Dresden. In Sekundenschnelle steigt Sigrid Nikutta die Sprossenleiter vom Führerstand der roten „V 90″ herunter. Zuvor hatte sie auf der Rangierlok den Güterbahnhof Dresden-Friedrichstadt inspiziert, einen der größten in Ostdeutschland. Sie sei überrascht, wie gewaltig das Areal mit seinen 34 Richtungsgleisen ist, gesteht sie. Dennoch ist der 135 Jahre alte Standort nur noch Parkplatz für Loks und Waggons, wurden seine Aufgaben vor 15 Jahren nach Leipzig-Engelsdorf verlagert und das Gesamtpaket 2019 zur neuen Zugbildungsanlage Halle-Nord.
Gewaltig ist auch die Mission, vor der die ebenso zierliche wie resolute Person steht. Die 55-Jährige ist seit 2020 Chefin der DB Cargo AG, Tochter des Staatskonzerns Deutsche Bahn. Es geht um nicht weniger als um die Existenz von Europas größter Güterbahn mit 30.000 Beschäftigten, rund 2700 Lokomotiven und 82.000 Waggons. Die Managerin hat nur bis Ende kommenden Jahres Zeit, das verlustreiche Unternehmen in ein profitables zu verwandeln. So fordern es die EU-Wettbewerbshüter nach einem 2018 eingeleiteten Beihilfeverfahren.

Quelle: Juergen Loesel
Schreibt DB Cargo 2026 schwarze Zahlen, sind 1,9 Milliarden Euro, mit denen die Mutter auf Kosten der Steuerzahler Verluste ausgeglichen hat, zulässig. Wenn nicht, drohen Rückzahlung und Zerschlagung. „Wir setzen gerade ein umfangreiches Restrukturierungsprogramm um“, sagt Nikutta. Das Problem: Angesichts schwacher Konjunktur gibt es auch weniger Transporte – „eine doppelte Herausforderung“.
250 Wettbewerber, aber kaum einer fährt Einzelwagen
Für die Konzernchefin ist der Besuch in Dresden eine Rückkehr zu ihren Wurzeln bei der Bahn. Dort hatte sie 1996 als Leiterin des Bildungszentrums begonnen – Start einer Karriere, welche die promovierte Psychologin bis in den DB-Vorstand führte. Die Tochter eines Aussiedlerpaares aus Masuren wollte eigentlich Gefängnis-Psychologin werden – und ist jetzt selbst gefangen: in Spar-, Zeit- und Ergebnisdruck. 2023 hatte der Verlust fast eine halbe Milliarde Euro betragen, konnte nach Informationen der Deutschen Verkehrs-Zeitung im vorigen Jahr aber um 30 Prozent gesenkt werden.
Vor der Marktöffnung 2007 war DB Cargo Monopolistin. Mittlerweile tummeln sich 250 Bahnunternehmen in deren Metier, hat der Konzern noch einen Marktanteil von 45 Prozent. Allerdings konzentriert sich der Wettbewerb auf Ganzzüge und kombinierten Verkehr mit Lkw und Binnenschiff – nicht aber auf aufwendige Einzelwagen-Transporte. Der Part wird zu 90 Prozent von DB Cargo abgewickelt, ist laut Nikutta aber auch für 80 Prozent ihrer Verluste verantwortlich. Die Sparte könne nicht wirtschaftlich betrieben werden, sei aber wichtig, „weil sie in Deutschland pro Tag 40.000 Lkw-Fahrten ersetzt“.
Nikutta wundert sich, dass Umwelt im Bundestagswahlkampf kaum eine Rolle gespielt hat. „Wenn meine Kinder etwas nicht wollen, ziehen sie sich die Decke über den Kopf und singen“, so die fünffache Mutter. Aber so verschwinde das Problem nicht. Ein Güterzug ersetze 52 Lkw, dieses Argument bekomme immer mehr Gewicht.
Stellenabbau vor allem in der Verwaltung
Zur Sanierung hat sich die DB Cargo AG eine mittelständische Struktur verpasst und orientiert sich an den Branchen seiner Kunden wie Stahl, Auto, Chemie, Baustoffe. Zudem wird das Portfolio bereinigt. „Wir hinterfragen, welche Verkehre sich dauerhaft rechnen und passen das Personal entsprechend an“, sagt Nikutta. Allerdings erfolge der Abbau „überproportional im Overhead“.
Im Oktober hatte das Unternehmen mit dem Betriebsrat vereinbart, dass 2300 Stellen wegfallen sollen. Doch zwei Monate später war von 5000 Jobs die Rede. Die Konjunktur sei „so schwach, dass wir das in der Leistungsmenge spüren“. So habe sich der Abbaubedarf bis 2029 kurzfristig mehr als verdoppelt.

