Von Irmela Hennig
Im Café gibt es Stachelbeerkuchen, mit oder ohne Sahne. Kalter-Hund-Eisbecher, Spinatknödel oder auch Würstelfrühstück. Bei schönem Wetter können die Gäste draußen essen. Und sie könnten mit der Bahn anreisen, theoretisch. Die Gleise immerhin, sie liegen noch hinter dem ehemaligen Bahnhof der Oberlausitzer Kleinstadt Herrnhut. Doch Züge kommen hier schon seit 1998 nicht mehr an. Damals wurde die 15 Kilometer lange Bahnstrecke von Oberoderwitz über Herrnhut bis Niedercunnersdorf stillgelegt. Längst wuchern Gräser, kleine Bäumchen und Sträucher zwischen den Schwellen.
Der Bahnhof stand eine Weile leer, wurde zwischenzeitlich privat für Kunst genutzt. Heute beherbergt er Läden und das erwähnte Café. Seit dem Aus für den Personen- und Güterverkehr auf diesem Schienenweg gibt es Menschen, die eine Rückkehr der Züge fordern. Seit 2017 engagiert sich die Bürgerinitiative Pro Herrnhuter Bahn dafür. „Wir haben momentan aber eher Stagnation“, sagt Björn Scholz, Vorsitzender der Initiative mit 22 Mitgliedern. Mit einem Grünen Umweltminister im Freistaat seit der letzten Landtagswahl und einem sächsischen Reaktivierungsvorhaben war man in der Gruppe durchaus hoffnungsvoll, was die Strecke angeht.
Auch mit Blick auf die Klimaschutzziele von EU, Bund und Ländern prüft Sachsen nämlich seit 2021 die Wiederbelebung frühere Bahntrassen. Zunächst ging es um 22 Strecken. Mit Verweis auf ein Gutachten aus dem letzten Jahr liegt der Fokus laut Sächsischem Wirtschaftsministerium derzeit auf einer „möglichen Aktivierung der Strecken Döbeln – Meißen und Pockau-Lengefeld – Marienberg“. In der Oberlausitz wurden die Linien Löbau – Ebersbach sowie Niedercunnersdorf – Oberoderwitz geprüft. Für die beide rechnen die Gutachter aber nicht mit genügend Fahrgästen, um die Investitionskosten zu rechtfertigen.
Für die erstgenannte Strecke geht es um rund 26 Millionen Euro. Geschätzt wird, dass täglich 290 Personen auf dem Abschnitt fahren. Dennoch werde die Linie noch einmal auf ihre Wirtschaftlichkeit hin überprüft. Für die Reaktivierung der Strecke Niedercunnersdorf – Oberoderwitz würden laut Gutachten 49 Millionen Euro benötigt, bei erwarteten 350 Fahrgästen täglich. Das Projekt werde nicht weiterverfolgt, heißt ganz aktuell aus Ministerium. Allerdings hat der Görlitzer Landrat Stephan Meyer (CDU) zuletzt deutliches Interesse an einer Wiederbelebung gezeigt. Ganz vom Tisch scheint es also nicht.
Gleise sollen nicht dem Radweg weichen
Für Björn Scholz von der Herrnhuter Initiative ist Geld nur ein Punkt, warum so etwas sehr zäh vorankomme. Das Problem sei vor allem, dass erstmal Landkreise, Städte und Gemeinden entscheiden. Doch bei solchen Vorhaben brauche es die größere Politik. Und wenn geplant werde, dann eher in kleinen Schritten. So wurden zwar die Kosten für die Wiederbelebung der Trasse zwischen Niedercunnersdorf und Oberoderwitz geschätzt.
An den folgenden Betrieb werde aber nicht gedacht. „Man müsste ja den ÖPNV für etwa zehn Jahre bestellen“, so Björn Scholz. Im Gutachten nimmt man immerhin an, dass die Linie jährlich einen Zuschuss von 7,3 Millionen Euro braucht. Björn Scholz meint, es gehe zunächst vor allem darum, Gespräche zu führen, Konzepte zu entwickeln, vielleicht sogar endlich die mal angedachte Landesverkehrsgesellschaft zu gründen. Die war vor einigen Jahren im Gespräch, um Sachsens Verkehrsverbünde zu bündeln.
Trotz aller Verzögerungen für „ihre“ Strecke – die Engagierten der Initiative wollen dran bleiben. Im Vordergrund stehe zuerst der Erhalt der Gleise. Die sollen eigentlich einem Radweg weichen. Das sieht auch ein Beschluss des Görlitzer Kreistages vor. Die Bürgerinitiative kämpft dafür, dass der abgeändert wird. Bleibt das Thema Wirtschaftlichkeit. Denn Fördermittel vom Bund für so ein Projekt gebe es nur, wenn „voraussichtlichen Kosten entsprechende Nutzerzahlen gegenüberstehen“, heißt es aus Sachsens Verkehrsministerium.
Doch Björn Scholz glaubt, dass angenommene Fahrgastzahlen auf veralteten Modellen basieren. Er ist zuversichtlich, „wenn die Bahn fährt, wird sie auch genutzt“. Bis dahin schauen die Oberlausitzer auf andere Regionen – Scholz nennt Brandenburg, wo es mehr Angebote, mehr Züge gebe. Der Blick geht auch in den Westen Polens. In der Woiwodschaft Niederschlesien mit ihrer Hauptstadt Wroclaw (Breslau) funktioniert, was in Sachsen nicht vorankommt. Seit etwa 2007 werden dort stillgelegte Bahnstrecken im ländlichen Raum instandgesetzt und wieder befahren.
