Von Michael Rothe
Gut 55.000 Unterschriften können lang sein: 15 laufende Meter, bestätigt von Bürgerämtern und einsortiert in 188 Leitz-Ordnern. Und sie haben Gewicht – vor allem politisch. Das hofft zumindest Daniela Kolbe, stellvertretende Landesvorsitzende des DGB Sachsen. Es geht um nicht weniger als ein Landesgesetz, dass Beschäftigten in Sachsen fünf bezahlte Tage zur Weiterbildung garantiert.
Initiatorin Kolbe und Vertreter von Gewerkschaften, Parteien, kirchlichen, freien und sozialen Trägern übergaben die Sammlung am Mittwoch an Sachsens Landtagspräsidenten Matthias Rößler (CDU). Sie hatten die Willensbekundung sächsischer Wahlberechtigter von September bis Juni gesammelt – mehr als die nötigen 40.000. Damit hat der Volksantrag für Bildungsurlaub das erste Ziel erreicht: Der Landtag muss sich mit dem ebenfalls vorgelegten Gesetzentwurf befassen. Unter den Unterstützern: SPD, Grüne und Linke.
Es geht auch um Trainer und mitunter um Leben und Tod
„Das ist ein Riesenerfolg, und wir erwarten, dass der Gesetzentwurf ernst genommen wird – auch von jenen, die das Anliegen bisher kritisch sehen“, sagt die Gewerkschafterin. Schließlich kämen die Unterzeichner aus der ganzen Zivilgesellschaft. „Wer eine Bildungsrepublik fordert, kann zu einer Bildungszeit eigentlich nicht nein sagen, da unbestreitbar ist, dass wir dringend mehr Weiterbildungsbereitschaft in unserem Land brauchen“, so Kolbe. Es gehe nicht nur um Know-how für Unternehmen, auch um Trainer in 4.500 Sportvereinen, Vertrauensleute in Betrieben – und bei der Freiwilligen Feuerwehr auch um Leben und Tod, betont Christian Dahms, Hauptgeschäftsführer des Landessportbundes.
Alle Bundesländer haben so ein Gesetz für meist fünf bezahlte Arbeitstage im Jahr – mit Ausnahme von Sachsen und Bayern. Es erlaubt berufliche, kulturelle und politische Weiterbildung oder eine Qualifizierung für ehrenamtliche Arbeit. Teils gilt es ab einer Betriebsgröße von fünf, zehn oder 20 Leuten. Der Antrag kann verwehrt werden, wenn Betriebserfordernisse entgegenstehen. Und: Urlaub anderer hat Vorrang.
Für den Landtagspräsidenten ist die Übergabe ein Déjà-vu-Erlebnis. Schon vor der Landtagswahl 2019 hatte Rößler 50.120 Unterschriften entgegengenommen – für längeres gemeinsames Lernen in Schulen. SPD und Grüne konnten der CDU danach die Bildung von Gemeinschaftsschulen abringen. Gibt es nun erneut Futter für den nahen Koalitionspoker?
Was ist in Sachsen anders als in den anderen Ostländern?
Auf Unterstützung durch die Christdemokraten, bislang stärkste Kraft im Landtag, können die Initiatoren nicht bauen. Nach deren Ansicht stellt die Forderung einen grundsätzlichen Eingriff in unternehmerische Freiheit dar. Die Arbeitgeber wüssten „selbst, welche Weiterbildungen ihre Mitarbeiter tatsächlich brauchen und werden diese zum Wohl des Unternehmens auch gewähren“, sagt CDU-Wirtschaftsexperte Ingo Flemming zur SZ. Sie hätten zudem nur begrenzt Einfluss auf Inhalte, Fehltage gingen auf Kosten des Ertrags und der Gesamtvolkswirtschaft. Würde nur ein Drittel der Arbeitnehmer im Freistaat Bildungsurlaub nutzen, fehlten 61 Millionen Arbeitsstunden. Das würde die Wirtschaftsleistung um 8,5 Prozent schwächen, rechnet er vor.
Auf die Frage, was in Sachsen anders sei als im übrigen Osten mit ähnlicher Wirtschaftsstruktur aber jener Bildungsfreistellung, geht Flemming auch auf Nachfrage nicht ein. Er sieht aber Bedarf für eine staatlich reglementierte Bildungszeit bei ehrenamtlichen Trainern, Schiedsrichtern und Freiwilliger Feuerwehr. Und die Fraktion sei sich einig mit der CSU in Bayern, dass so ein Gesetz mehr Bürokratie mit sich bringe. Das belegten die Quoten anderswo.
