanleiter für die Malteser des Bistums Görlitz.
Natürlich gab es auch Dinge, die besser hätten laufen können. Die Entwicklung des Einzelhandels in den vergangenen Jahren sieht Rudolph kritisch. Dessen Aufbau war für ihn bereits zu Wendezeiten ein wichtiges Thema. Den Rückgang jetzt zu sehen, tue weh. Auch bei den Görlitzer Städtepartnerschaften zu Novy Jicin, Wiesbaden und Amiens wünscht er sich wieder mehr Leben, mehr Bedeutung. Aber man dürfe nicht immer nur das Negative sehen. In Görlitz würden viele das aber zu oft tun, findet er. Ob es nun um Einzelhandel, Städtepartnerschaften, Görlitzer oder grenzübergreifende Ideen geht, Rudolph wünscht sich eher, dass man nach vorne blickt, mehr Mut, Fantasie. Und vor allem keine Abgrenzung.
Von Susanne Sodan
Foto: © Nikolai Schmidt