Von Luisa Zenker
Es ist im September 2022, als der russische Professor Alexey Alekseenko beschließt, zu fliehen. In der Zeit beginnt Russland, in großem Umfang zu mobilisieren, um junge Männer für den Angriffskrieg auf die Ukraine zu rekrutieren. Für den Familienvater zweier Kinder ist damit die rote Linie überschritten, er begibt sich wie Hunderttausende junge Männer auf die Flucht. Warum? „Mein Familienname ist ukrainisch“, erklärt Alekseenko zwei Jahre später in einem Büro im sächsischen Weißwasser. Hier arbeitet er jetzt für die Vereinten Nationen. Doch bis es dazu kam, hatte Alekseenko einen weiten Weg vor sich. Denn vor zwei Jahren konnte er in keinem westlichen Land Asyl suchen. „Niemand wollte dich mit einem russischen Pass“, erinnert sich der 32-jährige Alekseenko.
Er hatte Glück, denn seine Ehefrau ist Jüdin. Eine Tatsache, die erst mit dem Krieg relevant wurde. „Meine Frau hat nie die Religion praktiziert“, so Alekseenko. Aber da die Großeltern Juden waren, bekamen er und seine Familie ein Visum für Israel.
Nach Russland beginnt der nächste Krieg
In Haifa, einer Hafenstadt im Norden Israels, will sich die Familie ein neues Leben aufbauen. Alekseenko und seine Partnerin versuchen, hebräisch und arabisch gleichzeitig zu lernen. Ihr Sohn geht in den Kindergarten, seine beste Freundin kommt aus der Ukraine. Ihm fällt hebräisch von Anfang an leicht. Sie müssen das Geld zusammenhalten, denn Alexeys Professur wurde gekündigt. In Sankt Petersburg unterrichtete er seine Studierenden in den Bereichen Geoökologie und Bergbau. „Die Lehre hat mir viel Spaß gemacht“, sagt Alekseenko, der sich aber auch an die leeren Blicke im Hörsaal nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges erinnert. Und an die Diskussionen in den Seminarräumen, die leiser und leiser wurden. Während seiner Zeit in Russland arbeitete Alekseenko zudem als Teilzeit-Professor für die Vereinten Nationen und besuchte Bergbauregionen weltweit.
Der Wissenschaftler forscht nicht etwa zum Abbau von Kohle und Metallen, sondern zu allem, was danach passiert. Also der Zeit, wenn die Mine schließt und die Bagger stillstehen. Dafür besucht er verlassene Minen in der Mongolei, China, Indien, Amerika. So konnte er auch von Israel aus ein paar Stunden pro Woche für die Vereinten Nationen arbeiten. Dennoch bewirbt sich der Wissenschaftler an verschiedenen israelischen Universitäten. Nach einigen Monaten erhält er eine Zusage. Mitte Oktober soll er den Vertrag unterzeichnen. „Es gibt ein Sprichwort bei uns: Wenn du den Gott lachen hören möchtest, dann erzähle ihm deine Pläne“, wird Alexey Alekseenko im Nachhinein sagen. Denn am 7. Oktober 2023 attackieren die Hamas Israel. Er sieht die Raketen am Himmel, muss mehrmals Zuflucht in den Bunkern suchen und beobachtet vor dem Kindergarten bewaffnete Männer und Frauen, die vor Terroranschlägen in den Einrichtungen schützen sollen. Schnell entscheiden er und seine Frau, mit den Kindern zu fliehen.
Auch hier hat er trotz allem Glück. Durch den Umzug nach Haifa hat die Familie israelische Pässe erhalten. Was von Russland aus nicht möglich war, ist es jetzt: Die Familie darf nach Deutschland. Im Januar 2024 ziehen sie nach Sachsen. Für Alekseenko ist das kein neuer Ort. Bereits während seiner Promotion hat er einige Monate in Freiberg verbracht. Seine Arbeit bei den Vereinten Nationen läuft über das Dresdner Institut UNUFlores. Ein 2012 gegründetes Universitätsinstitut der Vereinten Nationen für integriertes Management von Materialflüssen und Ressourcen. Es ist eines der 13 Institute der UN-Universität – eine Art globale Denkfabrik hin zu einer nachhaltigen Wirtschaft. In seiner internationalen Arbeitsgruppe habe man auch darüber diskutiert, ob er als russischer Wissenschaftler bleiben darf. Alekseenkos Antwort: „Wir sind die vereinten, nicht die gespaltenen Nationen.“
Warum ist die Lausitz nicht stolz, fragt der Professor
Trotz all der Flucht zählt für den Professor einzig die Wissenschaft. Während seiner Zeit in Israel schreibt er an einem dreihundertseitigen Forschungsbericht: Die nachhaltige Transformation der Kohleregionen im globalen Süden. Nach vier Monaten in Sachsen lädt er 30 internationale Wissenschaftler und Expertinnen in die Lausitz ein, gefördert von der UN und der G20 Global Land Initiative. Vier Tage lang besuchen sie Orte, wo die Bagger noch Kohle schaufeln, oder schon lange stillstehen. Denn gerade Letzteres ist das, was der russische Professor von Deutschland in die Welt tragen möchte. Die Lausitz könne ein Vorbild sein für den Umgang mit dem Kohle-Aus, sagt Alekseenko in seinem UN-Büro in Weißwasser. Er möchte, dass die Lausitz stolz darauf ist, wie sie den Strukturwandel meistert. Dem jungen Professor kann man da wohl glauben, denn er hat viele verlassene Orte gesehen. Nach dem Abbau werden die Tore verschlossen und die Menschen sitzengelassen, meist auf giftiger Erde, weiß er. „Grey towns with no future“, beschreibt er die grauen Dörfer, die er gesehen hat – in Russland, in der Mongolei, in Australien.
In Indien hat er beobachtet, wie das Gelände einer alten Mine bewaldet wurde. Ein Zaun wurde um den Forst gezogen und die Kohlekumpels durften das Gebiet nicht mehr betreten. „Vögel sind schön, aber sie können nicht denjenigen helfen, die auf der Suche nach Arbeit sind“, erklärt er. Naturschutz ja, aber gerecht- das ist seine Devise für die Zeit nach der Mine.
Es gebe so viele Möglichkeiten, was mit einer Grube geschehen kann, sagt er mit Blick auf die Lausitz und die vielen Strukturwandelprojekte, wie etwa das neue Zentrum für Astrophysik. „Es ist einzigartig.“
In Russland würde man manche Orte nach dem Abbau einfach verlassen. Auch darin sieht er einen von vielen Gründen, warum die russische Politik so geworden ist, wie sie jetzt ist. Eben weil der Strukturwandel nicht gerecht ablief, ob im Bergbau oder in der Industrie.
Alexey Alekseenko steigt jetzt auf den Schweren Turm in Weißwasser und blickt auf den Tagebau. Er seufzt: „Alle Minen werden eines Tages geschlossen sein. Egal – ob mit oder ohne Klimawandel.“ Ressourcen sind endlich, auch Kupfer, Gold, Lithium. „Wir müssen uns fragen, wie wir den Wandel am besten hinbekommen.“