Personenzugverkehr auf 1.600 Kilometern eingestellt
Die Woiwodschaftsregierung, das regionale Eisenbahnverkehrsunternehmen Koleje Dolnoślaskie (KD) und die zuständige Infrastrukturbehörde setzen das gemeinsam um, wie Bartosz Jungiewicz, Kaufmännischer Direktor bei KD berichtet.
Die Ausgangslage für die Partner sei eine ähnliche gewesen, wie in Deutschland. Das Schienennetz, vor allem im ländlichen Gebiet, sei in den vergangenen Jahren stark ausgedünnt worden. Gab es Ende der 1990er-Jahre in Niederschlesien noch Zugverkehr auf rund 2.600 Kilometern, standen für Bahnreisende 2006 nur noch um die tausend Gleiskilometer zur Verfügung. Das ändert sich nun. Dafür hat Niederschlesien bereits 300 stillgelegte oder nur noch für den Güterverkehr genutzte Schienenabschnitte von den Polnischen Staatsbahnen in Verwaltung oder ins Eigentum übernommen. Fasst man die einzelnen Bauabschnitte zusammen, wurden etwa zehn Linien bereits reaktiviert. Mindestens sieben weitere sind im Bau oder in Planung.
Umgerechnet flossen dafür bislang um die 100 Millionen Euro. Dieses und in den kommenden Jahren sollen weitere rund 330 Millionen investiert werden. Um die Kosten je nach Strecke von umgerechnet 250.000 Euro bis 75 Millionen Euro zu stemmen, hat Niederschlesien bislang meist Fördermittel der Europäischen Union genutzt. Etwas, dass für Sachsen oder Deutschland so nur sehr eingeschränkt möglich ist, wie es auf Nachfrage aus dem Sächsischen Wirtschafts- und Verkehrsministerium heißt. Beim Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, kurz EFRE, werden demnach Förderregionen in drei Kategorien unterteilt.
Kaum Chancen auf EU-Mittel
Die Woiwodschaft Niederschlesien galt bislang als „weniger entwickelt“. Damit konnte sie für Infrastrukturmaßnahmen wie den ÖPNV-Bahnnetzes Geld beantragen. Außerdem stehe für EU-Mitgliedsländer, deren Bruttonationaleinkommen pro Kopf bei unter 90 Prozent des EU-Durchschnitts liegt, noch ein Kohäsionsfonds zur Verfügung. Auch darüber können Mittel in die Schiene fließen.
Sächsischen Fördergebiete aber gelten als „Übergangsregionen“. Und Deutschland kann den Kohäsionsfonds wegen seiner Wirtschaftskraft nicht nutzen. Also ist es schwierig, Bahnlinien mit EU-Geld neu zu beleben. Beim Oberlausitzer Verkehrsverbund Zvon in der Oberlausitz sieht man am ehesten für ein Eisenbahn-Neubauprojekt zwischen Seifhennersdorf und Rumburk in Tschechien Chancen auf EU-Förderung. In Sachsens Wirtschaftsministerium hält man das Vorhaben aber derzeit eher für unwahrscheinlich. Indes soll sie Stecke Kamenz – Hosena über die Kohleausstiegsmittel finanziert werden.
Niederschlesien gilt bei der Europäischen Unionen inzwischen auch als „Übergangsregion“, kann EU-Töpfe also nicht mehr so sehr nutzen wie früher. Allerdings haben schon die Vorgänger der jetzigen polnischen Regierung ein eigenes Programm namens „Kolej plus“ („Eisenbahn plus“) aufgelegt. Darüber laufen derzeit viele Strecken-Wiederbelebungen. Auch die Woiwodschaft und Städte, die von der Bahnanbindung profitieren, geben Geld.
Zahl der Fahrgäste steigt stetig
Bartosz Jungiewicz vom Verkehrsunternehmen KD sieht als Grund für das rasche Vorankommen auch den Willen der Regionalpolitik. Man wolle das Abgehängt-Sein von Menschen auf dem Land beenden, wie Niederschlesiens Marschall Cezary Przybylski immer wieder betont.
Obwohl man für EU-Fördermittel stets Machbarkeitsstudien vorlegen müsse, stehen rein wirtschaftliche Aspekte nicht im Vordergrund. Auch nicht touristische, obwohl einige Verbindungen wie die von Gryfów Ślaski (Greiffenberg) in den Kurort Świeradów-Zdrój (Bad Flinsberg) da Effekte haben. In und um Wroclaw passiert Reaktivierung zudem auch, um vorhandene Linien und vor allem den Hauptbahnhof durch wiederbelebte frühere Strecken und Haltestellen zu entlasten. Denn am zentralen Bahnhof sei die Kapazitätsgrenze erreicht.
Gebaut oder instand gesetzt, werde „eher bescheiden, nicht gedacht für Schnellzüge und noch nicht elektrifiziert“, sagt Jungiewicz. Gleise, Anlagen und Bahnhöfe seien zudem oft noch vorhanden. Auf manchen gebe es Güterverkehr. Also gehe es darum, zu sanieren und zu modernisieren. Grundsätzliche Prüfverfahren wie bei einem Neubau braucht es da kaum. In der Oberlausitz indes wurden nach Stilllegungen nicht selten die Gleise abgebaut, wie auf der Bahnstrecke Bautzen – Hoyerswerda. Man müsste dort fast bei null anfangen.
Die Fahrgastzahlen konnte KD übrigens stetig steigern. 2007/2008 habe man bei null begonnen; damals war KD überhaupt erst gegründet worden. „Letztes Jahr haben wir um die 19 Millionen Fahrgäste befördert“, so Bartosz Jungiewicz. 2024 rechne man mit 23 bis 24 Millionen.