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Geplante Pulverfabrik in Großenhain: Gerücht mit Explosionsgefahr

Seit vom Bau einer Pulverfabrik durch den Rüstungskonzern Rheinmetall in Großenhain die Rede ist, kommt der Ort nicht mehr zur Ruhe. Niemand weiß etwas – und genau deswegen brodelt es.

Lesedauer: 5 Minuten

Das Bild zeit einen Mann vor dem Schild des Industriegebiet Flugplatz.
Als NVA-Offizier war Armin Benicke für den Zivil- und Katastrophenschutz in der Region Großenhain zuständig. Nun warnt er vor dem Bau einer Pulverfabrik nahe dem Zentrum. © Ronald Bonß

Von Henry Berndt

Er winkt links, er winkt rechts und dann wieder links. Wer ihn nicht gleich sieht, der bekommt ein lautes „Hallo“ auf die andere Straßenseite gerufen, und in der Regel bekommt er einen freundlichen Gruß zurück. Armin Benicke kennt in Großenhain jeden und möchte das beim Bummel durch die Innenstadt auch gern jeden wissen lassen. Dabei ist der 65-Jährige kein Popstar, nicht mal Politiker, dafür aber Flugzeugpilot, Drohnenfluglehrer, Sportschütze, NVA-Veteran und Hans Dampf in allen Gassen.

Eine ältere Frau steuert direkt auf ihn zu. „Herr Benicke, ich wollte mal mit Ihnen über diese Pulverfabrik sprechen. Ich habe gehört, da gab es was im Fernsehen.“ Ohne zu zögern, greift Armin Benicke in seine Brusttasche, zieht sein Handy raus und ruft einen ZDF-Beitrag auf. Darin ist zu hören und zu sehen, was seit einigen Monaten viele Großenhainer beschäftigt: Der Rüstungskonzern Rheinmetall erwägt den Bau einer Pulverfabrik auf dem Gelände des Flugplatzes am Rande der 20.000-Einwohner-Stadt. Chemische Vorprodukte für Munition sollen hier entstehen, 700 bis 800 Millionen Euro könnten investiert und 500 bis 600 Arbeitsplätze geschaffen werden.

Das sind die Informationen, die Ende März an die Öffentlichkeit gerieten. Seitdem sind allerdings keinerlei Details dazu gekommen. Was genau soll dort produziert werden und ab wann? Welche Gefahren gehen davon aus? Und ist die Entscheidung überhaupt schon gefallen? Lauter offene Fragen.

Der Freistaat Sachsen und der potenzielle Investor aus Düsseldorf als Verhandlungspartner schweigen eisern. Nur Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) wagte sich zuletzt vor und brachte einen Bürgerentscheid ins Spiel. „Wenn die Bürger nein sagen, wird das nicht dort stattfinden“, erklärte er. Das sei doch mal ein Wort, an dem man den „Micha“ messen könne, findet Armin Benicke.

Und die Stadt Großenhain? Im Rathaus weiß man selbst nicht mehr und sei für einen Bürgerentscheid in dieser Frage rechtlich auch gar nicht zuständig, wie es heißt. Der parteilose Oberbürgermeister Sven Mißbach ist es inzwischen leid, dass er immer wieder dieselben Fragen beantworten soll, auf die er keine Antworten hat. Anders als anfangs kolportiert, sei die Stadt Großenhain bislang in keiner Weise an den Verhandlungen beteiligt gewesen. „Ich äußere mich dazu jetzt nicht mehr“, sagt er, auf der Straße angesprochen, winkt ab, und wiederholt dann doch zumindest seinen einen großen Wunsch: „Der Großenhainer Flugplatz sollte künftig nicht mehr militärisch genutzt werden.“

Die Ursprünge des Großenhainer Flugplatzes gehen auf die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zurück. Damit gehört er zu den ältesten in Deutschland. Schon der Rote Baron, Manfred Freiherr von Richthofen, wurde hier ausgebildet. Auch für die Nazis spielte das Areal wegen der meist guten Wetterbedingungen in der Region eine wichtige Rolle als Frontflugplatz. Nach 1945 stationierten die sowjetischen Streitkräfte hier ihre 105. Jagdbomberfliegerdivision. In einem der beiden in den 70er-Jahren heimlich errichteten Bunkern des Typs Granit I soll zeitweise ein Bausatz für eine Atombombe gelagert worden sein, heißt es. Erst nach dem Abzug der russischen Truppen 1993 wurde das militärische Sperrgebiet aufgehoben. Seitdem wird der Flugplatz von Hobbypiloten genutzt, zum Beispiel von Armin Benicke, der nur wenige Minuten entfernt direkt in der Innenstadt wohnt.

