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In der Hauptstadt des Wahnsinns: Wie sich Cottbus zur Boomtown mausert

Die Lausitz nennt sich selbst „krasse Gegend“. Der Strukturwandel stellt die Region auf den Kopf. Was läuft dort anders - besser? Ein Besuch in Cottbus, Brandenburgs zweitgrößter Stadt.

Lesedauer: 6 Minuten

Oberbürgermeister Tobias Schick am Ostsee.
Zwischen Vergangenheit und Zukunft: Cottbus’ Oberbürgermeister Tobias Schick am fast vollen Ostsee. Am Horizont dampfen Kühltürme des Kraftwerks Jänschwalde (l.) drehen sich Räder eines Windparks (r.). © dpa

Von Michael Rothe

„Was wir machen, ist verrückt. Total verrückt. Eine ganze Region auf den Kopf stellen. In nicht einmal 20 Jahren. Das hat bisher niemand gewagt.“ Das Image-Video der Lausitz-Vermarkter mit dem Untertitel „Chancen, Wandel und Zukunft“ hat über 123.000 Aufrufe. Ganz gut für eine Botschaft von Staats wegen. Und mittendrin in dieser selbst ernannten „krassen Gegend“ die Hauptstadt des Wahnsinns: Cottbus.

Der Werbeclip verspricht „eine Operation am offenen Herzen“. Fragezeichen. „Ja, das bedeutet Angst, Unsicherheit, Tränen.“ Man habe angefangen, Wunden heilen zu lassen und Tränen zu trocknen. Gestern noch Tagebau, heute Seenlandschaft. Wer hätte das vor zehn Jahren geglaubt? „Wir“, heißt es selbstbewusst. Weil die Lausitz Wandel kennt und kann. Ausrufezeichen.

Das Kohle-Erbe im Tagebau Cottbus-Nord glich einer Mondlandschaft. Heute ist es bis zu 40 m vom Ostsee bedeckt.
© dpa

Eine Fahrt durch Brandenburgs zweitgrößte Stadt liefert die Belege: ein gutes Dutzend Zukunftsprojekte für branchenübergreifende Elektromobilität, grünen Wasserstoff, eine aufgehübschte Stadtpromenade, lebenswerte Wohnquartiere, Welterbe, Spitzenforschung im Lausitz Science Park. Alles da – bis auf die Leute, die nach der Wende in Scharen davonrannten und so Cottbus’ Einwohnerzahl knapp unter die für eine Großstadt essenzielle 100.000er-Marke gedrückt haben.

Milliardenprojekt Uni-Klinik

Das soll sich wieder ändern. Auch durch das jüngst eröffnete Bahn-Instandhaltungswerk für ICE-Züge mit 1.200 Jobs und eine neu anzusiedelnde Universitätsmedizin. „Eine Uniklinik zieht Ärzte und Start-ups an“, weiß Sebastian Scholl, Geschäftsführer des Carl-Thiem-Klinikums. Die Verbindung von Krankenversorgung, Forschung und Lehre führe zum „Aufstieg in die medizinische Champions League“, so der Chef des mit 1.200 Betten größten Krankenhauses von Brandenburg und mit 3.200 Beschäftigten Top-Arbeitgebers der Stadt.

Im Sommer soll der Landtag das Gesetz über das 3,7-Milliarden-Investment – gut hälftig vom Bund finanziert – für die „Medizinische Universität Lausitz – Carl Thiem“ beschließen, damit nach umfangreichen Bauarbeiten 2026 die ersten von künftig 1.200 Studierenden ihre Ausbildung beginnen können. „Wie kriegen die Menschen mit, dass Strukturwandel funktioniert und Positives mit ihrem Leben macht?“, fragt Oberbürgermeister Tobias Schick (SPD) rhetorisch. Wegen der demografischen Entwicklung müssten mehr Menschen öfter mal zum Arzt. Und mit dem Schritt werde sich die Versorgung deutlich verbessern, so der Aufsichtsratschef der städtischen Klinik, die im Juli unter die Fittiche des Landes kommt.

