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Jeder zwölfte Sachse ist pleite

Lesedauer: 4 Minuten

Ausgerechnet in der Krise ist die Zahl der Überschuldeten im Freistaat so niedrig wie seit 2011 nicht mehr. Doch der schöne Schein trügt, warnt Creditreform.

Von Michael Rothe

Über Langeweile mussten sich Rotraud Kießling und die rund 90 Mitarbeitenden von sozialen Schuldnerberatungsstellen in Sachsen noch nie beschweren. Doch seitdem die Inflation galoppiert und die Energiepreise explodieren, können sie sich vor Anfragen Notleidender kaum retten. „Wegen Personalmangels müssen wir Hilfesuchende bis zu neun Monate vertrösten“, sagt die Referentin beim Diakonischen Werk der Evangelisch-lutherischen Landeskirche. Die Lage sei dramatisch, „wir werden regelrecht überrannt“.

Dabei vermittelt der jüngste Schuldneratlas der Wirtschaftsauskunftei Creditreform ein anderes Bild: Demnach sind in Sachsen 290.000 Menschen überschuldet, rechnerisch jeder zwölfte Erwachsene. Die Quote von 8,5 Prozent liegt im Bundesmittel und ist so niedrig wie seit elf Jahren nicht.

Doch der schöne Schein trügt, warnen die Experten. Der Rückgang sei auf die Corona-Pandemie zurückzuführen, so die Erklärung. Staatshilfen, eingeschränkte Konsummöglichkeiten und Zurückhaltung beim Geldausgeben hätten die Quote sinken lassen. Die Erhebung beruht auf amtlichen Schuldnerverzeichnissen, Inkasso-Fällen von Creditreform und nachhaltigen Vorgängen mit mindestens zwei Mahnungen von mehreren Gläubigern.

Bild zeigt Karte mit Privatverschuldung
© SZ Grafik

Überschuldet ist, wer seinen Zahlungsverpflichtungen nicht mehr nachkommen kann und für seinen Lebensunterhalt weder Vermögen noch Kredite parat hat. Oder kurz: Wenn die Gesamtausgaben auf Dauer höher sind als die Einnahmen. Im Freistaat gibt es große regionale Unterschiede. Im Erzgebirgskreis und im Landkreis Bautzen ist nur knapp jeder 15. überschuldet, in den Städten Leipzig und Chemnitz jede/r Neunte. Dresden rangiert dazwischen.

Im Gegensatz zur Überschuldung ist Verschuldung normal, ja notwendig, damit Privathaushalte gesellschaftlich teilhaben und Unternehmen investieren können – vorausgesetzt, sie zahlen ihre Schulden vertragsgemäß zurück.

Ein Job schützt nicht vor Überschuldung

Die Ursachen für die Zahlungsunfähigkeit sind vielfältig: Jobverlust, langfristiges Niedrigeinkommen, Krankheit, Sucht, gescheiterte Selbstständigkeit, Scheidung, Trennung, Tod des Partners – aber auch unwirtschaftliche Haushaltsführung und fehlende Finanzkompetenz. Laut Umfragen weiß jede/r Vierte nicht, was eine Schufa-Auskunft ist. Das zu ändern, ist auch eine Aufgabe der etwa 70 sozialen Schuldner- und Insolvenzberatungen in Sachsen, die von der Freien Wohlfahrtspflege betrieben werden. Zu jener Liga gehören die Arbeiterwohlfahrt, der Caritasverband für das Bistum Dresden-Meißen, die Diakonie, das Deutsche Rote Kreuz, der Paritätische Wohlfahrtsverband und der Landesverband der jüdischen Gemeinden.

Laut dem Lebenslagenbericht der Diakonie Sachsen für 2022 schützt Arbeit nicht vor Überschuldung: Erstmals in der 30-jährigen Geschichte der Schuldnerberatung in Sachsen führen Menschen in Arbeit die Statistik der Ratsuchenden an. „Das ist ein erschreckendes Ergebnis, sollen doch gerade Arbeit und Beschäftigung ein auskömmliches und armutsfestes Einkommen sichern“, sagt Diakonie-Referentin Kießling.