Der Flugplatz besteht bis heute hauptsächlich aus Betonstraßen und Wiesen, dazwischen ein paar vereinzelte Bauten und Sträucher. Direkt hinter dem Eingangstor erinnern einige ausrangierte Militärhubschrauber und Jagdflieger an frühere Zeiten, darunter eine MIG 21, Baujahr 1966. Insgesamt umfasst das kaum zu überblickende Areal 150 Hektar. Es ist die größte zusammenhängende Fläche im Besitz des Freistaates Sachsen.

„Vom schlimmsten Szenario ausgehen“

„Natürlich ist das pures Gold“, sagt Benicke. „Ich bin absolut dafür, dass hier ein Gewerbegebiet entsteht. Nur bitte keine Munitionsfabrik.“ Benicke ist in Berlin aufgewachsen, was man bis heute hört. 1982 wurde er als NVA-Offizier nach Großenhain versetzt und war für die Zivilverteidigung und den Katastrophenschutz in der Region zuständig. Eine gewisse Verantwortung dazu empfindet er immer noch, wenn er an die geplante Pulverfabrik denkt. „Wir wissen nichts und deswegen sollten wir vom schlimmsten Szenario ausgehen.“

Zum Beispiel ein riesiger Explosionspilz, dessen Sog dann Häuser mit sich reißt. Auf Facebook postete er bereits ein Video von einer Sprengung auf einem Testgelände der Bundeswehr in Schweden. Vorstellbar ist für ihn vieles: technisches Versagen, menschliches Versagen, Sabotage. Um die Häuser in der Umgebung bei einer möglichen Explosion zumindest ein wenig zu schützen, müsste massenhaft Erde bewegt werden, um Wälle rund um die Fabrik zu errichten, glaubt Benicke.

Auch wenn kaum jemand in Großenhain so weit geht, vergleichbare Pläne für die Apokalypse zu ersinnen, so sind sich die meisten Bürger doch einig: Die Pläne für eine Pulverfabrik in ihrem Ort sollten schleunigst gestoppt werden. „So was brauchen wir hier nicht“, schimpft der 71-jährige Jürgen Linge, der im Rollstuhl durch die Innenstadt fährt. „Das sollen die sich im Westen hinbauen, diese Pfeifen!“ Andere formulieren ihre Kritik höflicher und sprechen von ihrer Furcht, zu einem möglichen Anschlagsziel für Russland bei einer weiteren Eskalation des Ukrainekrieges zu werden. „Der Putin weiß, wo der Platz liegt. Der war ja selbst hier.“

Viele sagen, dass sie schon unterschrieben hätten und meinen die Petition der Linken-Fraktion. Auf den Listen ist ein durchgestrichener Panzer zu sehen, dazu der Aufruf „Stoppt das Wettrüsten“. Über 250 Unterschriften sind bislang zusammengekommen. Selbst die sechs Stadträte der AfD haben unterschrieben. „Jetzt ist keine Zeit für Parteipolitik“, sagt eine von ihnen, Brigga Pöschl. „Wir müssen das gemeinsam stoppen.“ An der Scheibe ihres Bürgerbüros in Großenhain hängt ein Plakat, auf dem der AfD-Landtagsabgeordnete Mario Beger mit finsterer Miene und verschränkten Armen vor einem Haufen Patronenhülsen zu sehen ist. „Keine Rüstungsindustrie in Großenhain!“ Zu einem von der AfD organisierten Protest im Zentrum versammelten sich Ende Juni immerhin 200 Menschen.

