Eine leichte Brise weht über den Heckenhof in Sohland am Rotstein. Irgendwo mähen in der Ferne ein paar Schafe. Die Türen zum Anzuchtgewächshaus stehen sperrangelweit auf, die Äste des Pfirsichbaums brauchen eine Stütze. Rotbäckig leuchten die Früchte in der Morgensonne. Im Gewächshaus gleich dahinter erntet Florian Schneider schnell noch ein paar Melonen. In der Schubkarre liegen handball- wie fußballgroße Exemplare. Dann wechselt er ein Folienhaus weiter. 20 Meter lang stehen hier Tomaten ganz unterschiedlicher Sorten. Es duftet nach Basilikum.
Florian Schneider streift durch die Reihen. Er selbst lächelt über den Begriff Tomatenparadies. „Wir sind hier eine solidarische Landwirtschaft, und Tomaten sind einfach in der Gruppe beliebt“, sagt der Gärtner und nimmt eine Stiege mit den wunderbarsten, duftenden Exemplaren von hellgelb bis dunkelviolett in die Hände. 32 verschiedene samenfeste Sorten kultiviert er auf seiner Scholle, darunter solche Raritäten, die nur noch selten in Gärten oder Supermärkten zu finden sind.
Aus der Kiste greift der Sohlander eine birnenförmige Tomate. Liguria ist handtellergroß, wiegt fast so viel wie ein Stück Butter und leuchtet in einem wunderbaren Orangerot. Gleich neben dem Schwergewicht strahlt in gelborange die Goldmarie. „Das ist meine Lieblingstomate. Sie ist ertragreich und sie schmeckt sehr gut. Wir probieren jedes Jahr neue Sorten aus. Mit hohem Ertrag, platzfesten Früchten und gutem Wuchsverhalten bleiben sie im Sortiment“, sagt Florian Schneider. Vor sieben Jahren entdeckte der gebürtige Unterfranke die Oberlausitz als seine neue Heimat, auch um sich hier den Traum von einer Landwirtschaftsgemeinschaft zu erfüllen.
Der Gärtner geht durch die Tomatenreihen, schwer hängen die Früchte an den Pflanzen. Meist stehen vier Sorten in einer Reihe, ihre Wurzeln stecken in Grasschnitt. Florian Schneider hebt eine Handvoll Mulch nach oben, darunter zerstoben Hunderte Ameisen in alle Richtungen. „Wir verzichten auf Plastik. Stattdessen ist das hier das beste Futter für Regenwürmer, Langzeitdünger und gleichzeitig Feuchtigkeitsspeicher“, sagt er. Sein Gärtnerhandwerk hat der Familienvater in England gelernt. Über den Heckenhof schallt ein ungewöhnlicher Ruf eines Kuckucks.
Ein Windzug fährt durch das Gewächshaus, vorbei an der gestreiften Tigerella, der frühreifen Martina, der aromatischen Black Sherry, der Berner Rose, der Yellow Submarine und der langen, deutschen Bauerntomate. „Für die Tomaten ist es wichtig, dass sie frische Luft bekommen, das hilft gegen die Braun- und Krautfäule. Dagegen ist ein Kraut gewachsen“, sagt Florian Schneider. Mit Schachtelhalmtee bekämpft er die Blattflecken-Krankheit, die durch den Pilz verursacht wird. Auf die Blätter gespritzt macht er die Pflanze stärker, sodass Pilze gar nicht erst eindringen können. In den frühen Morgenstunden bekommen seine Schützlinge diese Tinktur zur Prävention.
Bohnenkraut dagegen hilft, um Schadinsekten fernzuhalten. Fernbleiben will aber der Wahl-Oberlausitzer nun nicht länger dem Frühstückstisch. Mit der Kuckucksmelodie ruft sein Frau Odilia, alle nennen sie Odi, alle vom Feld in die urige Küche im geduckten Haus. Auf dem Tisch steht schon dampfender Kaffee, frisches Brot liegt bereit. Zu Gast sind an diesem Morgen zwei Helfer aus Brasilien, die gerade auf ihrer Weltreise Station im östlichsten Sachsen machen, und ein Mitglied der solidarischen Landwirtschaft. Neben den Kosten am landwirtschaftlichen Betrieb beteiligen sich die meisten von ihnen auch bei der Arbeit auf dem „Heckenhof“.
Florian Schneider nimmt einen Kaffee. Draußen im Hof spielt die jüngste Tochter des Hauses mit dem Nachbarkind. Ein Hahn kräht. Vor sieben Jahren haben die beiden Raumpioniere dieses Fleckchen Erde für sich entdeckt. „Wir waren auf der Suche nach einem Stück Land, das wir unser Eigen nennen können“, sagt der Landwirt. Ihr Abenteuer allerdings beginnt in England. Auf die Insel geht der heute 40-Jährige nach der Schule als Zivildienstleistender. In London baut er eine Anne-Frank-Ausstellung mit auf. Der Zufall bringt den Deutschen dann zu einer Gemeinschaft, die mit behinderten Menschen arbeitet. Dort gibt es auch Felder, Obst- und Gemüseanbau. Das Interesse ist geweckt. Bereits in seiner alten Heimat in Karlstadt am Main hat er seinem Großvater bei der Arbeit als Hobbywinzer immer fasziniert zugeschaut. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland entschließt er sich für das Studium des Ökolandbaus und hängt noch eine Bio-Gärtner-Ausbildung in Südwestengland heran. Seine weiteren Stationen sind dann ganz unterschiedliche Gärtner im Land der Queen, darunter auch ein Betrieb von Prinz Charles. „Persönlich kennengelernt, habe ich ihn aber nicht“, sagt Florian Schneider.
