Görlitz. Bis zu 4,5 Stunden stehen Autofahrer an der polnischen Grenze Richtung Deutschland im Stau wegen der vorübergehend eingeführten deutschen Kontrollen. Damit soll die illegale Einwanderung begrenzt werden. Nun kommt die Retourkutsche. Ab kommenden Montag führt auch Polen Grenzkontrollen ein – vorerst für vier Wochen. Könnte das die sächsische Wirtschaft schwächen? Hier sind die wichtigsten Fragen und Antworten.
Grenzkontrollen treffen Sachsen
- Was sind die Folgen der deutschen Grenzkontrollen?
- Wie ist die Situation für die Grenzpendlerinnen?
- Wird es Lieferengpässe bei Birkenstock geben?
- Kommt es zu Lieferstörungen in der Industrie?
- Bleiben Obstkörbe in den Supermärkten leer?
- Welche Branchen könnten noch betroffen sein?
- Wer trägt die Mehrkosten durch längere Wartezeiten?
- Fazit
Was sind die Folgen der deutschen Grenzkontrollen?
Der weltweit führende Kreditversicherer Allianz Trade hatte im vergangenen September vor deutschen Grenzkontrollen gewarnt. Eine Verlängerung der Wartezeit an den Grenzen könnten die Transport- und Importkosten um 1,7 Prozent erhöhen. Ein Rückgang der Importe nach Deutschland um bis zu acht Prozent oder – in absoluten Zahlen – bis zu 1,1 Milliarden Euro wären möglich, heißt es in einer Analyse von Allianz Trade. „Die Wartezeiten an der Grenze sind für den kleinen Grenzverkehr deutlich herausfordernder als für den überregionalen Warenverkehr“, sagt Frank Großmann. Er leitet die Geschäftsstelle der Industrie- und Handelskammer (IHK) Dresden in Görlitz. Großmann beobachtet vor allem Auswirkungen für die Grenzpendler und ihre Arbeitgeber.
Wie ist die Situation für die Grenzpendlerinnen?
Zum Stichtag 30. Juni 2024 pendelten nach Angaben der Agentur für Arbeit Bautzen 7658 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte aus Polen zu ihren Arbeitsorten in den Landkreisen Görlitz und Bautzen ein, 160 weniger als im Jahr zuvor. Die Zahl der Grenzpendler geht schon seit Jahren zurück. Laut Großmann sei der Lohnunterschied in bestimmten Branchen zwischen Sachsen und Polen nicht mehr sehr hoch. Maximal betrage er in ausgewählten Jobs noch 500 Euro. Hinzu kommt das, dass die Mitarbeiterbindung weniger stark ausgeprägt ist und die polnischen Arbeitskräfte aufgrund der demografischen Entwicklung in der Heimat selbst gebraucht werden. „Ich befürchte, dass viele sich die Mehrbelastung durch Wartezeiten oder Umwege zu weniger stark besuchten Grenzübergängen nicht lange antun werden“, sagt Großmann.
Wird es Lieferengpässe bei Birkenstock geben?
Nein, keine Sorge, wegen der Grenzkontrollen wird keine Sommersandale später ausgeliefert. „Die bisherigen Grenzkontrollen auf deutscher Seite haben sich im Betriebsalltag eingespielt und sind für uns derzeit kein relevantes Thema“, teilt ein Unternehmenssprecher auf Nachfrage von sächsische.de mit. Die Auswirkungen der neuen Maßnahmen der polnischen Regierung werde man beobachten, wie viele andere Unternehmen auch, heißt es. Nach älteren Zahlen von 2021 sollen 60 Prozent der 1900 Beschäftigten im Görlitzer Birkenstock-Werk aus Polen kommen, also über 1000. Viele Grenzpendlerinnen arbeiten auch in der Pflege und in Krankenhäusern. Dort werden die Menschen in Sachsen die Folgen vermutlich am ehesten spüren.
Kommt es zu Lieferstörungen in der Industrie?