Ja, lässt sich denn überhaupt jemand finden, der neben dem früheren Bundesverteidigungsminister Thomas de Maizière den Bau der Pulverfabrik begrüßen würde? Zwei sogar: ein Dönerverkäufer und der CDU-Landtagsabgeordnete Sebastian Fischer, wobei Letzterer zwar nicht in Großenhain lebt, aber immerhin im fünf Kilometer südlich gelegenen Priestewitz. Trotz des immensen Gegenwindes steht Fischer dazu, dass er Rheinmetall mit offenen Armen empfangen würde. Die nationale Sicherheit könne nicht mit Pfeil und Bogen verteidigt werden, sagte er jüngst. Genauso sieht das der Dönerverkäufer. „Wir können doch froh sein, wenn sich ein solcher Konzern für Großenhain interessiert“, sagt er, einigermaßen überrascht, dass seine Meinung jemanden interessiert.

Sebastian Fischer ist der Ansicht, dass Zustimmung und Ablehnung in Großenhain gar nicht so eindeutig verteilt seien, wie es gerade den Anschein mache. „In diesem aufgeladenen Klima trauen sich viele nicht, ihre Meinung zu sagen. Das kann man doch verstehen.“

Um wieder miteinander ins Reden zu kommen, plante der CDU-Mann für den Montag vergangener Woche eine Diskussionsrunde in einer Gaststätte, doch der Wirt wollte mit dem Thema nichts zu tun haben. Als Fischer daraufhin mit der Veranstaltung in die Großenhainer CDU-Geschäftsstelle umziehen wollte, wurde er von der Kreisvorsitzenden zurückgepfiffen. „Es ist einfach nicht möglich, in dieser Stadt eine freie Diskussion zum Thema Pulverfabrik zu führen“, sagte er und verlegte die Gesprächsrunde letztlich ins Internet. 15 Interessierte loggten sich am Montagabend ein, darunter auffällig viele CDU-Anhänger, unter anderem aus Leipzig und Riesa.

Außerdem natürlich dabei: Armin Benicke, bewaffnet mit allerlei Zahlen, Hypothesen und Alternativen, beispielsweise dem Bau der Fabrik in einem der Lausitzer Tagebaulöcher oder in der Dresdner Heide. Anderthalb Stunden lang wurde dann weitgehend aneinander vorbei diskutiert. Während die Großenhainer konkret über die Pulverfabrik reden wollten, beschäftigten sich die anderen lieber mit dem Potenzial der sächsischen Wirtschaft im Allgemeinen.

Milliardenauftrag von der Bundeswehr

Nur in einem sind sich alle einig: Schuld an der explosiven Stimmung in Großenhain ist in allererster Linie die anhaltende Geheimniskrämerei in der Sache, die dem Gerücht erst seine Sprengkraft verliehen habe. Vermutlich hätte die Öffentlichkeit zu diesem frühen Zeitpunkt nie davon erfahren sollen. Solange bis auf die Idee nun allerdings nichts über das Projekt bekannt ist, kann sich jeder Großenhainer seine Hoffnungen und Ängste selbst ausmalen. Warum nutzt Rheinmetall nicht die Chance, die Vorteile für die Region aufzuzeigen, um die Bürger ein Stück weit mitzunehmen, fragen sich viele.

Am vergangenen Donnerstag wurde immerhin bekannt, dass der Rüstungskonzern von der Bundeswehr einen neuen Milliardenauftrag für die Lieferung von Panzermunition erhalten hat. „Die Bestellung bringt das Bestreben der Streitkräfte zum Ausdruck, entstandene Lücken in den Beständen zu schließen und die Munitionsvorräte angesichts der sicherheitspolitischen Lage insgesamt zu erhöhen“, betonte der Konzern.

Vorerst wird in Großenhain dennoch weiter über „ungelegte Eier“ gesprochen, wie es Bürgermeister Mißbach ausdrückt. Am besten wäre es, das Thema auf Eis zu legen, bis es konkrete Informationen gibt, findet er. Zeit zum Diskutieren bliebe auch dann noch genug, denn die Erschließung des Geländes werde Jahre dauern. Egal, für welchen Konzern.

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