Auch Sozialleistungen wie Hartz IV¨– ab Januar Bürgergeld –, das 5,4 Millionen Deutsche beziehen, bewahren nicht vor Überschuldung. „Dort für Energie und Mobilität veranschlagte Kosten entsprechen nicht dem tatsächlichen Bedarf“, kritisiert Kießling. Die Mietkostenübernahme folge theoretischen Angemessenheitsgrenzen, die unter den realen Mieten lägen. Das führe zwangsläufig zur Überschuldung, denn der bereits zu knapp bemessene Regelsatz werde zuerst für Lebensmittel, Bekleidung und Haushaltsartikel benötigt.

Abbau der Beratung statt notwendiger Verdopplung

„Zu welcher Verzweiflung das führt, zeigt sich täglich in den Schuldnerberatungen“, so die Sprecherin. Schon allein wegen der zunehmenden Digitalisierung, die Energiebezug und Geräte voraussetze, seien Zugänge und Teilhabe nur eingeschränkt oder nicht möglich. Die Zahl der Beratungsfälle hat sich laut Lebenslagenbericht 2021 auf 3.171 verringert – auch weil das Angebot wegen unzureichender kommunaler Finanzierung zurückfahren werden musste, komplexere Fälle mehr Aufwand bedeuteten und weil Ämter in der Pandemie geschlossen waren.

Rotraud Kießling warnt davor, Menschen mit Schulden allein zu lassen. „Doch die dringend notwendige Verdopplung der Kapazität an Schuldnerberatung im Freistaat sei nicht nur ausgeblieben, sie verringere sich vielmehr stetig“, kritisiert sie. Das Recht auf Schuldnerberatung für alle müsse in einem Gesetz verankert werden, so ihre Forderung.

„Die kommenden Monate werden eine Herausforderung sowohl für private Haushalte als auch für die sächsischen Unternehmen“, prognostiziert Thomas Schulz, Prokurist bei Creditreform Dresden. „Durch die hohen Energiekosten sind insbesondere Alleinerziehende und Haushalte mit geringen Einkommen gefährdet“, so der Vertriebschef. Andererseits würden jene, die in den letzten Jahren in nachhaltige Energieversorgung investiert haben, „als Gewinner in dieser Phase herausgehen“. Die Krise werde in der Gesellschaft zu dauerhaften Einkommenseinbußen und Wohlstandsverlust führen, sagt Schulz.

Große Angst vor dem, was im Winter kommt

Nach Berechnungen der Creditreform-Tochter Microm laufen rund 7,8 Millionen Haushalte in Deutschland – das ist fast jede fünfte Adresse – Gefahr, die Rechnungen für Gas, Wärme, Strom und Wasser nicht sofort bezahlen zu können. Das Institut der deutschen Wirtschaft sieht gar mehr als 25 Prozent der Deutschen betroffen, weil sie über zehn Prozent ihres Nettoeinkommens für Energie ausgeben müssen. Vor zwei Jahren seien es noch gut die Hälfte gewesen. Und laut dem Statistischen Bundesamt konnten 2,6 Millionen Menschen schon vor dem Preisschock ihre Wohnung aus Geldnot nicht angemessen heizen.

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„Die Menschen haben große Angst vor dem, was in diesem Winter auf sie zukommt“, berichtet Rotraud Kießling von der Schuldnerberatung der Diakonie. „Selbst Leute in bestem Alter und mit einer festen Arbeit klopfen bei uns an – auch immer mehr Kleinunternehmer und Soloselbstständige „, so Kießling. Ihre Kolleginnen müssten den Betroffenen oft sagen, dass sie alles richtig gemacht hätten. „Wenn alle Ressourcen und Spielräume im Haushaltsplan ausgeschöpft sind, stößt auch Schuldnerberatung an ihre Grenzen.“

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