Dafür läuft ihm bei einem solidarischen Landwirtschaftsprojekt in der Kleinstadt Stroud in der englischen Grafschaft Gloucestershire seine jetzige Frau über den Weg. Sie lädt den Gärtner ein, der Gemeinschaft etwas über Kompostierung zu erzählen. Der Vortragende hinterlässt bei der Einladenden nicht nur Eindruck mit seinem Thema, bald gehen sie gemeinsame Wege und beginnen ihren Traum vom eigenen Bauernhof. Doch die Preise um Stroud sind viel zu teuer, stattdessen brechen sie im Sommer 2011 ihre Zelte in England ab, verkaufen alles und behalten nur einen Landrover samt Wohnwagen. Ihr erster Sehnsuchtsort ist Nordspanien, doch dort schlagen sie nur für den Sommer Wurzeln. Stattdessen geht es zurück nach Deutschland – und nach Görlitz.
Die Stadt an der Neiße kennen die Rückkehrer von Besuchen. Florian Schneiders Bruder studiert dort seinerzeit „Soziale Arbeit“. Bei ihren Abstechern zu ihm haben sie nette Leute und eine tolle Landschaft kennengelernt. „Die Möglichkeit, etwas ganz Neues anzufangen, hat uns gezogen. Gerade beim Thema Ökolandbau konnten wir hier Pionierarbeit machen“, sagt der Wahl-Oberlausitzer. Nach einem guten Vierteljahr Suche findet Odi Schneider im Winter 2012 ihren heutigen Hof. „Ich wusste nach zehn Minuten, dass wir hier richtig sind: alte Bäume, entlang des Grundstücks fließt der Schwarze Schöps, mitten im Dorf und trotzdem mitten in der Natur“, sagt die 40-Jährige.
Ihr erstes Gewächshaus für den Heckenhof bekommen die beiden Neu-Sohlander von einem befreundeten Landwirt. Bereits im Frühjahr 2012 wachsen die ersten Tomaten unter der Folie. Tagelang steht Odilia Schneider am Herd und kocht den „Geruch des Sommers“ als Tomatensoße für den Winter ein. Ein Jahr später bekommen sie auch das benachbarte Feld dazu, das bis zu diesem Zeitpunkt die Agrargenossenschaft nutzen durfte. Danach darf sich die Erde erst mal erholen, eine Streuobstwiese wird angelegt und eine Hecke ums Grundstück gepflanzt.
Inzwischen wachsen 30 verschiedene Gemüsekulturen am Fuße des 455 Meter hohen Rotsteins, allen voran die Liebes- oder Goldäpfel. Ihren heute gebräuchlichen Namen erhielt die Tomate erst im 19. Jahrhundert, auf die ursprüngliche Bezeichnung geht ihr italienischer Name „pomodoro“, den pomo d’amore oder eben Apfel der Liebe, zurück. Im Schnitt verzehrt jeder Deutsche knapp 28 Kilo des saftigen Multitalents in Soßen, Salaten und auf der Pizza. Zum ersten Mal kultiviert wird das Lieblingsgemüse übrigens wohl bei den Maya zwischen 200 bis 700 vor Christus. Die Samen wurden bei Ausgrabungen südlich von Mexiko-Stadt gefunden.
Einige Samen für die Tomatenpflanzen auf dem Heckenhof gehörten schon zu den vergessenen Sorten. „Ich habe eine Kooperation mit dem Verein zur Erhaltung der Nutzpflanzenvielfalt. Sie stellen mir das Saatgut zur Verfügung, ich mache die Anzucht für Pflanzentauschbörsen“, sagt der Gärtner und geht wieder an seine Arbeit. Vorher schaut er aber noch in sein Erntetagebuch. Am 10. Juli konnte er die ersten Tomaten an seine rund 50 Ernteanteiler vergeben, darunter sind Familie genauso wie Studenten und Senioren. Die solidarische Landwirtschaft baut auf die Zusammenarbeit und gegenseitige Unterstützung zwischen Landwirten und Mitgliedern im Einklang mit der Natur auf.
Unterstützung heißt sowohl finanziell als auch mit Arbeitseinsätzen. Deshalb rodet Marko Schmidt jetzt schon mal die Kartoffeln, während Florian Schneider nochmals bei seinen Tomaten-Lieblingen vorbeischaut. Mit Schere schneidet er die unteren Blätter weg, damit sich nicht die Luft staut. Weiter oben geizt er noch die überflüssigen Tomatentriebe aus, schließlich sollen die Pflanzen noch einen knappen Monat Früchte tragen. „Danach machen wir das Gewächshaus für den Winter bereit – mit Spinat, Feld- und Asiasalaten oder Winterportulak“, sagt er und kneift noch einen Trieb beim Blondköpfchen weg, einer sehr schmackhaften Minitomate. Ein leichter Windzug geht dabei durchs Zelt – und irgendwo in der Ferne mähen träge ein paar Schafe.
Von Miriam Schönbach
Foto: © Miriam Schönbach