Das Carl-Thiem-Klinikum ist ab 1. Juli der Nukleus der neu gegründeten „Medizinischen Universität Lausitz – Carl Thiem“.
© www.imago-images.de

Cottbus werde nicht Heidelberg oder Tübingen hinterherhecheln, sondern sich auf Digitalisierung im Gesundheitswesen und Systemforschung etwa in Pandemien konzentrieren, sagt Klinikchef Scholl, der seine Wurzeln in Mecklenburg-Vorpommern hat. Als er 2016 – noch vor der Diskussion um den Kohleausstieg – mit seiner Frau nach Cottbus gekommen sei, habe er das Theater und die funktionierende Infrastruktur jener Sportstadt erlebt. Sie sei lebenswert und habe mit dem Strukturwandel „die einmalige Chance, sich unter Städten wie Dresden, Leipzig und Jena einzureihen“, die ihn nach der Wende schon vollzogen hätten, so Scholl,

„Cleverer Move der Politik“

Er spricht von einem „cleveren strategischen Move der Politik“. Das Land Brandenburg gebe die Kohle aus dem Bundestopf zur Strukturstärkung nicht in vielen kleinteiligen Projekten aus, sondern habe hinterfragt, was nachhaltig sei und Arbeitsplätze schaffe. Scholl erwartet im Umfeld der Uniklinik etwa 4.000 zusätzliche Jobs. In Sachsen hatten Wirtschaft und Gewerkschaften die Kleinteiligkeit von dort gut 120 Vorhaben kritisiert und oft deren Nutzen und Wertschöpfung infrage gestellt.

Doreen Mohaupt begleitet die Metamorphose der Stadt von Anfang an. Noch ehe Zuständigkeiten geklärt und Geld da gewesen sei, habe man parallel in Arbeitsgruppen gearbeitet, Flächen für Standorte gesucht und Studien erstellt, um Zeit zu sparen“, sagt die Dezernentin für Stadtentwicklung, Mobilität und Umwelt. „Manchmal muss man auch einfach Fakten schaffen“, so Mohaupt mit Blick auf Tempo-30-Zonen und weniger Autospuren in der City.

Tobias Schick, Oberbürgermeister von Cottbus, und Klaus Freytag, Lausitzbeauftragter des Ministerpräsidenten von Brandenburg (v.l.), sind sich einig: Die gut 17 Milliarden Euro vom Bund für den Strukturwandel in der Lausitz sind gut angelegtes Geld.
© dpa

In Cottbus angesiedelte Bundesbehörden haben bereits rund 600 Beschäftigte – etwa beim Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung. Im Rücken der Technischen Universität tue man sich mit der Nachwuchsgewinnung deutlich leichter als am Hauptsitz Bonn, sagt Klaus Freytag, Lausitz-Beauftragter des Ministerpräsidenten. Für ihn ein Beleg für die These von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD), dass es nicht mehr um „Nachbau West“ gehe, sondern um „Vorsprung Ost“.

17,1 Milliarden für die Lausitz

Für den Wandel in der Lausitz stünden 17,1 Milliarden Euro vom Bund bereit: 10,3 Milliarden für Brandenburg, 6,9 Milliarden für Sachsen, sagt Freytag. „Den Kohlekumpel interessieren Landesgrenzen nicht, er will Arbeit haben“, und ihm sei egal, ob in Hoyerswerda oder Cottbus investiert werde.

Die IHK Görlitz und das Dresdner Ifo-Institut waren unlängst zu dem Schluss gekommen, nicht fehlende Stellen würden die Entwicklung der Lausitz hemmen, sondern fehlendes Personal. Ein Politikum, denn vor wenigen Jahren hatte es noch geheißen, Tausende Braunkohlekumpel könnten nach dem spätestens für 2038 avisierten Kohleausstieg ohne Job dastehen. Die dramatischen Prognosen waren auch Grundlage für die Milliarden vom Bund.