Die Rückstaus an den sächsisch-polnischen Grenzübergängen wird es nun in beide Richtungen geben. Betroffen sind vor allem die Lkw-Fahrer, die stundenlang ausharren müssen. Dass deshalb Just-in-Time-Produktionen bei Porsche, BMW oder Volkswagen gefährdet sind, glaubt Großmann nicht. „Da sind zeitliche Verzögerungen eingeplant“, meint er und scheint recht zu haben. Bei Volkswagen Sachsen in Zwickau oder bei BMW und Porsche in Leipzig heißt es auf Nachfrage unisono, dass es durch die Grenzkontrollen bislang keine Lieferverzögerungen gebe und folglich auch keine Produktionsprobleme.
Hintergrund ist, dass die meisten Waren, die über die Grenze nach Sachsen transportiert werden, aus dem Bereich Fahrzeugbau stammen. In den ersten drei Monaten wurden insgesamt Waren im Wert von 859 Millionen Euro aus Polen importiert. Der größte Einzelposten entfiel dabei auf den Kraftfahrzeugbau mit 174 Millionen Euro Warenwert. Weiterhin führen elektronische Erzeugnisse mit 96 Millionen Euro und der Maschinenbau mit 61 Millionen Euro an.
Bleiben Obstkörbe in den Supermärkten leer?
Nein. Unter den am stärksten betroffenen Sektoren ist zwar die Lebensmittelbranche, weil mit Ausfällen von verderblichen Waren zu rechnen ist. Derzeit liegen dem sächsischen Handelsverband allerdings keine negativen Erfahrungsberichte von Unternehmen vor. „Auch durch die jüngsten Grenzkontrollen Deutschlands kam es bislang nicht zu Lieferengpässen oder Ähnlichem“, betonte Verbandsgeschäftsführer René Glaser. Er rechnet daher nicht mit spürbaren Auswirkungen auf die Versorgungslage im Handel. Nur, dass die Regale vielleicht später gefüllt werden. Denn für die im Einzelhandel tätigen Pendlerinnen und Pendler könne es mit Blick auf die (rechtzeitige) Erreichbarkeit des Arbeitsorts durchaus zu Herausforderungen kommen, glaubt Glaser.
Welche Branchen könnten noch betroffen sein?
Branchen sind unterschiedlich stark von höheren Handelskosten und Importrückgängen betroffen. Laut Studien treffen Grenzkontrollen in der Regel am stärksten den Bildungs- und Freizeitsektor. Durch die zu erwartenden Staus werden weniger Freizeitdienstleistungen wahrgenommen, die mit einem Grenzübertritt verbunden sind. Die Menschen verzichten auf Tagesausflüge und Wochenendtrips. Im vergangenen Jahren besuchten 112.000 polnische Gäste Sachsen. Wie viele in den kommenden Wochen wegbleiben werden, wird man sehen.
Wer trägt die Mehrkosten durch längere Wartezeiten?
Die wiederholten Kontrollen an der deutsch-polnischen Grenze führen regelmäßig zu verlängerten Wartezeiten. „Für die sächsischen Logistikunternehmen bedeutet dies einen erhöhten organisatorischen Aufwand sowie wirtschaftliche Belastungen durch längere Transportzeiten, Standzeiten und verschobene Abläufe“, betont Dietmar von der Linde, Geschäftsführer vom Landesverband des Sächsischen Verkehrsgewerbes (LSV). Die daraus entstehenden Mehrkosten müssten in der Regel die Spediteure selbst tragen, da eine kurzfristige Weitergabe an Kunden meist nicht möglich sei, heißt es. Bei Kontrollen auf beiden Seiten der Grenze muss mit zusätzlichen Verzögerungen gerechnet werden. Der Verband geht davon aus, dass die ohnehin angespannte Planungslage im internationalen Verkehr weiter erschwert wird.
Fazit
Wenn es bei den vier Wochen bleiben, die Polen Grenzkontrollen durchführen will, dürften die Auswirkungen auf die sächsische Wirtschaft überschaubar sein. Aber sie sind kein gutes Signal für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit, wie Frank Großmann von der IHK Dresden betont.
SZ


