Von Luisa Zenker
Dresden. Die Schulglocke läutet punkt 8 Uhr. „Guten Morgen“, rufen daraufhin 23 Schüler und Schülerinnen im Chor. Lehrer Frieder Gerstner grüßt zurück und ruft: „Setzt euch.“ An diesem Donnerstagmorgen will er mit den Siebtklässlern am Tolkewitzer Gymnasium Gleichungen und Bruchrechnung wiederholen. Dafür schreibt er mehrere Matheaufgaben mit grünem Stift an die Tafel. „Wir üben für den Test vor Ostern.“ Ein Stöhnen geht durch die Klasse, kurz darauf schlagen die Kinder aber das Lehrbuch auf und beugen ihre Köpfe über die Gleichungen.
Es ist die dritte Woche, die Frieder Gerstner mit den 12-Jährigen in einem Klassenzimmer steht. Mehr als zehn Jahre hat er als Direktor in einer Bank gearbeitet. Der 45-Jährige leitete bis Herbst 2023 den Bereich Strategie und Innovation und zuvor viele Jahre den Bereich Marktfolge Kredit bei der Dresdner Sparkasse. Er entschied über millionenhohe Kredite und half auch, bekannte Unternehmen zu sanieren. „Da musste ich auch manchmal der Böse sein,“ fügt er als Erklärung hinterher.
Mathe und Physik vermisst
Im Sommer aber wird er eine Frage nicht mehr los. Sie schwebt immer wieder durch seinen Kopf: Was will ich im Leben wirklich? Die gleichbleibende Arbeit, von morgens bis abends im Büro macht ihm zu diesem Zeitpunkt wenig Freude. Er sucht neue Herausforderungen. „Ich habe gut Geld verdient, aber für vielfältigere Aufgaben hätte ich woanders hingehen müssen, das wollte ich nicht“, erinnert sich Frieder Gerstner später.
Der Familienvater, der in seinen jungen Jahren als Unternehmensberater zwischen Frankfurt, Berlin und Hamburg umherflog, sehnt sich nach einem Tapetenwechsel. „Ich habe Mathematik und Physik vermisst.“ Denn vor seinem Berufsleben hat Frieder Gerstner zweimal studiert. Erst fünf Jahre Betriebswirtschaft in Leipzig, dann fünf Jahre Physik in Jena. Ein Doppel-Diplom mit Note 1 trieb ihn von der Unternehmensberatung ins Bankengeschäft.
Als er im Sommer 2023 dann die Schuldirektorin des Tolkewitzer Gymnasiums in Ðresden trifft, ist er nach fünf Minuten überzeugt. Frieder Gerstner will ab dem Moment Lehrer werden. Im Bekanntenkreis stößt diese Entscheidung auf Unverständnis. Kaum jemand versteht, warum Frieder Gerstner auf einen großen Teil seines bisherigen Gehalts verzichtet, um Lehrer für Physik, Mathe und Wirtschaft werden zu wollen. Den Banker hält das aber nicht auf, im Herbst verlässt er die Sparkasse.
Bevor er dann aber im Klassenzimmer den Stift in die Hand nehmen kann, muss er selbst die Schulbank drücken. Mit zwei Dutzend weiteren Seiteneinsteigern sitzt er drei Tage die Woche in einer Weiterbildung und hospitiert die anderen Tage direkt an der Schule. Drei Monate. Viel Zeit habe er gehabt, sagt er im Rückblick mit gemischten Gefühlen. Die Leiterin sei sehr engagiert gewesen, Unterrichtsplanung und Schulrecht, dazu habe er viel gelernt, beim Thema Pädagogik hingegen habe er sich mehr versprochen. Künstliche Intelligenz, aktuelle Lerntheorien, Problemsituationen – darum ging es eher am Rande. Frieder Gerstner liest sich deshalb selbst ein und entscheidet: Hausaufgaben will er seinen Schülern eher selten geben. „Die Studienlage zeigt, dass es eher zu Konflikten mit den Eltern führt, den Lehrern viel Zeit kostet und die Schüler selbst stresst“, erklärt er.
