Von Nora Miethke
Der Boden schwankt leicht unter jedem Schritt. Doch davon wird der MDR-Zuschauer nichts mitbekommen, wenn er im Fernsehen Michael Kretschmers Fazit zu seiner ersten Reise nach Singapur hört. Sachsens Ministerpräsident steht während der kurzen Einschätzung auf der Besucherbrücke, gespannt zwischen zwei Supertrees, pflanzenbehangenen Stahlgerüsten, die an Mammutbäume erinnern und 50 Meter in die Luft ragen. Von hier aus hat man den besten Ausblick auf die futuristische Parklandschaft „Gardens by the Bay“, das Luxushotel Marina Sands Bay, das wie ein dreibeiniges Raumschiff im Wasser steht und die Wolkenkratzer, die das Stadtpanorama Singapurs prägen.
„All das gab es hier nicht, als ich hier lebte. Das war ein sandiger Küstenstreifen“, erinnert sich Raik Brettschneider. Der Geschäftsführer von Infineon Dresden hat 2001/2002 für ein Jahr in der südostasiatischen Metropole gearbeitet. Sie ist berühmt für ihren atemberaubenden Wandel, der sich aber nicht nur in immer neuen Luxushotels und riesigen Shoppingmalls erschöpft. Brettschneider zeigt auf der anderen Seite der Brücke auf eine Gruppe unscheinbarer Hochhäuser. „Alles Sozialwohnungen. Obdachlosigkeit gibt es hier nicht“, sagt er hörbar beeindruckt.
„Gardens by the Bay“ ist Teil einer Strategie, durch neue Erholungsgebiete und Grünzüge die Lebensqualität der Einwohner zu verbessern. Premierminister Lee Hsien Loong hatte diese Politik am Nationalfeiertag 2005 verkündet, im Jahr darauf folgte die internationale Ausschreibung für die Masterpläne und 2012 wurde der Ökopark eröffnet. Sind es diese Masterpläne und Strategien, die konsequent umgesetzt werden, die den wirtschaftlichen Erfolg des Vielvölkerstaats ausmachen oder eher die chinesisch geprägte Arbeitsdisziplin?
In Singapur liegt die Arbeitszeit bei 225 Stunden im Monat, in Deutschland sind es im Vergleich nur etwa 1 70. Michael Kretschmer will in zwei mit Gesprächsterminen und Firmenbesuchen vollgestopften Tagen die Gründe für den einzigartigen Aufstieg vom winzigen Drittweltland zu einer Industrienation herausfinden. Der Lebensstandard liegt um 40 Prozent höher als in Europa. Vor allem soll aber der gute Kontakt zu einem Land nicht abreißen, das als Tor nach Asien von vielen Regierungen weltweit umworben wird.
Geknüpft hatte den Kontakt sein Amtsvorgänger Stanislaw Tillich. Und die Fußstapfen, in die Kretschmer treten muss, sind groß. Tillich wurde bei seinem Besuch 2016 vom Premierminister zu einem Abendessen eingeladen, eine Ehre, die sonst nur der Bundeskanzlerin gebührt. Dem Nachfolger gewährt Lee Hsien Loong, ältester Sohn des Staatsgründers Lee Kuan Yew, ein 30 minütiges Gespräch – auch ein Zeichen hoher Wertschätzung, wie die Organisatoren der Reise versichern. Und er nimmt sich fast drei Stunden Zeit, um am Freitagabend mit seiner Frau Ho Ching, das Gastspiel des Semperopernballetts im Theater Esplanade zu verfolgen.
Gemeinsam mit Kretschmer sitzt er mitten im Publikum, Reihe 18 im Parkett. In der Pause wird hinter der Bühne kurz mit den Tänzern bei einem Glas Sekt angestoßen. Doch was in seinem Kopf vorgegangen ist, angesichts fliegender Pfeile, einem Kopf im Käfig, Brüllen und hämmernder Musik im ersten Teil der Choreografie „Impressing the Czar“ von William Forsythe, weiß Kretschmer nicht zu berichten. Er klatscht am Ende wie die Mehrheit des Publikums. Es gibt Jubelrufe und vereinzelte Standing Ovations.
Ballettchef Aaron S. Watkin ist zufrieden. Die Menschen in Asien seien eher klassischen Spitzentanz gewöhnt und nicht modernen Ausdruckstanz. Aber der Applaus werde von Vorstellung zu Vorstellung mehr, sagt Watkin später am Abend auf dem Empfang der sächsischen Landesregierung. Er ist mit seiner Compagnie gerade auf großer Asien-Tour.
Mit dem Premier wie auch mit dessen Ministern für Handel und Bildung hat Kretschmer vor allem über die Möglichkeiten für Studentenaustausch und duale Ausbildung gesprochen. Die Probleme, die Sachsen und Singapur bedrücken, sind ähnlich: eine alternde Gesellschaft, zunehmender Fachkräftemangel und Ablehnung von Zuwanderung in Teilen der Bevölkerung. Auf einer Fläche von Hamburg leben 5,5 Millionen Menschen. Davon sind 3,5 Millionen Singapuris, der Rest sind Wanderarbeiter wie die Bauarbeiter aus Indien und Bangladesh, die man frühmorgens auf Lastwagen sitzend auf dem Weg zu den vielen Baustellen der Stadt sieht.
