Wer will schon Fleischer werden – bei 310 Euro Azubilohn im 1. Jahr in Ostdeutschland? In tarifgebundenen Betrieben von Sachsens Metall- und Elektroindustrie verdienen Lehrlinge schon zu Beginn gut das Dreifache. Das Gefälle bei der Lehrlingsknete ist riesig: zwischen Ost und West, zwischen Branchen, und oft stehen Handwerksbetriebe am Ende der Skala.
Dass die Vergütungen knapp 30 Jahre nach dem Mauerfall immer noch auseinanderklaffen, sei „vor allem der noch immer erheblichen Produktivitätslücke zwischen der kleinteilig strukturierten Wirtschaft im Osten und der deutlich ausgewogeneren und stabilen im Westen geschuldet“, sagt Roland Ermer, Präsident des Sächsischen Handwerkstags.
Nach dem Vorbild des gesetzlichen Mindestlohns will die Bundesregierung dennoch ab 2020 eine Mindestvergütung für die gut 1,3 Millionen Azubis einführen. Sie soll bis zum 1. August 2019 beschlossen werden. So steht’s im Koalitionsvertrag, und vor anderthalb Wochen nannte Bildungsministerin Anja Karliczek (CDU) erste Zahlen. Sie will die Untergrenze an das Schüler-Bafög koppeln und bei 504 Euro starten. Im zweiten Lehrjahr sollen fünf, im dritten zehn und im vierten 15 Prozent hinzukommen. „Viel zu wenig“, ruft der Deutsche Gewerkschaftsbund auch angesichts hoher Mieten und Fahrtkosten. Sein Vorschlag orientiert sich am 80-prozentigen Mittel tariflicher Ausbildungsvergütungen: je Lehrjahr 635, 696, 768, 796 Euro.
Sachsens Handwerkstag, Dachorganisation und Interessenvertretung von 56 000 Betrieben mit über 300 000 Beschäftigten, sieht seine Kleinst- und Kleinunternehmer selbst bei Karliczeks Zahlen überfordert. Sie hatten bis Ende Oktober 5 455 neue Lehrverträge, 68 mehr als zur gleichen Zeit im Vorjahr unter Dach und Fach. „Wir befürchten, dass durch eine wachsende Zahl nicht mehr ausbildungsfähiger Betriebe eine neue Abwanderungswelle junger Leute von Ost nach West ausgelöst wird“, sagt Ermer. Der Bäckermeister in Bernsdorf bei Hoyerwerda warnt vor einer Ost-West-Konfrontation auf dem Ausbildungsmarkt. Sachsens Oberhandwerker sieht sich durch die Ergebnisse einer Studie des Bundesinstitut für Berufsbildung bestätigt.
Die Forscher hatten in Simulationsrechnungen die Folgen einer Mindestausbildungsvergütung (MAV) untersucht. „Es zeigt sich, dass insbesondere Betriebe im Handwerk, kleine Betriebe und Betriebe in Ostdeutschland zu höheren Anteilen von einer MAV betroffen wären und dementsprechend auch eine stärkere Kostensteigerung zu erwarten hätten“, heißt es. Von einem Mindestentgelt von 500 Euro im ersten Lehrjahr wären demnach 32 Prozent der ostdeutschen Betriebe betroffen, bei 650 Euro sogar mehr als die Hälfte. Andreas Brzezinski, Hauptgeschäftsführer der Dresdner Handwerkskammer, schätzt, dass 45 Prozent der derzeit eingetragenen Lehrverhältnisse in Ostsachsen unter dem angedachten Limit liegen. Nach Berechnungen des Internetportals Handwerk.com, einer Nachrichtenseite für Handwerker, müssten etwa ostdeutsche Fleischer bei Umsetzung der DGB-Forderung über die gesamte Ausbildungszeit 11 388 Euro mehr zahlen. In anderen Berufsgruppen fallen die Mehrkosten viel geringer aus. Und am Bau sind sie gleich Null, weil die Entgelte bereits viel höher sind.
Ermer fordert, die „Tarifautonomie uneingeschränkt zu respektieren“. Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften wüssten „am besten, was in einer bestimmten Branche und Region wirtschafts- und sozialpolitisch wirklich vertretbar ist“. Der Präsident räumt aber ein, dass die Regierenden in Berlin offenbar entschlossen sind, ihr Vorhaben durchzuziehen. Dann erwarte die Dachorganisation der Kammern und Verbände aber anderweitige Entlastung ausbildender Kleinst- und Kleinunternehmen. Ermer denkt an eine steuerrechtliche Begünstigung von Ausbildungsbetrieben gegenüber Nichtausbildern und die Einführung eines geförderten Azubi-Tickets für den öffentlichen Nah- und Fernverkehr, um so die Mobilität von Lehrlingen bundeslandübergreifend zu stärken.
Für Sachsens DGB-Chef Markus Schlimbach „passen die Klagen des Handwerks einfach nicht zusammen“. Wer Fachkräfte wolle, müsse sie auch ordentlich bezahlen, sagt er und: „Gerade die Handwerksverbände weigern sich seit Jahren, ordentliche tarifliche Ausbildungsvergütungen abzuschließen, sodass Ausbildungsvergütungen in Sachsen immer hinterherhinken. Die Ausbildung im Handwerk müsse attraktiver werden, um auch im Wettbewerb mit anderen Ausbildern – etwa in der Industrie und im öffentlichen Dienst – zu bestehen, sagt der Gewerkschafter. „Wenn Sachsens Handwerker etwas für ihre Branche tun wollen, dann sollten sie jetzt tarifliche Regelungen mit den Gewerkschaften verhandeln und nicht darüber jammern, wenn der Gesetzgeber eine Mindestausbildungsvergütung vorschreibt.“
Tatsächlich sind Tarifverträge in Sachsen im Ländervergleich am wenigsten verbreitet. Dort vereinbart kaum jeder fünfte Betrieb mit Gewerkschaften Löhne, Arbeitsbedingungen und Lehrlingsentgelte. Wie bei Tariflöhnen ist der Anspruch auf tariflichen Azubilohn an Mitgliedschaft in einer Tarifpartei gebunden, vor allem an die der Firma in einem Verband. Die meisten Arbeitgeber behandeln ihre Mitarbeiter gleich – des Betriebsfriedens wegen.
Von Michael Rothe
Foto: © dpa PA/Waltraud Grubitzsch