Quelle: Juergen Loesel
„Wir hatten zum Jahresende schon 1500 Mitarbeitende weniger“, sagt Nikutta – und stellt Katharina Blaumann vor. „Ohne sie fährt in Mitteldeutschland kein Güterzug“, sagt die Konzernchefin über die Standortleiterin Halle. Dort verantwortet „Miss Einzelwagenverkehr“ Sachsen, Thüringen, Sachsen-Anhalt und einen Teil Brandenburgs mit 270 Güterverkehrsstellen und Gleisanschlüssen. Die gelernte DDR-Reichsbahnerin und studierte Logistikerin ist seit fast einem Jahr Chefin von fast 1000 Beschäftigten im größten der 13 Standorte von DB Cargo in Deutschland.
Der Abbau treffe ihren Bereich härter als andere, sagt Blaumann. „Wir sind als einzige Tarifgebiet der GDL und haben mit der Lokführergewerkschaft keine Beschäftigungssicherung vereinbart“, so die 60-Jährige.
Bislang sind alle Gekündigten untergekommen
Darauf angesprochen, will sich GDL-Chef Mario Reiß nicht den Schwarzen Peter zuschieben lassen. Der Kündigungsschutz sei nur „Deckmantel für ein hilfloses Management“. Wer heute in Halle zu viel sei, müsse morgen ohne Murren nach Duisburg. Lehne der Arbeitnehmer ab, gebe es dennoch die Kündigung. „Solch einem Landverschickungsvertrag hat eine GDL in immer wiederkehrenden Abbauwellen nicht zugestimmt“, so der Nachfolger von Claus Weselsky.
„Wir haben alles getan, damit Betroffene einen Landeplatz finden“, sagt Blaumann. Bislang seien alle untergekommen, allein mehr als 40 im Personenverkehr von DB Regio. Ihre Belegschaft sei bereits um 270 Beschäftigte kleiner als vor einem Jahr, so die Managerin. Der Einzelwagenverkehr müsse insgesamt um 1000 Stellen schrumpfen – wie viele in ihrem Beritt sei offen und abhängig von der Frachtmenge. Während es genügend Streckenlokführer gebe, fehlten vor allem Lokrangierführer, die Züge über kürzeste Entfernung bewegen.

Quelle: Jan Woitas/dpa-Zentralbild/dpa
Auch an der Zugbildungsanlage Halle mit etwa 120 Beschäftigten, wo derzeit knapp 1000 Waggons pro Tag sortiert werden. Zur Eröffnung 2018 waren „bis zu 2400 Einheiten“ genannt worden. Das sei „nur ein theoretischer Wert“, sagt Blaumann. Nach anfänglichen Kinderkrankheiten laufe es jetzt gut.
Bei den Kunden hakt es noch. So hatte sich Feralpi Stahl in Riesa über Verzögerungen, ausgefallene Fahrten und nicht zugeführte Schrottzüge beschwert. Wegen fehlender Lokführer und Loks gebe es in Mitteldeutschland täglich etwa 15 unbespannte Ganzzüge, sagt ein Insider. Auch am deutsch-polnischen Grenzübergang Horka-Wegliniec habe sich der Verkehr nach Kündigung von zwei Wagenmeistern gestaut. Blaumann entschuldigt das mit „extrem hohen Krankenstand“. Feralpi sei ein Einzelfall, das Problem behoben.
Loks und Wagen werden verkauft und zurückgeleast
Blaumann ist froh, dass dank der Tarifvereinbarung mit der Bahngewerkschaft EVG der Betriebsfrieden erst einmal gesichert ist. Das helfe auch in Halle, „denn wenn Fahrdienstleiter streiken, fährt niemand“, sagt sie.
Eine Sorge weniger, andere bleiben. Um Geld in die Kasse zu spülen, will der Konzern Loks und Waggons, die auch in Dresden und Leipzig-Engelsdorf parken, verkaufen und zurückleasen. Zudem wird die Abschreibungsdauer für den Fuhrpark verlängert. Das sei marktüblich, sagt Nikutta und setzt zudem auf Pragmatismus – etwa mit wachsenden Militärtransporten gen Osten und beim Wiederaufbau der Ukraine.
Es bleibt viel zu tun. DB Cargo hat eine lange Historie der Sanierung – und der Erfolglosigkeit. Warum sollte es diesmal klappen? „Weil es um die Existenz geht“, sagt die Konzernchefin und gibt vor der Rückfahrt nach Berlin einen grünen Lutschdrops aus.
SZ