Bundesweit nutzen kaum drei Prozent Bildungsurlaub
Auf solche Zahlen beruft sich auch die Industrie- und Handelskammer (IHK) Dresden bei ihrer Ablehnung. Bildungsurlaub gebe es teils schon seit Ende der 1970er-Jahre, sagt Geschäftsführer Lars Fiehler. Aber trotz intensiver Bemühungen von Personalvertretungen und Gewerkschaften nutzten die Möglichkeit bundesweit nur zwei bis drei Prozent der Berechtigten. Selbst die Bundesregierung habe eingeräumt, dass sich diese Ländergesetze nicht bewährt hätten.
Ferner gebe es Risiken für den sozialen Frieden in den Firmen. „Lehnt ein Arbeitgeber einen Freistellungsantrag mit Verweis auf betriebliche Belange ab, oder muss bei mehreren Interessenten eine Auswahl treffen, zieht das nicht selten Verdruss nach sich“, sagt Fiehler. Laut einer IHK-Umfrage seien nur sieben Prozent aller Unternehmen für einen solchen Rechtsanspruch. „Warum sollte Sachsen ein Format übernehmen, das nachweislich nicht funktioniert?“, fragt Fiehler. Der Freistaat solle vielmehr an der Förderung durch Meister-Bafög, Weiterbildungsschecks und die Bildungsprämie des Bundes festhalten.
„94 Prozent der sächsischen Unternehmen haben weniger als zehn Mitarbeiter. Ist einer krank, einer im Urlaub, einer im Bildungsurlaub, fehlt schnell ein Drittel der Belegschaft“, sagt Fiehler. Um die Gefahr für kleine Betriebe zu minimieren, habe etwa Baden-Württemberg eine Mindestgrenze definiert. Das Gesetz gelte dort ab elf Beschäftigten. Das bedeute, der Freistaat bekäme ein Gesetz, das für nur sechs Prozent der Firmen gelten würde.
Der erste Schritt in einem langen Hindernislauf
Auch Sachsens Handwerkstag lehnt ein Recht auf Bildungsurlaub ab. Für die Betriebe sei „ein derartiges Projekt, zumal in Zeiten ohnehin vorherrschenden Arbeitskräftemangels, wirtschaftlich einfach nicht leistbar“, sagt Uwe Nostitz, Präsident jener Dachorganisation der Kammern und Verbände. Das gelte erst Recht, bei einem Gesetz für Betriebe aller Größenklassen. Wenn Kleinstbetrieben neue Ausgaben und Bürokratie aufgedrückt würden, reagierten viele empfindlich, so der Bauunternehmer. Sie würden fragen: „Warum sollen beruflich Selbstständige für Ausgaben von gesellschaftlich Gewünschtem allein aufkommen?“ Tatsächlich sieht der mit den Unterschriften übergebene Gesetzentwurf keine Mindestgröße vor.
Fazit: Die Übergabe der Unterschriften war der erste Schritt. Der Volksantrag bedeutet aber nur, dass sich der Landtag mit dem Gesetzentwurf befassen muss. Wird er abgelehnt, könnte es ein Volksbegehren geben. Dazu braucht es binnen sechs Monaten 450.000 Unterschriften, fast das Zehnfache der Leitz-Ordner vom Mittwoch.
Landtagspräsident Rößler spricht selbst von einer hohen Hürde. „Aber Sie sind ja trainiert“, sagt er zu Daniela Kolbe. Sachsens DGB-Vizechefin verschwendet dafür „keine Gedanken“. Sie setzt auf Partner in der neuen Regierung. Daher sei der Tag der Ordner-Übergabe auch „taktisch gewählt“. Dennoch sei die Unterschriften-Hürde im Freistaat viel zu hoch, sagt sie. Bürgerbeteiligung ließe sich viel einfacher umsetzen: etwa mit dem digitalen Personalausweis. Auch diese Diskussion wolle man anstoßen. sagt sie. Und es brauche einen „Weiterbildungsschub“. Die geringe Nutzerzahl führt sie auf Zeitdruck der Beschäftigten zurück sowie Unwissenheit, dass es das Instrument gibt.