Schloss Branitz im Fürst-Pückler-Park erstrahlt in altem Glanz. Zuletzt wurden Vestibül und Treppenhaus saniert übergeben.
© dpa/Patrick Pleul

„Wenn die große Klappe zu mehr Fördergeld geführt hat, haben wir politisch einiges richtig gemacht und waren mal lauter als eine Truppe aus Bayern“, verteidigt Brandenburgs Lausitz-Beauftragter die übertriebene Panikmache. Eine gewisse Dramaturgie gehöre zum politischen Spiel, so Freytag. Sachsen und Brandenburg würden sich gut abstimmen, auch bei den Förderrichtlinien. Es gebe kein Windhundrennen. Auch die Märker freuten sich, wenn sich beim Nachbarn das Seenland entwickle oder es in Kamenz Innovationen gebe.

Es tut sich was in der Boomtown: ob in Sportstätten wie dem Paralympischen Zentrum, wo eine Trampolinhalle entsteht, oder im 70 Jahre alten Zoo mit neuem Elefantenhaus. Der Tierpark gehört zur grünen Oase der Stadt mit dem Gelände der Bundesgartenschau von 1995 und dem Pückler-Park. Gerade wurden dort im Schloss Treppenhaus, Vestibül und Waffengang nach fast 40-jähriger Restaurierung wiedereröffnet. Branitz sei „in der Beletage der Gestaltung von Gärten angekommen“, schwärmt Oberbürgermeister Schick. Das Areal sei ein „Leuchtturm für den Strukturwandel“.

Die Transformation lässt sich vom 173 Treppenstufen hohen Aussichtsturm am Ostsee am besten überblicken. Zwischen „Meer“ und City entsteht mit der Seevorstadt ein neuer Stadtteil. Am Horizont gegenüber drehen sich Windräder, dampfen Kühltürme des Kraftwerks Jänschwalde, das 2028 stillgelegt werden soll. Dafür entsteht ein innovatives Speicherkraftwerk zur Erzeugung, Umwandlung, Speicherung von erneuerbarer Energie.

Dank des feuchten Winters ist der Cottbusser Ostsee fast vollgelaufen, noch gut ein Meter fehlt am Zielwasserstand. Deutschlands größtes künstliches Gewässer ist 19 Quadratkilometer groß. Bis Strände und der geplante Jachthafen nutzbar sind, dauert es noch.
© dpa

2019 begann der Bergbau- und Kraftwerksbetreiber Leag den Ex-Tagebau mit Spree- und Grundwasser zu fluten. In einem Jahr könnte das mit 19 Quadratkilometern größte künstliche Gewässer Deutschlands voll sein. Aber bis Sandstrände und Jachthafen nutzbar sind, wird es noch Jahre dauern. Uferabbrüche bedürfen der Sanierung.

Revolution in Sachen Beton

Viele Westdeutsche kennen Cottbus nur über seinen FC Energie oder durch den Zungenbrecher vom Postkutscher, der den Postkutschkasten putzt. Dabei hat es den nie gegeben. Ein 150 Jahre alter Werbegag auf Postkarten, mehr nicht, wie das Büchlein „Cottbus für Angeber“ einräumt.

Doch es gibt echte Cottbuser Helden: die Gründer von Sonocrete etwa. Das 21-köpfige Start-up kann zu Recht angeben, denn seine Erfindung revolutioniert die Herstellung von Beton: Mittels Hochleistungsultraschall härtet der Baustoff schneller aus, wird weniger umweltschädlicher Zement benötigt. Für die Innovation gab es 2023 den Brandenburger Innovationspreis.

Finanzchefin Nora Baum und ihr Team vom Start-up Sonocrete machen die Betonherstellung mittels Ultraschall klimafreundlicher.
© dpa

Die Lausitz und ihre Hauptstadt steckt voller Energie – bald auch ohne Kohle. Doch was macht Cottbus anders als andere? „Wir haben auch mal Glück in der Lausitz“, antwortet der Oberbürgermeister. Aber es sei hart erkämpft, der Region habe niemand etwas geschenkt, sagt Tobias Schick und: „Aufgrund von Kohleausstieg und Strukturwandel haben wir jetzt endlich auch Möglichkeiten, mitzugestalten“.

„Ein Platz für Träume. Heimat für Dich und Deine Familie“, wirbt der Youtube-Clip und fragt am Ende: „Das alles in der Lausitz?“ Ja, in der Lausitz. Eine krasse Gegend.

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