Im Januar steht er dann das erste Mal vor einer Schulklasse am Tolkewitzer Gymnasium. Überrascht erzählt er, wie diszipliniert die Jugendlichen sind. Das Unterrichten habe ihm von Anfang an Spaß gemacht. Als langjähriger Direktor, der zahlreiche ernsten Unternehmensgesprächen führen musste, merkt man ihm das Selbstbewusstsein auf der Stelle an. Seit den Winterferien unterrichtet er in Vollzeit: 26 Lehrstunden pro Woche. Was Lehrer Gerstner nicht auf dem Schirm hatte: die Arbeit neben dem Unterricht: Elternsprechstunde, Klassenfahrt, Fachlehrerkonferenz, Arbeitskreise, Projekttage. Doch die Schulleitung habe ihn von Anfang an mit offenen Armen ins Team aufgenommen und eingearbeitet.
Nach Schulschluss auf den Radweg
Mit dem neuen Alltag freundet er sich Gerstner deshalb schnell an. Die zehn Stunden nur im Büro sind passé. Die Unterrichtsvorbereitung koste zwar viel Zeit, aber die kann er über den Tag verteilen. Scheint die Sonne, ist er auch mal nach Schulschluss für eine Stunde auf dem Elbradweg unterwegs. Das wäre in seinem früheren Job undenkbar gewesen. „Dann geht es eben am Abend bis 22 Uhr.“ Auch von Technik- oder Integrationsproblemen kriegt Gerstner wenig mit. Computer, Beamer, Whiteboard – im Tolkewitzer Gymnasium ist alles auf dem neusten Stand. In jeder Klasse habe er etwa ein bis zwei Jugendliche mit Migrationshintergrund. Das sei kein Problem.
An diesem Mittwochmorgen probiert Frieder Gerstner etwas Neues in seinem Unterricht aus. Die Siebtklässler dürfen sich das erste Mal während der Schulstunde frei bewegen. Bedeutet, auch die Tische in den Gängen dürfen benutzt werden, um die Matheaufgaben zu lösen. Die Jungs stürmen dafür sofort aus dem Zimmer. Gerstner nimmt das gelassen, er vertraut ihnen. Eine Braunhaarige meldet sich: „Dürfen wir den Taschenrechner benutzen?“ Er lächelt zurück: „Nein, den braucht ihr nicht.“
Sie legt den Kopf auf den Tisch. Nimmt aber nach kurzer Zeit wieder den Stift in die Hand. Leise Gespräche huschen zwischen den Bänken hin und
her. Ein Mädchen mit schwarzem T-Shirt hebt den Finger: „Wie rechne ich das?!“ Sie zeigt auf einen Bruch mit Variablen. Der Lehrer geht vor an die Tafel und schreibt die Gleichung an. Mit den Schülern löst er sie gemeinsam. Während der 60 Minuten schlängelt er sich immer wieder von Tisch zu Tisch und erklärt die Rechenwege. „Minus mal Minus ist…?“ – „Plus“, ruft ein Mädchen und zückt den Kugelschreiber.
Tausende Lehrer fehlen
Frieder Gerstner ist kein Einzelfall, zu ihm gehört eine ganze Gruppe an Seiteneinsteigern, die das Loch im Schulsystem zu stopfen versuchen. Mehr als tausend Lehrerinnen und Lehrer fehlen allein an Sachsens Schulen. In Deutschland wird deshalb jede zwölfte Lehrkraft durch einen Quereinsteiger besetzt.
Kurz vor Schulschluss wird es in der Klasse noch mal laut, die Jungs kommen ins Zimmer, die Mädels gackern. Im Klassenzimmer gibt es keinen Handyempfang. Jeder und jede von ihnen gibt ein Blatt mit den gelösten Aufgaben ab. Gerstner wird sie sich in der nächsten Freistunde anschauen, will den Schülern Tipps für die Klassenarbeit geben. Der ehemalige Banker wischt beschwingt die Tafel. Es scheint eine gute Entscheidung.