Schlechter erkennbar sind dagegen die vielen Haushaltshilfen aus Indonesien und von den Philippinen. Auf dem Bau, im Gastgewerbe oder im Transportgewerbe geht nichts ohne Arbeitsmigranten. Dennoch hat die Regierung wegen der großen Unruhe im Volk beschlossen, den Anteil der Ausländer in den Betrieben von derzeit 40 auf 35 Prozent zurückzufahren. Die Anzahl der qualifizierten ausländischen Mitarbeiter mit mittleren Einkommen soll von 15 auf 10 Prozent sinken.
Die sich auftuende Arbeitskräftelücke kann durch eigenen Nachwuchs aber nicht geschlossen werden. Die Geburtenrate liegt bei 1,2 Kindern pro Frau. Sie stagniert beharrlich – trotz aller Bemühungen der Regierung, die sogar mit einer Dating Agentur das Liebesleben ihrer Einwohner zu beflügeln versuchte. Die Antwort heißt daher: Digitalisierung und Automatisierung.
Bei Infineon Asia schauen Kretschmer und seine Begleiter aus Sachsen durch eine Fensterscheibe in den Reinraum des Halbleiterkonzerns. Dort werden auch in Dresden hergestellte Chips getestet und durchlaufen die Endkontrolle, bevor sie an den Kunden ausgeliefert werden. Vom sächsischen Schwesterstandort hat man unter anderem die autonom fahrenden Wagen übernommen, die die Teile lautlos herbeibringen.
Heinz Martin Esser, Präsident des Verbandes Silicon Saxony e.V. und Geschäftsführer von Fabmatics, schätzt den Automatisierungsgrad in Singapur auf 40 bis 50 Prozent. In Dresden liegt er bei 90 Prozent. Für Ausrüster und Anbieter von Automatisierungstechnik wie Fabmatics ist das eine Auftragschance. Raik Brettschneider wird hingegen vermutlich mit gemischten Gefühlen die „Smart Factory Singapore“ besichtigt haben, schwindet damit doch der Wettbewerbsvorteil der Dresdner.
Im dunklen Showroom von ST Engineering, dem Mutterkonzern der Elbe Flugzeugwerke in Dresden, die zu 55 Prozent der Tochterfirma ST Aerospace gehören, kommt das Licht vor allem von den vielen Monitoren und einer intelligenten Straßenlaterne. Sie kann Verkehrsdaten sammeln und auch als Ladesäule für E-Autos dienen. Dabei setzt Singapur gar nicht so stark auf Elektromobilität wie erwartet. Konventionelle Autos sollen nicht durch elektrische ersetzt werden. Der Politik wäre es am liebsten, wenn ganz auf sie verzichtet werden würde, um die verstopften Straßen zu entlasten.
Und so werden digitale Lösungen entwickelt, um den öffentlichen Nahverkehr und Carsharing-Angebote attraktiv zu machen. Alle 500 Meter sind auf den Straßen Sensoren angebracht, jeden elften Kilometer eine Kamera installiert. Wie die so aufgenommenen Daten genutzt werden, um den Verkehr am Fließen zu halten, wird Kretschmer bei ST Engineering an wandgroßen Bildschirmen demonstriert, einschließlich automatischer Kennzeichenerfassung. 20.000 Taxis und 5.500 Busse werden in Singapur digital gemanagt.
Dresdens Oberbürgermeister Dirk Hilbert kennt den Showroom schon vom letzten Besuch. „Das ist spannend, aber ich bin weniger tief beeindruckt als 2016, auch deshalb, weil wir uns mit unseren Mobilitätslösungen nicht verstecken müssen“, sagt Hilbert. Der Bürgermeister, der daheim mit Kritik an seinen Dienstreisen zu kämpfen hat, würde am liebsten die Dresdner nach Singapur holen, um ihnen zu zeigen, was die Benchmark in Sachen zukünftige Mobilität ist. „Reisen dienen dazu, zu sehen, wo die Musik spielt und wie sie gespielt wird“, so Hilbert.
Es klingt fast wie eine Rechtfertigung, dass er mit dabei ist. Gemeinsam mit seinem obersten Wirtschaftsförderer Robert Franke wirbt Hilbert in Einzelpräsentationen bei ST Engineerung darum, eine Kooperation mit der Landeshauptstadt für Mobilitätsaktivitäten zu prüfen. Seit ST Aerospace bei den Dresdner Flugzeugwerken eingestiegen ist, sind dort 400 neue Arbeitsplätze entstanden. Das spricht für eine verstärkte Zusammenarbeit.
Unter den Baumkronen der Supertrees gibt sich Kretschmer bei seinem Fazit nach zwei Tagen Singapur tief beeindruckt von der Dynamik, aber auch in Sorge, „ob wir da Schritt halten können“. „Wir müssen aufpassen, nicht zum Importeur von Technologie zu werden“, warnt der Ministerpräsident. Auch fast 10 000 Kilometer von Sachsen entfernt, geht ihm der Strukturwandel in der Lausitz nicht aus dem Sinn.
Was ist der richtige Weg? So wie in Singapur Masterpläne für die Wirtschaft zu entwerfen oder nur für bessere Infrastruktur und gute Förderbedingungen zu sorgen. Und die Ansiedlungsideen den Menschen vor Ort zu überlassen, fragt er sich und seine Reisebegleiter. Ein Vielreiser werde er nicht. „Ich sehe meine Aufgabe vor allem in Sachsen“, sagt Kretschmer. Doch es sei richtig gewesen herzukommen und er hat schon eine neue Idee. Der Freistaat sollte dreißig Jahre deutsch-deutsche Einheit am 3. Oktober 2020 in Singapur feiern. „Das wäre doch ein guter Anknüpfungspunkt, um wiederzukommen.“